13. Brief.

[82] Es ist mir sehr lieb, lieber Wilhelm, daß Du Dir die Schwierigkeiten lebhaft denkst, die Du zu überwinden hast, um zur wahren Höflichkeit und einem vollkommnen Anstande zu gelangen. Mit Deinem guten Willen, den Du hast, wirst Du sie dann gewiß überwinden. Jede gute Sache, jede Tugend, kostet Mühe und Anstrengung, anfangs viel, nach und nach weniger, endlich wird sie Fertigkeit und Gewohnheit, so, daß wir nicht anders handeln können. So ist es auch mit der seinen Lebensart. Mit einem gesunden Verstande und menschenfreundlichen, bescheidenen, sanften Herzen, mit einem guten Geschmacke und beständiger Aufmerksamkeit und Uebung in guter Gesellschaft, wirst Du sie Dir [82] gewiß nach und nach im hohen Grade erwerben, und bist Du zum Ziele, so kannst Du dann nie anders, als mit Artigkeit und mit Anstande Dich benehmen.

Die einzelnen Regeln, die Du in jeder Lage, in jedem Verhältnisse zu beobachten hast, und die Art und Weise ihrer Anwendung, wirst Du dann bey diesen Talenten und dieser Anstrengung leicht selbst finden.

Um indessen Dir Dein Nachdenken, Deine Aufmerksamkeit und Beurtheilung zu erleichtern und zu vervielfältigen, will ich Dich in die wichtigsten Lagen und Verhältnisse Deines Umgangs mit Andern begleiten, und Dir die vornehmsten Regeln Deines jedesmaligen Benehmens anzeigen, doch immer mit der Erinnerung, daß Du sehr viele dieser Regeln selbst mit Unterscheidung, mit Einschränkung anzuwenden haben wirst.

Zuerst wollen wir sehen, was Du in Absicht Deiner Person und Lebensweise überhaupt, ohne unmittelbare Beziehung auf Andere, zu beobachten hast.

[83] Gewöhne Dich in Deinem ganzen Betragen zu einer natürlichen, guten Haltung und Bewegung des Körpers und dessen Gliedmaßen.

Da diese Haltung und Bewegung zur vollkommensten Fertigkeit, zur andern Natur werden muß, so kann ich Dich nicht genug bitten, jetzt alle Aufmerksamkeit auf diese erste Regel des Anstandes zu verwenden und sie zu üben, bis jenes Ziel erreicht ist. Die Beobachtung guter Beyspiele ist hier sehr nützlich. Du gehest täglich mit dem jungen **** um. Beobachte ihn, wie natürlich schön, edel, gefällig sein Anstand ist, in Absicht der Haltung und Bewegung seines ganzen Körpers, wie er, beym Stehen, diesen immer gerade hält, nicht steif, wie der Soldat unterm Gewehre, die Füße und Knie, um dem Schwerpunkte hie gehörige Sicherheit zu geben, etwas, doch nicht übermäßig auswärts gebogen, erstere nicht ganz zusammen, aber auch nicht zu weit von einander stellt, letztere eben so wenig vorwärts biegt, noch mit Gewalt einwärts drückt, sondern nur anziehet, den Oberleib fest und senkrecht zwischen den Hüften trägt, ohne ihn zusammenfallen zu lassen, oder den Leib [84] mit krummen Rückgrate hervorzustrecken; die Brust heraus, die Schultern rückwärts hält, ohne sie in die Höhe zu ziehen, den Kopf gerade und frey mitten aus den Schultern heraus ohne eine Erhabenheit zu affectiren, nach beiden Seiten leicht beweget, ihn weder zurückwirft, als sähe er nach den Vögeln in der Luft, noch vorwärts hängen läßt, als suche er etwas auf der Erde; wie er die Arme und Hände natürlich fallen läßt, ohne sie steif zu halten, und an den Leib anzudrücken oder sie auf dem Rücken oder auf dem Leibe zusammen zu schlagen, um das Bild der Trägheit zu vermeiden, oder die Hände in den Taschen zu verbergen, als wolle er verhüten, daß man ihm etwas daraus entwende. Siehest Du ihn lange stehen, so wirst Du bemerken, wie er immer frey siehet, sich nie an etwas stützet oder anlehnet, wie leicht und unvermerkt er die Stellung seiner Füße verändert, mit einer der jedesmaligen Lage oder Unterhaltung angemessenen Bewegung der Arme und der Hände und Vermeidung alles Steifen und Zwangvollen.

Sein Gang ist gerade, fest, ohne Schwanken, Vorschieben oder Zurückwerfen des Körpers, [85] ohne Schlendern der Arme, weder zu geschwinde noch zu langsam, mit Schritten, die mit der Größe seines Körpers im gehörigen Verhältnisse stehen, und einer Haltung des Körpers, daß der Schwerpunkt jedesmal in die Mitte eines jeden Schritts herabfällt.

Beym Sitzen hält er den Oberleib gerade zwischen den Hüften, aber nicht steif, wie einen Pfahl, läßt ihn nie mit krummen Rücken zusammen fallen, wirst ihn nie träge an die Stuhllehne zurück; streckt die Füße nicht vor sich hin, sondern ziehet sie zurück, ohne die Knie gemächlich über einander zu schlagen, läßt die Hände vorwärts natürlich in den Schoos fallen, und ändert oft mit einer guten Art seine Haltung, um alles Steife zu vermeiden.

Eben so natürlich und ungezwungen wirst Du alle seine übrigen Bewegungen finden, als, das gelassene Verneigen, welches er mit gesenktem Haupte und eingezogener Brust, aber nicht mit steifem Rücken und hervorgestrecktem Haupte und aufstarrendem Blicke verrichtet; das weder zu schnelle, noch zu langsame Hutabziehen, jedesmal [86] mit der Hand, welche dem, den er grüßt, entgegen gesetzt ist, damit der Hut den Blick auf denselben nicht bedecke, denn Jeden, den man grüßt, muß man ansehen, nur nicht mit starrem Blicke fixiren, als sähe man etwas wunderbares an ihm; sein gefälliges Darreichen einer Sache, mit einer solchen Bewegung des Körpers und der Hand, die seine Bereitwilligkeit zu erkennen gibt, also nicht mit ausgestrecktem Arme und zurückgebogenem entfernten steifen Körper, sondern mit Annäherung, mit vorwärts gebogenem Körper und schicklicher Bewegung der Hand; und so die übrigen Bewegungen des Körpers, bey den Spielen, beym Tanze etc. die immer natürlich, gelassen, nie heftig, nie übertrieben sind.

Diese Haltung, diese Bewegung ist bey ihm Fertigkeit, Gewohnheit; daher wirst Du nichts steifes, gesuchtes und zwangvolles, nichts vernachlässigtes, aber auch nichts feyerlich Darstellendes, daran bemerken.

So muß auch die Deinige werden. Nachdenken, beständige Aufmerksamkeit auf Dich selbst, Beobachtung guter Muster, der Rath guter Freunde, müssen hierzu das Ihrige beytragen. –


[87] ** den 24. Aug. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 82-88.
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