V.

Leben auf dem Lande.

[378] 379. Leben und Gastlichkeit auf dem Lande. Richtige Gastfreundschaft auszuüben und ein angenehmer Gast zu sein, der sich der Hausordnung einfügt, das lernt man am besten auf dem Lande. Man sagt, daß man sich in drei Tagen auf dem Lande besser kennen lerne, als in drei Monaten in der Stadt. Es liegt nicht nur daran, daß man mehr von einander sieht und hört, es kommt hauptsächlich davon, daß sich die Interessen unwillkürlich denselben Gegenständen zuwenden und man durch die geringe Ablenkung von außen ein Thema erschöpfender bespricht und daß jeder Zeit findet, seine Meinung zu äußern. Auch die Eigentümlichkeiten und Neigungen des einzelnen werden mehr beobachtet – die kleine Maske, die jeder sich im gesellschaftlichen Leben vorhält und dahinter mit mehr oder weniger Glück seine wahre Natur verbirgt, fällt meistens rasch ab im täglichen, persönlichen Verkehr und die wirkliche Art und Denkungsweise kommt zum Vorschein.

Daher treten die beiden großen menschlichen Leidenschaften, Liebe und Haß, nirgends so unverblümt hervor, wie auf dem Lande. Als dritte gesellt sich zu ihnen die Habsucht und entfacht Kämpfe zwischen reichen und armen Familien, zwischen einem Gutsherrn mit dem andern, zwischen einem Bauern und dem Nachbarn, die oft Generationen überdauern und als heilige Ueberlieferung von den Enkeln fortgesetzt werden. Im städtischen Leben schleift sich einer am andern ab, wer vorwärts kommen will, muß seine geistigen und körperlichen Kräfte brauchen und ist eher zum Nachgeben oder Vergessen bereit, nur um nicht unnütze Zeit zu verlieren oder seine Aufmerksamkeit an unfruchtbaren Dingen zu verschwenden. Und wie die Naturen auf dem Lande ursprünglicher geblieben sind, so fordert auch die einfachere, ruhigere Lebensweise eine größere Aufrichtigkeit.

Auch die Geselligkeit der Familien untereinander ist verschieden von der städtischen. Man kommt nicht nur auf ein paar Minuten zusammen – das verbietet schon der weite Weg und das Bedürfnis nach Ruhe für sich und die Pferde – der kürzeste Besuch währt doch eine halbe Stunde. Und lädt man sich zu Festen ein, so sind die Gäste meistens gezwungen, bei den Wirten erst Toilette zu machen oder gar die Nacht zu bleiben.

Jedes Landhaus hat daher ein geräumiges oder mehrere Fremdenzimmer. »Besuch« ist die schönste Abwechslung. Man sorgt auch auf dem Lande dafür, daß der Gast alles in seinem Zimmer vorfindet, was ihm den Aufenthalt zu einem recht gemütlichen ma chen kann. Kann man es nicht einrichten, Schlaf- und Wohnzimmer zu geben, so verstellt man das Bett mit einem Schirm oder umgiebt es mit Gardinen, setzt eine chaiselongue, ein bequemes Sofa oder tiefe Stühle hinein, sorgt für einen geräumigen Kleiderschrank und eine leere Kommode, damit die Koffer überflüssig werden und versieht den Schreibtisch mit Papier und Tinte, das kleine Bücherbord mit einigen guten Büchern. Jeder Gast zieht es vor, ein paar Stunden täglich sich allein zu beschäftigen und auch den Wirten ist eine Unterbrechung des Beisammenseins oft angenehm.

