Eine verlorene Erbschaft

[91] Im Frühjahr 1879 erschien bei uns in Leipzig ein Deutschamerikaner, alter Achtundvierziger, mit Namen Lingenau, und machte uns die Mitteilung, daß er nach Absprache mit Jean Philipp Becker in Genf dort sein Testament hinterlegt habe, in dem er die sozialistische Partei Deutschlands zum Erben eingesetzt habe. Als Testamentsvollstrecker habe er Liebknecht, Geib, Bracke und mich eingesetzt. Da Lingenau, ein robuster Fünfziger, sich offenbar einer sehr guten Gesundheit erfreute, dachte niemand von uns daran, daß wir in Bälde Erbe seines Vermögens werden könnten. Aber auf[91] der Rückkehr im Herbst nach den Vereinigten Staaten, kaum ans Land gestiegen, wurde er vom Schlag getroffen und verschied. Ich beschaffte nunmehr mit Hilfe von Freytag die nötigen Ausweise und setzte mich mit dem Parteigenossen Sorge in Hoboken bei Newyork in Verbindung, damit wir möglichstbald den uns zugefallenen Schatz heben konnten. Es handelte sich um etwa 12000 Dollar, die wir in unseren Nöten recht gut gebrauchen konnten. Ich schrieb alsdann an den Parteigenossen Sorge folgenden Brief, der zugleich ein Situationsbericht über unsere Lage war:


»Leipzig, 15. November 1879.


Lieber Freund!


Die vor einiger Zeit von Jean Philipp1 verlangten Vollmachten werden hoffentlich in Ihren Händen sein, und wollen wir nur wünschen, daß alles hübsch klappt und nach Wunsch geht und wir wirklich bis zum Schluß des Jahres im reinen sind. Eine besonders vorsichtige Manipulation erheischt die Herüberlotsung des Geldes, damit dies nicht unseren guten Freunden, den Feinden, in die Hände fällt. Es empfieht sich deshalb, daß es an keinen von uns direkt, sondern an eine unverfängliche Adresse gesandt wird, als welche wir diejenige des Advokaten Freytag hier vorschlagen. Sie werden am besten tun, auf die ganze Summe einen Scheck zu nehmen, der auf ein deutsches, am liebsten Leipziger Bankhaus lautet, wodurch ohne Aufsehen und Kenntnisnahme weiterer Kreise die Operation vollzogen wird. Sobald die Auszahlung erfolgt, wollen wir eine Zusammenkunft der Testamentsvollstrecker veranlassen, um über das Geld nach dem Willen des Testators zu verfügen. Uns in Deutschland kommt das Geld so gelegen wie nie. Die furchtbare Krise, die diesen Winter eine Höhe erreichen wird und Elend schafft, wie wir es noch kaum gekannt, hat selbstverständlich auf die Opferfähigkeit unserer Leute ungünstig gewirkt, und sie wirkt auch moralisch verderblich, insofern die Gefahr, die Arbeit zu verlieren und dann auf unbestimmte Zeit auf dem Pflaster zu liegen, selbst die Mutigsten zur größten Vorsicht mahnt, viele sich dieser Gefahr gar nicht aussetzen mögen. Und die Gefahr der Maßregelung ist heute um so größer, da Massenangebot von Händen überall vorhanden ist und ein gut Teil der deutschen Bourgeois, gerade weil er die Sozialdemokratie öffentlich nicht mehr hantieren sieht, sie um so mehr fürchtet und um so mehr haßt. Jedes Lebenszeichen, das wir von uns geben, erregt in gewissen Kreisen einen Schrecken, der uns außerordentlich amüsiert. Man kann nicht begreifen, daß wir noch leben[92] und woher wir den Mut nehmen, der heiligen Polizei zum Trotz noch den Kopf zu erheben. Die Polizei selbst lebt in beständiger Angst und Sorge, daß wir trotz aller Überwachung und Beobachtung verbotene Zusammenkünfte halten, verbotene Schriften und Blätter lesen, und macht an vielen Orten Anstrengungen, dies zu verhüten, in einer Art, wovon Ihr drüben keinen Begriff habt. Umgekehrt wird dafür von unserer Seite die heilige Hermandad vielfach zum besten gehalten und in ihrem Verfolgungseifer zu den lächerlichsten Maßnahmen verführt. So fehlt in dieser erbärmlichen Zeit doch nicht der Humor.

Am tollsten treibt es die Berliner Polizei, die in einer Weise die anderen Polizeiverwaltungen der größeren Städte behandelt, als sei das Polipräsidium in Berlin das deutsche Reichspolizeiministerium. In Leipzig und in Hamburg und in allen größeren nichtpreußischen Städten stecken polizeiliche Spitzel, welche die doppelte Aufgabe haben, einesteils die Sozialisten, andernteils die Polizei am Ort zu überwachen, ob sie auch mit dem nötigen Eifer verfährt.

Die fortgesetzten Ausweisungen haben uns neuerdings wieder zu einem Appell an unsere Leute gezwungen, von dem ich einige Exemplare beilege, vielleicht daß dort etwas dafür geschehen kann. Bis jetzt haben wir aus New York nichts gesehen, dagegen hat Philadelphia sich im ganzen gut gehalten und namhafte Beträge geschickt. Douai schrieb, daß die Mostsche Agitation dort zu nachteilig für uns gewirkt. Hans brauche zu viel Geld für sein eigenes Unternehmen, das sich hur mühsam erhalte, und da fiele für andere Zwecke nichts ab.

Wenn Sie in der eingangs erwähnten Sache antworten wollen, bitte ich dies unter der Adresse des Advokaten Otto Freytag, Amtmannshof hier, zu tun und nicht an mich direkt zu schreiben.

Gruß und Handschlag von Ihrem

A. Bebel.«


Diese guten Ratschläge verfehlten leider ihren Zweck. Unsere schönen Hoffnungen wurden zu Wasser. Die Nachricht von der Erbschaftsangelegenheit war durch die Schweizer Presse in die Öffentlichkeit gelangt, und so bot Fürst Bismarck alles auf, um uns die Beute zu entreißen. Der deutsche Gesandte in Bern mußte den Schweizer Behörden klarmachen, daß es in Deutschland eine sozialistische Arbeiterpartei nicht mehr gebe, daß sie aufgelöst sei und in Deutschland auch nicht mehr geduldet werde. Es sei also der im Testament bezeichnete Erbe nicht vorhanden, und die Testamentsvollstrecker könnten kein Anrecht auf das Erbe einer nicht mehr bestehenden Partei geltend machen. Dieser Auffassung schlossen sich die Schweizer[93] Behörden an. Wir waren die Geprellten. An Vollmar schrieb ich, es sei zwar unangenehm, daß uns das schöne Geld entgangen sei, aber zum Glück hänge die Stärke der Partei nicht von der Größe des Geldbeutels ab.

Fußnoten

1 Becker. D.H.


Quelle:
Bebel, August: Aus meinem Leben. Band 3. Berlin 1946, S. 94.
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