§ 61

[147] Nachdem ich nun, geliebter Leser, dir diese seltsame Trübsal, Krankheit, oder Anfechtung, wie ich sie nennen soll, oder wie du sie nennen willst, die ich in diesem 1704. Jahre ausgestanden, weitläuftig beschrieben habe; so bitte ich dich hoch und teuer, setze mich nicht in die Klasse böser Buben, und gottloser Menschen, und vermenge mich nicht mit solchen Leuten, die entweder aus Überdruß ihres Lebens, oder wegen großer Armut, und schmerzhafter Krankheit, oder wegen großer Schmach, Schimpf und Schande, und Verlust ihrer Ehre, Kraft ihrer Atheisterei und[147] Unglaubens, oder Kraft ihres Vorurteils, und daß sie nicht würden verdammt werden, einen freiwilligen Tod, und die Hand-Anlegung an sich selbst bei gutem Verstand, und Vorsatz zum Mittel machen, aller ihrer Not und Plagen auf einmal los zu werden: den Tod und Selbst-Mord als ein kleines Übel erwählen, ihrer größern Übeln, so sie drücken, entlediget zu werden: Anfangs eine Lust, Neigung, und Reizung zu einem solchen Tode bei sich verspüren, und darnach der natürlichen Furcht und Abscheu, so ihnen einigen Widerstand tun mag, ungeachtet, zu dem endlich schreiten, wozu sie Neigung und Begierde angekommen. Du kannst bereits aus dem, was ich dir erzählet habe, schließen, daß diese Plage, die ich empfunden, und welche über viel tausend Menschen schon in der Welt ergangen ist, nicht eine solche Versuchung gewesen, wie diejenige ist, die ich jetzt beschrieben, und wie diejenige ist, da einer z.E. Lust, Neigung, und Begierde zum Stehlen bekommt, aus Furcht aber wider Gott zu sündigen, oder der Obrigkeit nicht in die Hände zu geraten, und nicht in Strafe zu verfallen, die Tat des Diebstahls noch unterläßt; oder auch wohl, weder nach Gott noch nach Menschen zu fragen, seinen Diebes-Lüsten nachwandelt, und seinen Vorsatz vollziehet. Bei dergleichen Leuten, die das erfahren, was ich erfahren, ist keine Lust, noch Neigung, noch Begierde, noch Vorsatz sich selbst ein Leid anzutun; sondern sie bekommen in großer Hitze des Hauptes, und in Angst des Herzens schnelle ein Bild im Gemüte von dergleichem Tode, so daß sie nicht nur diesen Tod verabscheuen, sondern auch die größte Furcht haben, daß solcher nur nicht erfolgen möchte.

Man findet von dieser Gemüts-Plage wenig in Büchern. So viel, als ich Scribenten von Anfechtungen gelesen, so habe ich keinen angetroffen, als den einzigen Brunchorst, der in seinem Buche von geistlichen Anfechtungen, und Versuchungen davon gehandelt. Denn nachdem er viel und mannichfaltige Arten der hohen Anfechtungen erzählet, so spricht er: er wolle nun auch auf die allerhöchste, und größte kommen, da manchmal einige Gläubige auf die Gedanken kämen, und auf die Einbildung gerieten, als ob sie noch selbst Hand an sich legen würden, vor solchem Tode, und vor solcher Tat aber zitterten und bebeten, aus Furcht wider Gott zu sündigen, und ewig dadurch verdammt zu werden, die aber endlich wunderbar von Gott aus solcher Anfechtung erlöset würden; wiewohl es doch auch zuweilen bei einigen geschähe, daß sie ihres Verstandes beraubet, zuletzt, dem ungeachtet, zu solcher Tat schritten, vor welcher sie doch die[148] größte Furcht, daß sie sie nicht tun möchten, gehabt hätten.1 Ich kann mich auch nicht besinnen, daß ich dergleichen Plage und Affliction [Bedrängnis] in Predigten hätte hören bekannt machen und im usu consolatorio dergleichen Angefochtenen einen Trost zusprechen, und Mut machen, und sie der Hülfe und Erlösung Gottes versichern; da dergleichen Leute ohne Zweifel in usum consolatorium, und unter die objecta maxime afflicta [höchst angefochtenen Objekte] gehören. Scharfe Straf-Predigten sind nicht seltsam [unangebracht], die auch eben nicht seltsam [selten] sein müssen, wider böse Menschen, die ich oben beschrieben, welche wegen Mangel der Religion, der Gottseligkeit und der Furcht Gottes, zu solcher Tat sich verleiten lassen. Bei welchen Predigten aber zu wünschen, daß alsdenn diejenigen armen melancholischen Leute nicht zugegen wären, die mit dem ängstlichen Bilde, und Furcht und Einbildung, als ob es dahin[149] mit ihnen auch noch kommen werde, gequälet werden; als bei welcher Gelegenheit ihre Not und Furcht, daß sie es tun werden, noch mehr wächst und zunimmt: Gleichwie dieselbe auch ungemein größer wird, so oft ein neuer schrecklicher Casus sich ereignet, und sie von einem andern Menschen hören, daß derselbe sich umgebracht, auch so gar, da er nur noch kurz zuvor die schönsten Lieder gesungen, und die herrlichsten Gebete zu Gott abgeschickt; in welcher Not diese denn, wie mir bekannt, zu leiblichen und geistlichen Ärzten laufen, und solche ihnen klagen.