[379] 380. Englisches Landleben. Das englische Landleben, dessen Behaglichkeit mit Recht so gepriesen wird, ist es nicht zum mindesten dadurch, daß Wirte und Gäste sich möglichst unabhängig voneinander machen und jeder das thun kann, was ihm beliebt. Nach dem gemeinsam eingenommenen »Breakfast«, dem ersten Frühstück, an dessen wohl versorgter Tafel die Hausfrau präsidiert und sitzen bleibt, bis der letzte Gast seinen Thee und toast genossen hat, trennt man sich. Wer Lust hat, macht einen Spaziergang durch die Ställe und den Garten, die jüngeren Leute finden sich zu irgend einem Spiel zusammen, andere schreiben Briefe, lesen, arbeiten oder musizieren – jedenfalls bleibt es jedem überlassen, seine Morgenstunden nach Belieben zu verwerten. Die Hausfrau widmet sich den Gästen nur, wenn alle Besprechungen mit der Köchin, dem butler, Haushofmeister, der Wäscherin oder dem Nähmädchen erledigt sind. Um 1 oder 1 1/2 Uhr ruft ein Glockenzeichen alle zum luncheon zusammen. Man trägt dazu Tages- und Hauskleider – der Morgenrock ist nicht einmal zum Breakfast zulässig, sondern ganz aufs Schlafzimmer beschränkt – die Bedienung ist einfach, da zur selben Zeit die Dienerschaft in der »servantshall« das Mittagessen einzunehmen pflegt; gewöhnlich wird nur das erste warme Gericht serviert, die übrigen Schüsseln stehen auf dem Tisch oder den side boards bereit. Jeder »hilft sich selbst« und ist auch dem nächsten behilflich. Die Braten tranchieren stets der Hausherr und die Hausfrau, die sich an beiden Schmalseiten des Tisches gegenübersitzen.

Nach dem luncheon macht man einen gemeinsamen Spaziergang oder eine Ausfahrt. Doch darf auch hier sich jeder ausschließen, der einen andern Plan für den Nachmittag hat. Niemand wird ihn durch Zureden belästigen, noch seine Selbständigkeit im geringsten übelnehmen. Zum five o'clock tea, der im drawingroom, im Wohnzimmer, im Garten oder auf der Terrasse, nie im Eßzimmer serviert wird, erscheint auch nur der, dessen Sinn nach gutem Thee und fröhlicher Unterhaltung steht – es ist durchaus kein »Muß«, sich bei der Hausfrau einzufinden. Eine Stunde vor Tisch trennt man sich wieder, um sich auszuruhen; ein Glockenzeichen giebt an, wann es Zeit ist, die Toilette zu beginnen – ein zweites, wenn das Diner bereit ist. Bei Tisch stehen die Damen, auf einen Wink der Hausfrau, eher auf als die Herren – ein Herr öffnet die Thür und im langen Zug, genau nach Alter und Würden, begeben sich die Damen ins drawingroom. Die Herren bleiben beim »claret«, dem Rotwein, sitzen und verbringen meistens noch eine halbe Stunde im Rauchzimmer. Dann aber kehren sie zu den Damen zurück und nehmen mit ihnen zusammen gegen 11 Uhr den Thee und Erfrischungen ein.

Man könnte einwenden, daß sich Wirt und Gast fast so wenig sehen wie in einem Hotel. Natürlich, wenn die gegenseitige Sympathie sehr groß ist und die Neigungen ähnlich, so werden sich die Freunde mehr den Wirten anschließen können, auch ohne aufdringlich zu erscheinen. Im übrigen ist es aber für beide Teile viel angenehmer, freie Hand zu haben, als aus übertriebener Höflichkeit vom Morgen bis Abend nebeneinander herzulaufen und sich bald gegenseitig überdrüssig zu werden. Eine weitere Sitte des englischen Landlebens ist es, dem Gast genau vorzuschreiben, zu welchem Tag und zu welcher Stunde man auf seine Ankunft vorbereitet sein wird, und wie lange man ihn bei sich aufzunehmen gedenkt. Natürlich sorgt man dafür, daß eine Familie nicht mit einer an dern zusammentrifft, mit der sie erzürnt oder deren Begegnung ihr unbequem ist. Gewöhnlich fügt man hinzu, wer noch zu treffen sein wird. Solch eine Einladung lautet ungefähr so:


»Liebe Frau N.!

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns vom 4. bis 10. September die Freude Ihres Besuches auf Schloß B. machen würden. Sie treffen außer meinen verheirateten Kindern die Johnsons und Howells. Bitte, kommen Sie mit dem Mittagszug, der um 2.20 auf unsrer Station ist. Wagen sind an der Bahn.«


Die Antwort würde vielleicht lauten:

»Liebe Frau B.!


