Vorwort.

Es ist eine oft beklagte Erscheinung in der Kunstwelt, daß so viele bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von der Erde abscheiden, ehe Gelegenheit gegeben war, zuverlässige und vollständige Nachrichten über ihr Leben und Wirken, woran weitere Kreise Interesse nehmen, sammeln zu können. Besonders auffallend tritt diese Erscheinung bei den hervorragenden Persönlichkeiten der Bühnenwelt zu Tage und findet ihre natürliche Erklärung in den Consequenzen des Schauspielerstandes selbst.

Noch bis zum heutigen Tage muß der jugendliche Enthusiast, der sich dem Theater zuwenden will, sehr häufig Kämpfe in der Familie und im Leben bestehen, um seinen Entschluß auszuführen; ja in vielen Fällen muß er gewaltsam mit seinen bürgerlichen Beziehungen[3] völlig brechen, wenn er das Ziel seiner Träume erreichen will. Vor hundert Jahren, da der Schauspielerstand noch zum Theil als ein Pact mit dem Höllenfürsten betrachtet, und selbst von den Gebildeten als ein privilegirtes Vagabundenthum angesehen wurde, war dieser gesellschaftliche Bruch die Regel. Der Thespisjünger mußte gewöhnlich seinem Elternhause und seiner Heimat entlaufen, wurde von Familie und Mitbürgern geächtet und gezwungen, in der Welt auf gut Glück nach Brot herumzuirren. Auf einer unstäten Wanderung, wenigstens in den ersten Jahren seiner Laufbahn begriffen, häufig im Kampfe mit den täglichen Bedürfnissen des Lebens, fand er nicht wohl Zeit, über sein Schicksal ruhig nachzudenken und das Erlebte auch nur flüchtig zu skizziren. Aber auch später, wenn diese ersten Stürme beseitigt sind, wirkt das wechselvolle Treiben des Schauspielers auf sein ganzes Wesen. Das täglich neue Schaffen, diese immer veränderten Eindrücke, diese fortwährende geistige Aufregung geben seinem ganzen Charakter nothwendig eine Färbung, welche ihn von gewöhnlichen Menschenkindern scharf unterscheidet. Je nach dem Temperamente wird der Schauspieler zum Träumer, der für das Alltagsleben nicht Sinn, noch Urtheil hat; zum Phantasten, der in innerer Unruhe von Eindruck zu Eindruck strebt; zum ausgelassenen Lebemenschen, und in den untersten Kategorien zum Herumtreiber, Schuldenmacher, Trinker, Bettler u.s.w. Selten und schwer wird sich der bedeutende Schauspieler entschließen, eine längere systematische[4] Arbeit zu unternehmen. Er hat kein eigentliches Sitzfleisch; Veränderung ist ihm Bedürfniß und selbst seine eigenen Angelegenheiten ermüden ihn, wenn sie ihn andauernd oder unangenehm beschäftigen. Aber das Wort »Geschäft« steht nicht in seinem Glaubensbekenntnisse. Der Schauspieler schließt sich eher den Worten des Kürassiers in »Wallenstein's Lager« an:


»Will Einer in der Welt was erjagen« u.s.w.


Hier haben wir es mit der erstgenannten Gattung dieser Charaktere, mit dem Träumer, zu thun.

Die Eindrücke der Weimarer Schule hatten seinen Jünglingsgeist entflammt, und in wahrhafter Begeisterung eine Kunstidee erfassend, gab sich ihr der Künstler mit dem ganzen sittlichen Ernste eines edlen Naturells hin. Aber er ging auch darin auf. Ueber seiner Traumwelt ging ihm das Verständniß der alltäglichen Lebensfragen verloren. Hier finden wir ihn unbehilflich, unentschlossen, gerne geneigt, unangenehme und peinliche Geschäfte auf andere Schultern zu laden. Der geringste Conflict wird ihm zum Kummer und dennoch vermeidet er entschiedene Schritte, um ihn zu heben. Er ist ein Kind im Leben, aber der thatkräftigste Mann auf dem Kampfplatze der Bühne.

Als er sich dem Theater zuwendete, stellte er sich die Mission: ein auf Wahrheit und Schönheit basirtes, ideales Kunstwerk im Geiste des großen Weimaraner Stylprincips harmonisch darzustellen und was die Kritik mit Recht oder Unrecht dagegen einwenden mochte, er ist[5] der Aufgabe, die er sich gestellt hat, mit moralischer Ausdauer treu geblieben.

