Wilhelm Liebknecht

[114] Liebknecht und ebenso Bernhard Becker wurden im Juli 1865 aus Preußen ausgewiesen. Liebknecht war nach dreizehnjährigem Exil im Sommer 1862 nach Berlin zurückgekehrt. Die Amnestie von 1860 ermöglichte ihm dieses. Er folgte dem Rufe des alten Revolutionärs August Braß, den er gleich Engels in der Schweiz kennengelernt, und der, wie bereits mitgeteilt, im Sommer 1862 in Berlin ein großdeutsch-demokratisches Blatt, die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, gegründet hatte. Liebknecht war neben Robert Schweichel für die Redaktion gewonnen worden, und zwar Liebknecht für die auswärtige Politik. In den Charakter von Braß setzte keiner von beiden den geringsten Zweifel, hatte er doch zu den radikalsten Revolutionären gehört. Als aber Ende September 1862 Bismarck das Ministerium übernahm, entdeckten beide bald nachher, daß etwas nicht stimmte. Der Verdacht bestätigte sich, als eines Tages der Zufall wollte, daß Schweichel von einem Boten des Ministeriums ein Schreiben für Braß in Empfang nahm, dessen Inhalt, wie der Bote bemerkte, sofort veröffentlicht werden sollte. Beide kündigten und traten aus der Redaktion. Wie Liebknecht gelegentlich öffentlich erklärte, hat ihm Lassalle noch ein Jahr nach seinem Austritt aus der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« einen Vorwurf daraus gemacht, daß er seine Stellung aufgab. Liebknecht, der damals Frau und zwei Kinder besaß, die er von London nach Berlin hatte kommen lassen, erwarb sich jetzt den Unterhalt mit Korrespondenzen für verschiedene Zeitungen. Als ich ihn kennenlernte, schrieb er unter anderen für den »Oberrheinischen Kurier« in Freiburg in Baden, für die Rechbauersche demokratische »Tagespost« in Graz und das »Deutsche Wochenblatt« in Mannheim, von dem er aber wohl kaum Honorar bezog. Später schrieb er auch einige Jahre für die »Frankfurter Zeitung«. Öffentliche Vorträge hielt er namentlich im Berliner Buchdrucker- und im Schneiderverein, aber auch in Arbeiter- und Volksversammlungen, in denen er die Bismarcksche Politik bekämpfte, als deren Schildknappen er J.B. von Schweitzer, den Redakteur des »Sozialdemokrat«, ansah.

Nach seiner Ausweisung reiste er zunächst nach Hannover, wo Schweichel am dortigen »Anzeiger« eine Redakteurstelle gefunden hatte. Da aber[114] hier sich für ihn nichts fand, kam er nach Leipzig, woselbst er eines Tages, Anfang August, durch Dr. Eras, der damals Redakteur der »Mitteldeutschen Volkszeitung« war, bei mir eingeführt wurde. Liebknecht, dessen Wirken und Ausweisung ich durch die Zeitungen kannte, interessierte mich natürlich sehr lebhaft. Er stand damals im vierzigsten Lebensjahr, besaß aber das Feuer und die Lebendigkeit eines Zwanzigjährigen. Sofort nach der Begrüßung kamen wir in ein politisches Gespräch, in dem er mit einer Vehemenz und Rücksichtslosigkeit die Fortschrittspartei und namentlich ihre Führer angriff und charakterisierte, daß ich, der ich damals doch auch keine Heiligen mehr in denselben sah, ganz betroffen war. Indes er war ein erstklassiger Mensch, und sein schroffes Wesen verhinderte nicht, daß wir uns bald befreundeten.

Liebknecht kam uns in Sachsen wie gerufen. Im Juli hatten wir auf der Landeskonferenz in Glauchau die Sendung von Reisepredigern beschlossen. Das war aber leichter beschlossen als durchgeführt, denn es fehlten die passenden Persönlichkeiten, deren Lebensstellung eine solche Tätigkeit erlaubte. Liebknecht stellte sich für diese Vortragsreisen bereitwillig zur Verfügung. Auch im Arbeiterbildungsverein war er als Vortragender willkommen, und bald waren seine Vorträge die besuchtesten von allen. Weiter übernahm er im Arbeiterbildungsverein den Unterricht in der englischen und französischen Sprache. So erlangte er allmählich eine allerdings sehr bescheidene Existenz. Dennoch war er gezwungen, was ich später erfuhr, manches gute Buch zum Antiquar zu tragen. Seine Lage wurde dadurch noch verschlimmert, daß seine (erste) Frau brustkrank war und einer kräftigen Pflege bedurft hätte. Äußerlich sah man Liebknecht seine Sorgen nicht an, wer ihn sah und hörte, mußte glauben, er befinde sich in zufriedenstellenden Verhältnissen.