Ich danke sehr für die gütige Einladung, es lockt mich sehr, einige Tage auf Schloß B. zu sein. Da ich aber noch bis zum 5. in W. bei meinen Freunden bleibe und am 9. schon in F. bei den Allens zugesagt habe, so bliebe mir nur die Zeit vom 6. bis 9. Da ich Sie aber sehr gern wiedersehen möchte, so werde ich am 6., wenn Sie nicht anders beschließen, mit dem 2.20 Mittagszug eintreffen.«


Die kurze Art des schriftlichen Verkehrs, die uns fast formlos vorkommt, da sie jede unnötige Phrase und überflüssige Wendung vermeidet, hat den Vorteil, daß man sich klar und ohne Umschweife sagt, was man will, und sich keiner – aus leeren Höflichkeitsrücksichten! – zu etwas verpflichtet, was ihm nicht paßt. Diese selbstverständliche, offene Art der Umgangsformen sollte man auch in Deutschland mehr pflegen. Wieviel Zeit – vor allem wieviel Unannehmlichkeiten! – würde man sich nicht gegenseitig ersparen. Und lange, schöne Redensarten haben doch weniger Wert als ein kurzes, herzliches Wort!

[380] 381. Unerwarteter Besuch. Die Hausfrau muß auf dem Lande, mehr noch als in der Stadt, auf plötzlichen Besuch eingerichtet sein. In der Stadt wird ihr im Notfall jede Delikateßhandlung oder ein Restaurant aushelfen können – auf dem Lande ist sie ganz auf die Vorräte in der Speisekammer angewiesen. Sie muß deshalb darauf bedacht sein, einiges feines Gemüse oder Konserven vorrätig zu haben; ebenso bessere Käsesorten, Obst, Dessert und Kuchen. Auch muß die Wirtin für plötzlichen Besuch Unterstützung bei ihren Leuten finden; der Gärtner muß jederzeit etwas Schmuck für die Tafel liefern können, die Köchin muß im stande sein, aus den Vorräten an Fleisch, Geflügel und Fisch ein paar Schüsseln in das Menü einzuschieben und für eine Nachspeise zu sorgen. Der Besuch auf dem Lande, der zu Tisch zu bleiben gedenkt, wird gewöhnlich eine Stunde vorher erscheinen, und diese Zeit muß genügen, um kleine Vorbereitungen zu treffen. Auch ist es Sitte, ein Fremdenzimmer immer so im Stand zu halten, daß das Zimmermädchen nur für frisches Wasser und saubere Handtücher zu sorgen braucht, und der Gast die Toilette nach der Fahrt gleich etwas auffrischen kann.

[381] 382. Verhältnis zwischen Gutsherrn und Pfarrer. Die Stätte, wo man seine nächsten Nachbarn am häufigsten sieht, pflegt die Kirche zu sein. Gutsherrschaften, die derselben Gemeinde einverleibt sind, zur selben Kirche gehören und einen gemeinsamen Pfarrer haben, sind meistens schon durch diese Beziehung eng verknüpft. Der Gutsherr und der Pfarrer sind die beiden Fürsorger des Bauern, und nirgends mehr nimmt ja der Geistliche so regen Anteil an seinen Pfarrkindern und sie an ihm wie auf dem Lande. Wie das Verhältnis zwischen Herrn und Bauern noch oft ein patriarchalisches ist, so nimmt auch der Landgeistliche noch die Rolle des »Seelsorgers« ein, kennt den Charakter des einzelnen und sucht durch den persönlichen, täglichen Verkehr zu ebnen und zu helfen – nicht nur durch Friedensworte von der Kanzel am Sonntag. Der Gutsherr – oder, sind mehrere Güter zu einer Kirche gehörig – die Gutsherren sind meistens auch die Patrone der Kirche, d.h. sie haben bei der Wahl des Pfarrers und des Lehrers den Ausschlag zu geben und über Neueinrichtungen, Veränderungen, Abgaben, Steuern oder Unterstützungen, Kirche und Schule betreffend, zu bestimmen. Aus diesem Patronat und dem gewissen Abhängigkeitsgefühl des Pastoren erwachsen natürlich oft Mißhelligkeiten, die vielleicht weniger dazu Anlaß geben, den Respekt vor dem Gutsherrn oder dem Pfarrer zu verringern, als daß sie Zwietracht in der Gemeinde säen und Zweifel und Mißtrauen bei den geringeren Leuten hervorrufen. Die Einrichtungen für Kirche, Gemeinde und Schule basieren ja oft oder meistens noch auf alten verbrieften Rechten oder Ueberlieferungen, die sich mit den Forderungen und Bedürfnissen der Neuzeit nicht mehr decken und durch deren strenge und wörtliche Erfüllung Mißstände aller Art erwachsen. Um diese abzuschaffen, muß von allen Seiten – von der Gemeinde, dem Pfarrer und der Gutsherrschaft – etwas Entgegenkommen gezeigt werden, selbst wenn jede Partei ein Opfer zu bringen hätte. Wie oft aber verschärfen sich nicht diese Zustände und verbittern allen das Leben, nur, weil keiner nachgeben will und es nicht über sich gewinnt, den ersten Schritt zur Versöhnung zu thun, »um sich nichts zu vergeben«! Wie selten ist der Kern der Streitsache es wert, daß seinetwegen erbitterte Kämpfe, jahrelange Prozesse und eine stille, tägliche Fehde, die fast noch aufreibender ist, geführt werden, oft nur aus Rechthaberei und Eigensinn!


