Vorrede

Eine Milliarde, vierhundertundachtzig Millionen, dreihundertundfünfundfünfzig Tausend und einhundertfünfundfünfzig Menschen spazieren, falls Meyer nicht irrt, auf diesem schönen Planeten und unterwerfen sich vom Arier bis zum letzten Buschmann, jeder in seiner Art, bestimmten Gesetzen der Moral und Schicklichkeit. Hunger und Liebe, nach Schiller die erhaltenden Kräfte des Weltgetriebes, würden sich bald in zerstörende verwandeln, wenn nicht die Nächstenliebe und als deren schönster Teil die gegenseitige Duldung und Rücksichtnahme den mächtigen Naturtrieben besänftigend zur Seite ständen.

Sitte im ursprünglichsten, ernstesten Sinne des Begriffs läßt sich nicht lehren, nur die durch edles Beispiel wirkende Erziehung kann den im Menschen liegenden sittlichen Keim zur mehr oder minder reichen Blüte entfalten. Nur die äußeren Formen der Sitte lassen sich lehren und auch sie werden keinen tieferen Wert haben, wenn sie bloß die kalte Vernunft diktiert und nicht jene »Höflichkeit des Herzens« beseelt, von welcher Goethe spricht.

Niemand sollte die äußeren Formen verachten, tragen sie doch dazu bei, die oft grausamen Gegensätze des Lebens zu mildern, über die vielen Mißtöne leichter hinwegzuhelfen, Anmut und Freundlichkeit ins Alltagsgetriebe zu bringen und so die kurze Spanne Zeit, in der wir nebeneinander wandeln, leichter und schöner zu machen.

Man erwarte von diesem behäbigen Büchlein nicht die feierliche Würde eines Pedanten. Die Kunst ist heiter, warum also nicht auch die Lebenskunst? Ein lachender Philosoph, wie Webers Demokrit, zieht das Büchlein hinaus und wappnet sich zu Schutz und Trutz gegen alle Griesgräme mit Heinrich Heines schönen Worten:


Die Philister, die Beschränkten,

Diese geistig Eingeengten,

Darf man nie und nimmer necken.

Aber weite, kluge Herzen

Wissen stets in unsren Scherzen

Lieb' und Freundschaft zu entdecken.


Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901].
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