Der Erfolg hat ihn nicht getäuscht. Er hat sich in der allgemeinen Meinung über die meisten seiner Mitstrebenden emporgeschwungen; er hat dem Ruhme nachgestrebt, den Namen Künstler nicht als landläufige Münze, sondern als ein seltenes Kleinod zu erwerben und zu bewahren, und seine Zeitgenossen und die Kunstgeschichte bezeichnen ihn seit mehr als dreißig Jahren als den ersten deutschen Schauspieler. Dabei hat er einen Grad von Popularität erreicht, wie er nur wenigen seiner Berufsgenossen beschieden ist. Er besaß keine Feinde, die der Rede werth sind, und diese Annehmlichkeit verdankte der Künstler zum großen Theile dem hohen Grade von Achtung, den sich der Mensch bei seinen Zeitgenossen erworben hatte.

Ein hochgeschätzter Schriftsteller unserer Zeit hat, ohne eine Ahnung davon zu haben, das Conterfei unseres Künstlers gezeichnet, und wer den Wunsch fühlt, ihn in Beziehung auf künstlerisches Streben und gesellschaftlichen Umgang kennen zu lernen, der lese Otto Müller's »Eckhof«. Es kann kein gelungeneres Bild geben.

Die Zeitgenossen, denen ein Mitlebender besonders werth ist, erfahren mit Vorliebe, wie derselbe durch Geburt, Erziehung oder andere Umstände bestimmt wurde, gerade diese oder jene Berufsart zu ergreifen, diese oder jene Wirksamkeit auszuüben.[6]

Jede ungewöhnliche Erscheinung, welcher Richtung geistiger Thätigkeit sie auch angehöre, ist von besonderen Zeitverhältnissen begleitet und ihre Wirksamkeit geht aus unmittelbar oder mittelbar bedingenden Einflüssen hervor. Große Herrscher, Feldherren und Staatsmänner entwickeln sich zunächst in und aus politisch stürmischen Zeiten. Die Heroen der Wissenschaft begeistern sich zur edelsten Thatkraft an vorangegangenen Musterbildern des Forschungsgeistes, an den leuchtenden Resultaten auf dem unendlichen Gebiete der Entdeckung und Erfindung. Auch bei dem Kunstjünger, wie bei Jenen, ist die Anregung, die Erweckung des Genius, die Entfesselung des Gottes im Busen mehr oder minder an ein äußeres Moment gebunden, und wenden wir uns von dieser allgemeinen Betrachtung zu dem speciellen Kunstzweige des Bühnendarstellers, so muß man das Auftauchen, die Entwicklung und die Wirksamkeit der vielen bedeutenden Bühnenkünstler in den vorangegangenen Perioden des deutschen Theaters nothwendig in Causalnexus bringen mit dem Aufblühen der deutschen Literatur und Kunst im Allgemeinen, ja selbst mit den Riesenbewegungen und welterschütternden Ereignissen in unserem ganzen Erdtheile.

Die nähere Darstellung dieser Verhältnisse ist nicht Aufgabe dieser Blätter, sie gehört in den Bereich der Literatur- und Kunstgeschichte und hat würdigere Federn gefunden. Hier sei nur auf einige Merkmale hingewiesen, welche geeignet sind, den Gegenstand, der hier behandelt[7] werden soll, von allen Seiten zu beleuchten, und dadurch der nachfolgenden Darstellung eine deutlichere Färbung zu verleihen.

Die Sturm- und Drangperiode in Deutschland neigte sich zum Ende. Lessing und seine Gesinnungsgenossen hatten den Kampf mit dem Lindwurme, »der den deutschen Genius umschnürt« und die edelsten Kräfte bannte, muthig aufgenommen und das Schlachtfeld behauptet. Wie bei allen gewaltsamen Umwälzungen machte sich auch in der deutschen Literatur das Streben nach neuen nationalen Formen zunächst durch überspannte Gebilde, ja durch Unförmlichkeit Luft. »Julius von Tarent,« »die Zwillinge,« »die Soldaten« u.s.w. waren nur auf ihre Zeit berechnet und starben mit derselben. Dagegen waren in »Emilia Galotti,« »Nathan,« »Minna von Barnhelm« zugleich eben so viele Muster für die Gründung eines würdigen nationalen Bühnenrepertoires geschaffen. Sie entzündeten die verwandten Geister, ermunterten zur Nacheiferung und aus den titanischen Riesenumarmungen der Muse, welche den »Götz« und die »Räuber« zeugten, schwangen sich auf feurigen Flügelrossen Goethe und Schiller empor, jener, um mit den ewig heitern, wolkengebadeten Olympiern in vertraulicher Nähe wie mit Seinesgleichen zu verkehren; dieser, um für seine weiche Jünglingsseele, der die irdische Welt zu rauh war, eine eigene zu suchen, die er in dem Zauberlande der Ideale fand.[8]

Das leuchtende Beispiel dieser drei Cherubime wirkte wie mit Zauberkraft. Wie einst hinter Deukalion die Steine zu Menschen wurden, so tauchte aus Jener Fußstapfen eine nachstrebende Welt der geistigen Produktion auf. Mit mehr oder minder innerem Gehalte schufen Schröder, Iffland, Jünger, Kotzebue eine lange Reihe beliebter Theaterstücke, und durch die allmälige Einbürgerung Shakespeare's wurde dem Geschmacke und dem Urtheile des Publicums eine höhere Richtung gegeben. Die Produktion weckte die Reproduktion. Die neuanbrechende Literatur-Epoche hatte dem deutschen Theater die Neuber, Hensel, Charlotte Ackermann, Adamberger, hatte ihm Eckhof, Ackermann, Schröder, Iffland, Brockmann, Fleck gegeben.