»Es kann der Beste nicht in Frieden leben,

Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt –«


und es wird kaum ein Gut geben, das mit allen Nachbarn ganz d'accord ist und sich mit allen gleich freundschaftlich steht! Reibereien, schon durch Leute oder Beamte herbeigeführt, sind kaum zu verhindern und es wird nicht immer möglich sein, nachzugeben oder einzulenken. Um so mehr sollten Gutsherr wie Pfarrer darauf bedacht sein, Frieden auf ihrem Gebiete zu halten, den Bauern auch darin mit gutem Beispiel voranzugehen und ihre Kräfte nicht in nutzlosen Streitereien zu vergeuden. Jedes kleinste Ereignis wird ja auf dem Lande zu einer großen Sache und ein Wortgefecht oder eine Uebelnehmerei, die man in der Stadt am nächsten Tage vergessen hat, werden zum Gegenstand des Interesses und aller Gespräche auf Tage und Wochen hinaus. Darum sollten sich die, auf denen aller Augen beobachtend ruhen, doppelt in acht nehmen, ihre Mißstimmung und Empfindlichkeit gegeneinander nach außen merken zu lassen.

[382] 383. Der Dorfschullehrer. Der Volksschul- und Dorfschullehrer, der ja noch immer das Stiefkind der deutschen Beamten ist, hat am meisten unter dem doppelten Patronat – der Kirche und der Gutsherrschaft – zu leiden. Noch immer besteht ein Teil seiner Einnahmen in »Naturalien« und die Ausgaben für seine bescheidene Wohnung werden möglichst beschränkt. Gewiß unterstützen auch ihn die Familien seiner Pfleglinge oft thatkräftiger, als sie brauchten. Es wäre aber für das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler bedeutend besser, wenn der Lehrer auf die freiwillige Hilfe nicht im geringsten angewiesen wäre, sondern durch sein Gehalt ganz unabhängig von Launen und Willkür würde. Almosen hinnehmen müssen ist demütigend für den Empfänger und taktvoll zu geben ist eine große, große Kunst, die die wenigsten verstehen. – Wie der Lehrer nun bestrebt sein soll, sich von jeder Unterwürfigkeit gegen Pfarrer oder Gutsherrn freizumachen, so sollte der letztere dem Lehrer gegenüber nicht den »Herrn« herausstreichen und ihn wie einen Untergebenen – oder noch schlechter – behandeln! Das Los des Dorfschullehrers ist selten beneidenswert und man sollte seine Lage nicht durch Beschränkungen oder Rücksichtslosigkeiten verschlechtern. Auch die Gemeinde wird den Lehrer, der ja meistens auch noch das Amt des Küsters versieht, mit größerer Achtung behandeln, wenn die Gutsherrschaft ihm freundlich begegnet.