Die erste Agitationstour unternahm er ins untere Erzgebirge, speziell in die Arbeiterdörfer des Mülsengrundes, womit er sich den Weg zu seiner späteren Kandidatur für den Norddeutschen Reichstag bahnte. Da auch ich öfter Agitationsreisen unternahm, und wir von da ab in allen politischen Fragen meist gemeinsam handelten, wurden unsere Namen immer mehr in der Öffentlichkeit genannt, bis wir schließlich dieser gegenüber als zwei Unzertrennliche erschienen. Das ging so weit, daß, als in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sich ein Parteigenosse mit mir assoziierte, ab und zu Geschäftsbriefe ankamen, die statt der Adresse Ißleib & Bebel die Namen Liebknecht & Bebel trugen, ein Vorgang, der jedesmal unsere Heiterkeit erregte.[115]

Ich habe Liebknecht in diesen Blättern noch öfter zu erwähnen, aber eine Beschreibung seines Lebenslaufes kann ich hier nicht geben. Wer sich für denselben interessiert, findet das Nähere in dem Buche »Der Leipziger Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner« und in der Schrift von Kurt Eisner »Wilhelm Liebknecht«. Beide Publikationen sind in der Buchhandlung Vorwärts erschienen.

Liebknechts echte Kampfnatur wurde von einem unerschütterlichen Optimismus getragen, ohne den sich kein großes Ziel erreichen läßt. Kein noch so harter Schlag, ob er ihn persönlich oder die Partei traf, konnte ihn nur einen Augenblick mutlos machen oder aus der Fassung bringen. Nichts verblüffte ihn, stets wußte er einen Ausweg. Gegen die Angriffe der Gegner war seine Losung: Auf einen Schelmen anderthalbe. Den Gegnern gegenüber schroff und rücksichtslos, war er den Freunden und Genossen gegenüber allezeit ein guter Kamerad, der vorhandene Gegensätze auszugleichen suchte.

In seinem Privatleben war Liebknecht ein sorgender Ehemann und Familienvater, der mit großer Liebe an den Seinen hing. Auch war er ein großer Naturfreund. Ein paar schöne Bäume in einer sonst reizlosen Gegend konnten ihn enthusiasmieren und verleiten, die Gegend schön zu finden. In seinen Bedürfnissen war er einfach und anspruchslos. Eine vorzügliche Suppe, die ihm meine junge Frau kurz nach unserer Verheiratung, Frühjahr 1866, eines Tages vorsetzte, begeisterte ihn so, daß er ihr diese sein Leben lang nicht vergaß. Ein gutes Glas Bier oder ein gutes Glas Wein und eine gute Zigarre liebte er, aber größere Aufwendungen machte er dafür nicht. Hatte er mal ein neues Kleidungsstück an, was nicht häufig vorkam, und hatte ich das nicht sofort wahrgenommen (und meine Anerkennung darüber ausgesprochen, so konnte ich sicher sein, daß er, ehe viele Minuten verflossen waren, mich darauf aufmerksam machte und mein Urteil verlangte. Er war ein Mann von Eisen mit einem Kindergemüt. Als Liebknecht am 7. August 1900 starb, waren es auf den Tag fünfunddreißig Jahre, daß wir unsere erste Bekanntschaft gemacht hatten.

In seiner Parteitätigkeit liebte es Liebknecht, fertige Tatsachen zu schaffen, wenn er annahm, daß ein Plan von ihm Widerstand finden würde. Unter dieser Eigenschaft litt ich anfangs schwer, denn ich bekam in der Regel die Suppe auszuessen, die er eingebrockt hatte. Bei seinem Mangel an praktischem Geschick mußten andere die Durchführung der von ihm getroffenen Maßnahmen übernehmen. Endlich aber fand ich den Mut, mich von dem Einfluß seines apodiktischen Wesens zu befreien, und nun gerieten[116] wir manchmal hart aneinander, ohne daß die Öffentlichkeit es merkte und ohne daß unser Verhältnis dadurch dauernd getrübt worden wäre.

Man hat viel geschrieben über den Einfluß, den Liebknecht auf mich gehabt habe; man behauptete zum Beispiel, daß nur seinem Einfluß es zu danken gewesen sei, daß ich Sozialist wurde. In einer bei Langen in München im Jahre 1908 erschienenen Broschüre wird weiter gesagt, Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht, als welchen ich mich im September 1868 auf dem Nürnberger Vereinstag bekannt habe. Liebknecht hätte hiernach volle drei Jahre gebraucht, um aus dem Saulus einen Paulus zu machen.

