Martins-Gans.

[207] Die Gewohnheit, um Martini gebratene Gänse zu essen, schreibt sich aus dem 4ten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung her. Man wollte damit das Andenken eines Kirchenlehrers damaliger Zeit, der Martinus hieß, aus Hungarn gebürtig war, und sich die Ausbreitung der christlichen Religion, besonders in Frankreich, sehr ernstlich angelegen seyn ließ, feiern. Warum man hiezu eine gebratene Gans wählte? – Darüber sind die Meinungen verschieden. Einige erzählen, daß, als Martinus einmal, vor einer sehr zahlreichen Versammlung, eine sehr rührende [207] Predigt gehalten habe, die Gänse in der Nähe ein so großes Geschrei erhoben hätten, daß er seine Predigt habe abbrechen müssen, und im Unwillen davon gegangen sey. Seine Zuhörer hätten darauf, um ihn zufrieden zu stellen, sogleich einmüthig den Entschluß gefaßt, alle ihre Gänse abzuschlachten, selbigen auch sogleich ausgeführt, und in der Folge, zum Gedächtniß der rührenden Predigt, um die nehmliche Zeit alljährlich Gänse geschlachtet. – Andre behaupten, daß dieser Gebrauch daher entstanden sey, daß, als Martinus erfahren, daß man ihm die bischöfliche Würde zu Tours, die er auch nachher bekleidete, antragen werde, er sich lange versteckt gehalten habe, und sein Aufenthalt endlich durch das Schnattern der Gänse verrathen sey. – Noch andre wollen wissen, daß Martinus, ein großer Liebhaber von gebratenen Gänsen einmal der Sache zu viel gethan habe, und an einer Indigestion davon gestorben sey. –

Quelle:
[Anonym]: Sitten, Gebräuche und Narrheiten alter und neuer Zeit. Berlin 1806, S. 207-208.
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