[383] 384. Verkehr mit Landleuten. Wer sich auf dem Lande eine Villa baut und sei sie auch noch so großstädtisch und mit allem modernen Komfort versehen, wird sich dennoch dem Einfluß seiner Umgebung nicht ganz entziehen können und sich auf die Dauer nicht gegen seine Nachbarn zu verschließen vermögen. Man hat eben für den einzelnen und sein Schicksal und Wohlergehen noch Interesse, und will man nicht in den Ruf lächerlicher Selbstüberhebung oder übertriebener Vornehmheit kommen, so werden die Schranken immer mehr und mehr fallen und man wird an dem Dasein der Menschen ringsum Anteil nehmen, so wie sie Freude oder Mitleid entgegenbringen. Landbewohner tragen ihr Herz eher auf der Zunge, als die Städter. Und von dem Gedankenaustausch über die Ernte auf den Feldern und in den Obstgärten, über das Wetter und das Vieh wird man bald zu Mitteilungen über die einzelnen Familienmitglieder übergehen. Gewiß wird man dieses kindliche, oft rührende Vertrauen nicht in demselben Maße erwidern können, aber man darf seine Nachbarn gern an seinen Sorgen und Freuden teilnehmen lassen und wird bei ihnen ein offenes Herz viel Teilnahme und oft überraschend richtige Ansichten und gute Ratschläge finden. Wer längere Zeit unter ländlicher Bevölkerung gelebt hat – wenn auch als Fremder in einer »Villa«, dem man anfänglich doch etwas mißtrauischer und befangener begegnet, als der alteingesessenen und wohlbekannten Gutsherrschaft – der wird die Zutraulichkeit und die Gespräche mit seinen einfachen Nachbarn, deren Menschenkenntnis noch wenig getrübt ist, geradezu entbehren und sich den harmlosen und beide Teile befriedigenden Verkehr zurückersehnen. Eins darf man aber im Umgang mit ländlicher Bevölkerung nicht vergessen: man darf ihnen nicht durch größere Bildung und Kenntnisse imponieren wollen und man darf niemals im Gespräch einen spöttischen oder gar moquierenden Ton anschlagen. Das Betonen des »Besserwissens«, das ja schon unter Gebildeten geächtet ist, wirkt auf sie wie eine Kränkung und die Ironie macht sie kopfscheu und mißtrauisch. Dagegen wird man sich wundern, wie gut sie auf einen Witz oder eine lustige Bemerkung einzugehen vermögen und welcher natürliche Humor und Mutterwitz ihnen eigen ist.

[384] 385. Das Erntefest.


»Bunt von Farben,

Auf den Garben,

Liegt der Kranz.

Und das junge Volk der Schnitter

Fliegt zum Tanz.«


Das höchste Fest auf dem Lande, das mit mehr Freude erwartet wird, als Weihnachten, ist das Erntefest. Wenn der Gutsherr übersieht, wann der letzte volle Wagen durch das Hofthor rollen kann, wird er auch den Tag der Erntefeier bestimmen, um den Leuten einen Extralohn für die mühevolle und schwere Arbeit der heißen Sommertage zu geben. In manchen Gegenden ist es noch Sitte, daß junge, festlich gekleidete Burschen die Herrschaft zur Teilnahme an diesem Festtage auffordern, eine schöngebundene »Krone« überreichen und einen seit Generationen überlieferten Spruch aufsagen. In manchen alten Schlössern hängen Halle oder Diele voll von diesen alten Kronen, an denen nur noch ein Stückchen Rauschegold oder ein paar Papierblumen an die vergangene Herrlichkeit mahnen. In Mecklenburg werden an die Mitglieder des Gutshauses von den jungen Knechten bunte Schleifen mit gemachten Blumen verteilt. Wer als Fremder ein Feld betritt, das abgeerntet wird, sieht sich gleich von einem Kranz junger und älterer Schnitterinnen umgeben, die ihn mit ein paar zusammengedrehten Halmen »binden«, einen Spruch aussagen und ihn erst gegen ein Geldstück freigeben. Alle diese alten Sitten sind hübsch, und wie man jetzt versucht, die alten zweckmäßigen und zugleich charakteristischen Trachten wieder einzuführen, so hält man auch darauf, daß die alten Gebräuche, die doch immer auf einem vertraulicheren Verhältnis zwischen Herr und Knecht basieren, streng befolgt werden.

Der Gutsherr wird es vermeiden, am Erntetag den Knechten andere als die unumgänglich notwendigen Arbeiten, wie Viehfütterungen, Stallreinmachen, Melken u.s.w. verrichten zu lassen. Der Tag gehört den Leuten und jede Beschränkung ihres Vergnügens nehmen sie übel. Ob es außer dem Freibier auch noch an dere Genüsse geben soll, hängt vom Gutsherrn ab. Doch wird das Fest gewöhnlich mit einer großen Kaffee- und Kuchenschlacht eröffnet und außer dem Bier stehen Wein, Cigarren, Tabak und am späteren Abend belegte Bröte zur Verfügung. Die Massenversorgung bedarf natürlich vieler Vorbereitungen und die letzten Tage vor dem Erntefest wird eine Kuchenplatte nach der andern in den Ofen geschoben.

Für die Musik, die auf einer Handharmonika oder von ein paar Violinspielern ausgeübt wird, hat ebenfalls der Gutsherr zu sorgen.