Liebknecht war vierzehn Jahre älter als ich, er hatte also, als wir uns kennenlernten, eine lange politische Erfahrung vor mir voraus. Liebknecht war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der fleißig studiert hatte; diese wissenschaftliche Bildung fehlte mir. Liebknecht war endlich in England zwölf Jahre lang mit Männern wie Marx und Engels in intimem Verkehr gestanden und hatte dabei viel gelernt, ein Umgang, der mir ebenfalls fehlte. Daß Liebknecht unter solchen Umständen erheblichen Einfluß auf mich ausüben mußte, war ganz selbstverständlich. Andernfalls wäre es eine Blamage für ihn gewesen, daß er diesen Einfluß nicht auszuüben verstand, oder eine Blamage für mich, daß ich aus dem Umgang mit ihm nichts zu profitieren wußte. Einer meiner Bekannten aus jener Zeit schrieb vor einigen Jahren in der »Leipziger Volkszeitung«, er habe (1865) gehört, wie ich im kleinen Kreise von meiner Bekanntschaft mit Liebknecht erzählt und dazu bemerkt hätte: »Donnerwetter, von dem kann man was lernen!« Das dürfte stimmen. Aber Sozialist wäre ich auch ohne ihn geworden, denn dazu war ich auf dem Wege, als ich ihn kennenlernte. Im beständigen Kampfe mit den Lassalleanern, mußte ich Lassalles Schriften lesen, um zu wissen, was sie wollten, und damit vollzog sich in Bälde eine Wandlung in mir.

Mein Grundsatz ist allezeit im Leben gewesen, sobald ich einen Standpunkt, den ich bisher in einer Frage verfochten hatte, als unhaltbar erkannte, ihn zu verlassen und rückhaltlos der neugewonnenen Überzeugung zu folgen und sie auch öffentlich und nachdrücklich zu vertreten. Im vorliegenden Falle war es die Haltung der liberalen Wortführer, sowohl in der Politik wie insbesondere den Arbeiterfragen gegenüber, die mir das Verlassen des alten Standpunktes und meinen Übergang ins sozialistische Lager erleichterten. Große Seelenkämpfe hat mich diese Wandlung nicht gekostet, und wenn alte, liebgewordene persönliche Beziehungen dabei geopfert werden mußten, nahm ich dieses als selbstverständliche Konsequenz[117] hin. Ich habe, wie ich glaube, allezeit die Sache über die Person gesetzt und mich weder durch Verwandtschafts- noch Freundesbande davon abbringen lassen, zu tun, was ich im Interesse einer von mir vertretenen Sache für unumgänglich hielt.

Im vorliegenden Falle hat zweifellos mein Umgang mit Liebknecht meine Mauserung zum Sozialisten beschleunigt. Dieses Verdienst hat er. Ähnlich ist es mit der Behauptung, Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht. Ich habe in jenen Jahren viele sehr gute Vorträge und Reden von ihm gehört. Er sprach über das englische Gewerkvereinswesen, die englischen und französischen Revolutionen, die deutschen Volksbewegungen, über politische Tagesfragen usw. Kam er auf Marx und Lassalle zu sprechen, dann stets polemisch, längere theoretische Auseinandersetzungen hörte ich meiner Erinnerung nach nicht von ihm. Zu privaten Unterweisungen hatte aber weder er noch ich Zeit, die Tageskämpfe und was damit zusammenhing ließen uns zu privaten theoretischen Erörterungen nicht kommen. Auch war Liebknecht nach seiner ganzen Veranlagung weit mehr großzügiger Politiker als Theoretiker. Die große Politik war seine Lieblingsbeschäftigung.

Ich bin vielmehr, wie fast alle, die damals Sozialisten wurden, über Lassalle zu Marx gekommen. Lassalles Schriften waren in unseren Händen, noch ehe wir eine Schrift von Marx und Engels kannten. Wie ich von Lassalle beeinflußt worden war, zeigt noch deutlich meine erste Broschüre »Unsere Ziele«, die Ende 1869 erschien. Gegen Ende 1869 fand ich aber auch erst auskömmlich die Zeit und Ruhe, den im Spätsommer 1867 erschienenen ersten Band »Das Kapital« von Marx gründlich zu lesen, und zwar im Gefängnis. Fünf Jahre früher hatte ich versucht, die 1859 erschienene Schrift von Marx »Zur politischen Ökonomie« zu studieren, aber es blieb bei dem Versuch. Überarbeit und der Kampf um die Existenz gewährten mir nicht die nötige Muße, die schwere Schrift geistig zu verdauen. Das Kommunistische Manifest und die anderen Schriften von Marx und Engels wurden aber der Partei erst gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre bekannt. Die erste Schrift, die mir von Marx in die Hände kam und die ich mit Genuß las, war seine Inauguraladresse für die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Diese Schrift lernte ich 1865 kennen. Ende 1866 trat ich der Internationalen Arbeiterassoziation bei.

Quelle:
Bebel, August: Aus meinem Leben. Band 1. Berlin 1946, S. 114-118.
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