Die Bühnenkunst, von diesen Geistern wiederhergestellt, gehoben, veredelt, begann die Vorurtheile finsterer Zeiten niederzuwerfen. Man erkannte, daß die dramatische Darstellung mehr als Teufelsspuk, Zigeunerwesen oder Handwerk, daß sie wirklich eine Kunst sei; die besten, edelsten, die angesehensten Schichten der Gesellschaft wendeten ihr die vollste Theilnahme zu; bei der Jugend ging diese Theilnahme in Begeisterung über und in diesem bedeutungsvollen Zeitpuncte der deutschen Theaterwelt wurde

Johann Immanuel Heinrich Anschütz

geboren.

Ihn hatte die Natur selbst für diesen Beruf gebildet. In einen starkgefügten, mächtigen Körperbau, weit[9] über Mittelgröße, mit einem edelgeformten, ausdrucksvollen Antlitz, mit einem klaren, fernsehenden und fernwirkenden Auge, goß die Natur einen ebenso gefunden und kräftigen Geist. Wirkte der Künstler schon durch seine physische Gewalt, so wirkte er doch am meisten durch die geistige Kraft, die in allen seinen bedeutenden Schöpfungen herrschte. Mancher seiner Kunstgenossen mag ihn an einzelnen geistreich pointirten Zügen übertroffen haben, mit der geistigen Ueberlegenheit, die aus der Gesammtheit von Leistungen wie Lear, Othello, Makbeth, Wallenstein, Ottokar, Belisar, Falstaff, Hamlet, Götz, Nathan etc. sprach, können sich nur Wenige messen. Will man diesen Bühnenheros beurtheilen, so muß man ihn in der Zeit seiner Blüte gekannt, man muß ihn neben Sophie Schröder auch in der Antike gesehen haben, um anzuerkennen, daß er für Größe und Erhabenheit im Tragischen den Ausdruck besessen hat wie kaum ein Anderer. Glaßbrenner hat ihn haarscharf kontourirt, indem er sagte: »Anschütz muß aber nur mit Seinesgleichen, mit Königen und Fürsten umgehen, Gestalten kleinerer Dichter zerdrückt er.«

Seine unvergeßlichen Gestalten im bürgerlichen Drama und im Lustspiele: Musikus Miller, Oberförster, Abbé de l'Epee, Adam Wählig, Vater Welling, Wittburg in »Versöhnung«, Hartenfels im »Testament des Onkels« waren dem Leben abgelauscht. Hier erkannte man den Schüler Iffland's und die Traditionen aus Eckhof's Zeiten.[10]

Einer der seltensten Charaktere war er im Leben. Ein patriarchalischer Zug ging durch sein ganzes Wesen. Er kannte nur Zweierlei: Seine Kunst und seine Familie. Zu letzterer gehörten aber alle seine Freunde, denn er selbst war der aufrichtigste und ausdauerndste Freund. Sein philosophisch-religiöses Gemüth behandelte alle Menschen mit Wohlwollen, und wie er die ganze Welt mit Liebe umfaßte, so wurde auch er geliebt von allen Guten, die ihn kannten und erkannten.

Indem der Herausgeber die folgenden Nachrichten aus einem meistens frohbewegten, reichhaltigen Künstlerleben dem Publicum und namentlich den Kunstfreunden anbietet, nimmt er für diese Zusammenstellung kein anderes Verdienst in Anspruch, als das der unzweifelhaftesten Wahrheit. Es wurde keine Notiz, keine Aeußerung aufgenommen, die nicht auf mündlicher Mittheilung des Künstlers beruht. Für die ersten zwanzig Lebensjahre konnte überdies eine eigenhändige Aufschreibung desselben benutzt werden, welche im Auszuge bereits am 22. October 1824 in Nr. 127 des damals von Hormayr herausgegebenen »Archives für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst« erschienen ist.

Es dürfte für den Leser ein erhöhtes Interesse haben, wenn er wie dort den Künstler über die Ereignisse und Schicksale seines Lebens persönlich sprechen hört.

Hiermit tritt der Herausgeber vor dem Erzähler zurück und überläßt es dem Letzteren, seinen 80jährigen[11] Lebenslauf dem Publicum zur Verkürzung einiger müßigen Stunden auf den nachfolgenden Blättern darzulegen.


Wien, im Februar 1866.

Der Herausgeber.[12]

Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866.
Lizenz:

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