Es ist Sitte, daß die Familie des Gutsherrn am Tanz teilnimmt und daß der Rangunterschied von beiden Seiten an diesem Tage möglichst ignoriert wird. Daß nichtsdestoweniger die eigentliche Fröhlichkeit erst dann anbricht, wenn sich die Herrschaft zurückgezogen hat, ist selbstverständlich. – Auch sonst nimmt die Herrschaft an den frohen und traurigen Ereignissen im Dorfe Anteil, erscheint bei Hochzeiten, Jubiläen oder Kindtaufen, steht Gevatter und sorgt in jeder Hinsicht für die Paten und bezeugt ihr Mitgefühl bei Krankheiten und Todesfällen durch Besuche, Unterstützungen und Blumenspenden. Eine richtige Gutsfrau muß wie eine Mutter für das Dorf sein und die Verhältnisse und Zustände in jeder Familie genau kennen. Nur so kann sie zur rechten Zeit helfen. Sie wird ihre Hauptunterstützung bei diesen Bemühungen an dem Pastor haben, dem sich die Herzen der Leidenden am ersten erschließen; und schon aus diesem Grunde ist es dringend geboten, daß das Gutshaus und Pfarrhaus zusammenhalten und gemeinsam sorgen, statt womöglich die Fehde auch noch auf Schützlinge oder in Ungnade Gefallene auszudehnen.

[385] 386. Das englische Erntefest. In England herrschen noch besonders patriarchalische Gebräuche beim Erntefest, das aber früher als bei uns fällt, da den Hauptertrag nicht das Korn, sondern das Heu bildet. Ist also das Heu glücklich – womöglich ohne Regen von der Mahd aus dem »Wenden« bis zum Einbringen in Scheunen und Schober – untergebracht, so wird der größte Raum im Hause oder den Wirtschaftsräumen zum Empfang der Gäste mit langen gedeckten Tischen versehen. Die Gäste sind die auf dem Gut beschäftigten Knechte, vor allem aber die Pächter der umliegenden Höfe mit ihren Familien. Diese Pächter zahlen dem Gutsherrn den »tenth« den Zehnten ihrer Einkünfte für das geliehene Land, das vielleicht schon ihren Urgroßvätern von den Ahnen des Gutsherrn übergeben wurde. Da es darauf ankommt, das Heu an trocknen Tagen zu mähen, so eilt jeder Pächter mit allen entbehrlichen Kräften dem Nachbarn zu Hilfe, um ihm bei der Heumahd zu helfen. Ebenso wird dem Gutsherrnfreiwillige Unterstützung gesandt und dieser nimmt bei der eigenen Heumahd nicht nur mit der ganzen Familie und aller Dienerschaft teil – er erwidert die Teilnahme der Pächter dadurch, daß er selbst einen Tag mit bei ihnen arbeitet. Außerdem ladet er sie zu einem Feste ein, an dem es außerzdem herkömmlichen »bailed«, »roasted-beef«, gekochtes und gebratenes Rindfleisch, wenigstens zwei Sorten süßer Speisen giebt, an Getränken Bier, für die zahlreichen »Temperenzler« das im Hause gebraute Ingwerbier. Die Bedienung der Gäste, Tellerwechseln u.s.w. besorgen ausschließlich die Töchter des Hauses mit Freundinnen und Bekannten. Da der Tanz nicht Mode ist, so werden nach dem Festessen Lieder gesungen, verschiedene Spiele gespielt und die Dorfpoeten erzählen Geschichten oder deklamieren und singen Volksweisen, deren Refrain unter Händeklatschen und Fußstampfen von allen wiederholt wird.

[386] 387. Andere ländliche Feste. Die Feste, die bei uns eine auf dem Lande lebende Familie den Freunden und Bekannten giebt, werden meistens in Diners oder Bällen bestehen. Andere Vergnügungen, wie Theaterspielen, lebende Bilder stellen u.s.w. verbieten sich meistens durch die Umständlichkeit des häufigeren Zusammenkommens.

Als Sommerfeste sind »italienische Nächte« mit Illumination und Feuerwerk noch immer beliebt – besonders bei der Jugend!

