I.

Beleidigungen.

[1036] 1036. Wesen der Beleidigung. Das höchste Gut eines jeden Menschen ist die Ehre und wer auch nur den Versuch macht, diese anzutasten, begeht ein schweres Unrecht.

Als persönliche Kränkung und Beleidigung wird der kluge und verständige Mensch nur diejenigen Worte und Thaten betrachten, die darauf berechnet sind, ihn und seine Ehre in absichtlicher oder doch grob fahrlässiger Weise zu verletzen.

Nur dumme und ungebildete Menschen oder aber Leute mit einem schuldbeladenen Gewissen nehmen jede Neckerei und Uzerei übel und sehen in jeder Fopperei eine Beleidigung, die auf irgend eine Art und Weise wieder aus der Welt geschafft werden muß.

Je höher einer steht, je gebildeter und klüger er ist, desto weniger wird er sich aus Kränkungen machen, wenn er sieht, daß diese lediglich dem Neid der anderen entspringen und keinen anderen Zweck haben, als ihm, seinem Ansehen und seiner Stellung zu schaden.

Aus diesem Grunde wird auch ein wahrhaft gebildeter Mensch sich niemals etwas aus anonymen Briefen und Verdächtigungen machen, sich hierdurch nie die Laune verderben lassen und den darin ausgesprochenen Anschuldigungen und Beleidigungen nicht den geringsten Wert beilegen.

Wenn Gerüchte und Verdächtigungen über uns im Umlaufe sind, so wird es uns nur selten gelingen, den Urheber derselben zu ermitteln, denn die Feigheit ist ein besonderes Kennzeichen dessen, der andere beleidigt, und nur selten hat er den Mut, den Betreffenden seine Anschuldigungen und Beleidigungen ins Gesicht zu schleudern. Sind wir den Verdächtigungen auf den Grund gekommen, wissen wir, wer es wagte, uns zu beleidigen, so haben wir uns zu entscheiden, ob die Worte aus dem Munde dessen, der sie aussprach, für uns beleidigend sein können oder nicht. Im ersteren Falle werden wir Sühne fordern, im entgegengesetzten Falle werden wir der Sache keine Bedeutung beilegen. Eine niedliche kleine Geschichte passierte vor einigen Jahren in der Provinz Schleswig-Holstein, als ein Arbeiter über einen dortigen sehr hohen Beamten aus Anlaß der Dänenausweisung die Behauptung aufgestellt hatte, Excellenz wäre der größte Esel, der jemals geboren wäre. Die Behörde strengte gegen den Mann die Klage wegen Beamtenbeleidigung an, aber auf Wunsch des Beleidigten wurde der Arbeiter nicht verurteilt, sondern Excellenz ließ ihm nur durch den Richter eröffnen, daß es vielleicht doch noch größere Esel als ihn auf der Welt gäbe. Damit war der Fall erledigt.

Aus einer Mücke darf man keinen Elefanten und nicht aus jeder Geringfügigkeit eine Streitfrage machen.

[1036] 1037. Verhalten bei Beleidigungen. Wenn wir wissen, wer uns verleumdete oder wenn uns jemand direkt beschimpfte oder beleidigte, so werden wir ihn auffordern, seine Worte zurückzunehmen und uns entweder unter vier Augen oder in Gegenwart derer, denen gegenüber er uns verdächtigte, um Entschuldigung und um Verzeihung zu bitten. Thut er dies nicht, so bieten sich uns drei Möglichkeiten. Entweder wir lassen die Sache auf sich beruhen, weil wir uns sagen, daß derjenige, der beleidigende Worte ausspricht, aber nicht den Mut hat, dies zurückzunehmen, ein so elender Wurm ist, daß er uns unmöglich beleidigen kann, oder wir verklagen den Schuldigen bei Gericht, oder aber wir fordern mit den Waffen in der Hand von ihm Genugthuung.

[1037] 1038. Gesetzliche Bestimmungen. Die Paragraphen 185 und folgende des Bürgerlichen Strafgesetzbuches sagen: »Die Beleidigung wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Haft und mit Gefängnis bis zu einem Jahr, und wenn die Beleidigung mittels einer Thätlichkeit begangen wird, mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.

Wer in Beziehung auf einen anderen eine Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Thatsache erweislich wahr ist, wegen Beleidigung mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr und, wenn die Beleidigung öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften, Abbildungen oder Darstellungen begangen ist, mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.

Wer das Andenken eines Verstorbenen dadurch beschimpft, daß er wider besseres Wissen eine unwahre Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben bei seinen Lebzeiten verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet gewesen wäre, wird, wenn keine mildernden Umstände vorhanden sind, mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft.

Wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwidert wird, so kann der Richter beide Beleidiger oder einen derselben für straffrei erklären.

Ist eine Ehefrau beleidigt worden, so hat sowohl sie als ihr Ehemann das Recht, auf Bestrafung anzutragen.«

Ob man für eine Beleidigung gerichtlich oder mit den Waffen in der Hand Genugthuung fordert, richtet sich natürlich nach der gesellschaftlichen Stellung des einzelnen und danach, wie jeder über das Duell denkt: die Verpflichtung, für seine Ehre zu kämpfen, besteht den Bestimmungen gemäß nur für die Offiziere und die den Ehrengerichten derselben unterstehenden Offiziere des Beurlaubtenstandes, die Offiziere à la suite der Armee, die zur Gendarmerie übergetretenen Offiziere, und endlich für die mit Pension zur Disposition gestellten und die unter Verleihung der Befugnis, Militäruniform zu tragen, verabschiedeten Offiziere.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 1036-1038.
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