Den jungen Damen.

[154] Es ist unschicklich, der Mode sklavisch zu huldigen. Man vertraue mehr dem eigenen Geschmack, vermeide aber auf alle Fälle ein Übermaß in den Verzierungen der Kleider. Einfachheit ist nach den Schönheitsgesetzen immer die erste Tugend; Ausschreitungen beweisen einen schlechten Geschmack.

Es ist unschicklich, im Hause anders als nett und sauber zu erscheinen. Man muß sich auch zu Hause stets so kleiden, daß die übrigen Familienangehörigen ebenfalls ihre Freude daran haben.

Es ist unschicklich, Ohrringe zu tragen, die das Ohrläppchen herunterziehen und das Ohr verlängern.

Es ist unschicklich, mit Schmucksachen überladen zu erscheinen.

Es ist unschicklich, die Wangen zu schminken.

Es ist unschicklich, mit gellender Stimme zu rufen oder zu reden. Nur sanfte Töne ziemen sich für das weibliche Geschlecht.

Es ist unschicklich, allzuviel Romane zu lesen, weil dadurch der geistige Geschmack abgestumpft und verbildet wird.

Es ist unschicklich, nicht ernstlich gemeinte Zärtlichkeiten zu gebrauchen.

Es ist unschicklich, beim Abschiednehmen kein Ende finden zu können.

Es ist unschicklich, kleine Dienste, die den Damen von Herren erwiesen werden, ohne Dank hinzunehmen. Wenn ein Herr einer Dame seinen Platz in der Straßenbahn überläßt,[154] wenn er für sie das Fahrgeld weiterreicht oder ähnliches, so ist ein leichter Dank der Dame geboten.

Es ist unschicklich, den geschlossenen Sonnen-oder Regenschirm so zu tragen, daß die Entgegenkommenden dadurch gefährdet werden. In Straßenbahnwagen und dergleichen stelle man den Schirm nicht so, daß neu Eintretende darüber stolpern.

Es ist unschicklich, auf der Straße laut zu sprechen; das Benehmen sei zurückhaltend und bescheiden.

Es ist unschicklich, bei jeder Gelegenheit zu kichern und zu lachen.

Es ist unschicklich, bei Einkäufen lange zu feilschen. Fordert der Kaufmann nach Ansicht der Käuferin zu viel, so sage sie das geradezu und versuche ihr Heil bei einem anderen.

Es ist unschicklich, auszurufen: »Wie teuer!«, wenn ein gekaufter Gegenstand einer Dame von deren Freundin gezeigt wird, weil dadmeh deren Urteilsfähigkeit herabgesetzt wird.

Es ist unschicklich, sich zu rühmen, daß man auf einem Balle die ›Königin des Festes‹ gewesen sei.

Es ist unschicklich, seinem Nächsten übles nachzureden.

Es ist unschicklich, einer Freundin zu grollen, weil sie uns, vielleicht aus zwingenden Gründen, einmal nicht zu ihrer Gesellschaft geladen hat.

Es ist unschicklich, etwas zu tun, was mit der Selbstachtung einer Dame sich nicht verträgt.

Es ist unschicklich, dem Verfasser dieses Büchleins nachzusagen, daß er die oben gerügten Verstöße bei allen Damen voraussetze. In Wirklichkeit ist er davon überzeugt, daß die Damen viel weniger gesellschaftliche Fehler begehen, als die Herren; aber das oben Gesagte kann hier und da vorkommen, deshalb möge die gute Absicht nicht verkannt werden! –[155]

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 154-156.
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