Anno 1687
§ 9

[37] Bis ins 11te Jahr meines Alters war ich in die deutsche Schule gegangen, und hatte eine schöne Hand schreiben, und auch vortrefflich rechnen gelernet; auch, da ich schon aus der deutschen Schule war genommen worden, so konnte ich Riesens, Albrechts und Capricorns Rechen-Buch vor mich selbst, und ohne jemandes Hülfe durchrechnen, und die gemachten Exempel mir alle in ein besonder Buch eintragen. Ich hatte so gar auf die letzte [zuletzt] die Welsche Practicam, und die Quadrat- und Cubic-Wurzel extrahiren gelernet, ohne zu wissen, wozu diese letztere Dinge in der Welt nützlich wären. Zur Kohl-Gärtner-Arbeit war ich zu faul und zu wollüstig [verwöhnt], oder hatte keine Geschicklichkeit dazu. Meine Eltern wußten nicht, was sie aus mir machen sollten. Einige rieten, man sollte mich die Kaufmannschaft lernen lassen, weil ich gut rechnen, und eine schöne Hand schreiben könnte; ich hatte aber mehr Lust in die lateinische Schule zu gehen. Denn der Küster bei der Kirchen auf dem neuen Begräbnis [Friedhof], zu welchem ich in die Schule gieng, weil ich schon ein großer und ziemlich starker Knabe war, brauchte mich zuweilen, wie die Schulmeister, leider, es öfters zu machen pflegen, zu häuslichen Verrichtungen. Wenn Begräbnisse mit dem ganzen Geläute waren, mußte ich seinen Söhnen läuten helfen, welches ich so willig und gerne tat, daß ich glaube, wenn die Eltern meinen närrischen Willen erfüllet hätten, ich wäre ein Glocke-Läuter worden. So bald das Läuten ein Ende hatte, so gieng ich gemeiniglich hernach herunter in die Kirche auf das Chor, so unter dem Turme ist, und hatte meine große Lust, die Sterbe-Lieder mit zu singen. Das bekannte Lied, welches sie bei uns bei Begräbnissen zuletzte singen, Nun laßt uns den Leib begraben, ist mir auch schon, da ich noch ein Knabe war, und insonderheit, wenn ich in dieser Kirchen gewesen,[37] ganz ungemein zu Herzen gegangen. Einst hatte, wo ich mich noch recht besinne, der Prediger, welcher einem Kohl-Gärtner die Abdankung hielt, die bei uns statt der Leich-Predigt ist, und fast gleiche Form mit derselben hat, weitläuftig angeführet, in wie viel großer Angst der Verstorbene in seinem Leben gewesen: Gott hätte ihn erfahren lassen viel und große Angst, aber immer wieder lebendig gemacht [Ps. 71,20]; er sei aber nun von aller Angst und Not befreiet; Hier ist er in Angst gewesen, würden wir nach der Predigt mit Recht von ihm singen können. Da nun hernach dieses Lied gesungen wurde, habe ich mehr, als sonst auf alle Worte desselben Achtung gegeben, und als die Worte kamen, Hier ist er in Angst gewesen, und bei mir selbst gedachte, wer weiß, was auch du vor Angst einmal in der Welt wirst zu leiden, und auszustehen haben, so habe ich, wie ich mich noch wohl erinnere, eine so große Menge von Tränen vergossen, daß ich auch im Heimgehen es so viel möglich zu verbergen suchen müssen, damit mir die Leute nicht ansehen möchten, daß ich geweinet. Wenn nun die deutschen Lieder bei Begräbnissen aus waren, so sungen die Chor-Knaben, so die Kerzen trugen, und Schüler des Gymnasii Magdalenæi waren, das lateinische Lied zum Beschluß: Salve Jesu Christe, rex misericordiæ. Das kränkte mich, daß diese Jungen mehr, als ich, können sollten, und ward sehr begierig, solches lateinische Lied auch zu haben und zu lernen.

Aus dem Umgange mit diesen Chor-Knaben, insonderheit mit denen, welche des Sonntags in dieser Kirche vor dem Tor die Lieder zu singen verordnet waren, und verständiger und älter, als die andern, waren, bekam ich eine große Zuneigung in die lateinische Schule zu gehen, und ein solcher Chor-Knabe zu werden; welche, weil sie im Chor singen, kein Schul-Geld geben dürfen. Ich trug mich damit eine gute Zeit, plagte meine Eltern und Geschwister, daß sie mir dazu behülflich sein sollten. Die meinigen aber waren lange Zeit nicht dazu zu bringen, und in mein Begehren zu willigen. Die Chor-Jungen, sagten sie, lernen nichts; denn sie müssen mehr in der Kirchen, als in der Schulen sein; Stadt-Kleider aber, und einen Mantel dir zu schaffen, wie die ordentlichen Schüler im Gymnasio tragen, kostet viel Geld. Um diese Zeit hatte ich auch auf dem Felde, da ich Möhren und Kraut-Köpfe mit dem Schubkarren, oder Radeber, wie sie es bei uns nennen, heimführen wollte, das sogenannte kleine Compendium latinæ linguæ gefunden, so die lateinischen Schüler bei ihrem Spazier-Gange auf dem Felde etwan mochten haben liegen[38] lassen. Ich hatte eine herzliche Freude darüber, und lernete daraus von mir selbst lateinisch lesen und schreiben, und auch decliniren. Ob ich wohl nicht sehen konnte, zu was das Ding nutze wäre; Mensa, der Tisch, mensæ, des Tisches, bonus, a, um, hic, hæc, hoc, so lernte ich es doch; und hatte hernach eine ungemeine Freude, als ich würklich in das Gymnasium Elisabethanum kam, und sahe, daß dieses Compendium in V to Ordine [in der Quinta] tractiret wurde. Denn da mein Bruder, der in der Stadt bei einem Kretschmar [Wirt] in Diensten stand, meine beharrliche Lust zu der lateinischen Schule merkte, so brachte er endlich die Eltern dahin, daß sie ihren Willen drein gaben, unter dem Vorwand, wenn ich auch ein paar Jahr in die lateinische Schule gegangen wäre, so könnte ich allemal noch werden, was ich wollte, ein Handwerk, oder die Kaufmannschaft lernen, oder wieder ein Gurke-Pflucker [Gemüsebauer] werden, wie mein Vater. Der Rector in dem Gymnasio Elisabethano, Herr Thomæ, (der ein Beckerianer ante Beckerum war, und als ein anderer [zweiter] Sadduzäer weder gute, noch böse Engel glaubte [Apg. 23,8], aber noch denselben Sommer Anno 1687 ein Ende mit Schrecken nahm, und auf dem Sterbe-Bette mit lauter Geistern, Gespenstern und Teufeln, und schrecklichen Gedanken auf das erbärmlichste geplaget ward, wie damals die Rede gieng, und ich es auch nach der Zeit von Leuten von bewährtem Glauben gehöret,) als mein Bruder mich ihm zum Einschreiben præsentirte, meinte zwar, zum Studiren wäre es mit mir zu späte, und zu lange geharret, weil ich schon 11 Jahr alt wäre; es war solches aber mir nur ein desto schärferer Antrieb und Sporn, in der Schulen desto fleißiger zu sein; welches ich auch tat, und mit solchem Erfolg, daß ich binnen drei Jahren, vom fünften bis in secundum Ordinem transferiret [versetzt] wurde.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 37-39.
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