Auch Picknicks oder »fêtes champêtres«, wie die alten Damen gern sagen, sind eine hübsche Abwechslung. Man bestimmt einen Rendez-vous-Ort im Wald oder auf einer Waldwiese und jede Familie bringt von Proviant mit, was ihr gut dünkt, oder es wird vorher ausgemacht, wer für die Braten, wer für Zwischengerichte, wer für das Getränk u.s.w. zu sorgen hat. Wenn es auch ratsam ist, alle Speisen in fertigem Zustande mitzubringen, so giebt doch erst das Feuer, das in einem Erdloch entzündet wird, dem Pisinick die rechte Weihe, und sei es auch nur, um Kartoffeln darüber zu braten oder das Wasser für den Kaffee kochen zu können.

[387] 388. Jagddiners. Eine besondere Klasse gesellschaftlicher Freuden auf dem Lande bilden die Jagddiners und Jagdfrühstücke. Jede Gutsfrau setzt ihren Stolz darein, bei diesen Festen dem verwöhnten Gaumen der Jäger das Beste vorzusetzen, was ihre Küche leisten kann.

Soll das Jagdfrühstück im Freien stattfinden, also picknickartig, oder im Schutze einer Waldhütte, so ist die Hauptsorge, alles so appetitlich wie möglich herzurichten und zwar alles so zu zerschneiden und vorzubereiten, daß es gleich ohne Aufenthalt serviert werden kann. Man streicht und belegt Brötchen mit den verschiedensten Auflagen, packt jede Sorte für sich in ein mit Servietten ausgelegtes Körbchen und schneidet das sauber in Pergamentpapier gewickelte Brötchen für ein oder zwei Bissen mundgerecht zu. Braten und Geflügel werden vorher zerlegt, feine Salate und Pasteten in Schüsseln mit festen Deckeln serviert. Vor allem sorge man für reichlich Teller, Bestecke, Gläser und Servietten und dafür, daß die warmen Getränke, Bouillon, Warmbier und Kaffee heiß bleiben oder gewärmt werden können.

Das Jagddiner setzt sich aus möglichst feinen Gängen zusammen und bringt einige Delikatessen und Wildsorten, für die gerade »Saison« ist. Den Tisch dekoriert man mit Eichenlaub und setzt möglichst schöne oder antike Gläser auf. In vielen Familien giebt es für Jagddiners Extraservice, die mit Jagdemblemen und Bildern geschmückt sind. Sogar auf Tafeltuch und Servietten erstreckt sich diese Einheitlichkeit.

Das erlegte Wild wird von den Dienern vorangefahren und links von der Auffahrt in Reihen nebeneinander gelegt. Der »Jagdkönig« erhält bei Tisch ein Hoch oder er hat das Recht, das Wohl seiner bevorzugten Dame auszubringen.

Auf Jagden mit »hondus« also vorzugsweise auf Fuchs- und Fischotterjagden, gehen die Damen mit und tragen Frühstück für sich und die Herren bei sich; oder es wird als Frühstücksplatz ein Gutshaus bezeichnet, das in der Nähe der Jagdgegend liegt und ohne große Umwege zu erreichen ist.

Beim Jagdreiten, an dem sich ja auch öfters Damen beteiligen, wird nicht abgestiegen, sondern alles versammelt sich im Gutshause zum Frühstück oder Diner.

[388] 389. Besondere Veranlassungen. Andere »ländliche Feste«, wie Schweineschlachten und Kuchenbacken fallen mehr unter die Rubrik der »Hausordnung«. Auch sie erfordern mancherlei Vorbereitungen und Anstrengungen – hinterlassen dafür aber auch schätzenswerte Resultate. Das Dörren von Backobst, das Einschlachten von Gänsen, die Honig- und Obsternte, das Einkochen von Früchten und Einlegen von Gemüsen, das Federrupfen, Bettenstopfen, die Geflügel-und Taubenzucht, die Meierei, die Besorgung des Gemüsegartens – das sind alles Hausfrauenpflichten, die fast nur die Frau auf dem Lande, vielleicht das Obsteinkochen ausgenommen, kennt und die ihre Thätigkeit, ihre Umsicht und ihren praktischen Sinn noch ganz anders herausfordern, als die Bedürfnisse des kompliziertesten Stadthaushaltes. Die Verantwortung der Frau auf dem Lande ist viel größer. Jederzeit muß sie wissen, wie weit ihre Vorräte reichen und was sie davon verwerten kann; und wenn sie nicht persönlich bei all den Arbeiten helfen kann, so muß sie doch alle überwachen und um alle Bescheid wissen. Denn nirgends weniger ist »das Auge der Herrin« zu entbehren als auf dem Lande.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 378-389.
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