Die geistlichen Ärzte aber, oder Prediger, weil wohl den wenigsten diese Not bekannt sein mag, auch ihnen solche Unerkenntnis nicht kann zugerechnet werden, hören diese Leute öfters nicht recht an, und verstehen sie nicht, indem sie meinen, sie würden vom Teufel zum Selbst-Mord, wie ein ander zur Hurerei, gereißet und gelocket, und folgentlich ihnen eher eine solche Straf-Predigt darüber halten, wie sie in der Kirchen sonst darüber zu halten pflegen, als daß sie ihnen, als höchst Angefochtenen, einen Mut, und Versicherung geben sollten, daß Gott nicht zulassen werde, daß das geschehen werde, was sie fürchten und besorgen; Oder die armen Leute mögen auch selbst nicht fähig sein, ihren Zustand recht deutlich zu beschreiben und vorstellig zu machen, und sich also selbst als Leute angeben, die der Satan zum Selbst-Mord NB. reize. Ich weiß wohl, daß man bei allen Straf-Predigten, die man wider die gottlosen Selbst-Mörder hält, eine Exception und Ausnahme insgemein macht vor die armen melancholischen Leute; die, weil sie ihres menschlichen Verstandes beraubet werden, ohne zu wissen, was sie tun, zu solcher Tat schreiten. Allein ob man nun schon gleich saget, daß manchmal melancholische Leute, wenn sie ihres Verstandes beraubet worden, sich umbringen, und dieses auch eine bekannte Sache, und längst bekannte Wahrheit ist, so die Erfahrung bestätiget; so ist es doch damit nicht ausgemacht, und diese in tiefer Nacht und Dunkelheit liegende Sache ist damit noch nicht in ihr Licht gesetzet. Zu unserer Zeit sind die Gelehrten so begierig, daß sie alle wollen den Modum und die Art und Weise wissen, wie ein Ding das andere würkt und hervor bringt, oder wie eine Sache eine Veranlassung und Gelegenheit zu der andern ist. Hier stehet auf einer Seite die Melancholie, auf der andern Seite die Autochirie oder der Selbst-Mord: da ist nun noch ein weiter Sprung von einem bis zum andern, und da fragt sichs nun, durch was vor Wege und Mittel, und durch was vor Art und[150] Weise geschiehet es denn, daß Melancholici auf solche Tat verfallen: wie denken sie denn, was denken sie denn, was schließen sie denn, wie raisonniren sie denn? Was vor ein Nexus und Verbindung ist denn zwischen ihrer Leibes-Maladie, und zwischen der erschrecklichen Tat? Ist der Nexus und Verbindung bloß natürlich, oder ist sie zugleich sittlich? Gleichwie diejenigen, von welchen ich hier rede, welche nämlich mit dem ängstlichen Bilde und Einbildung gemartert werden, als ob sie sich noch selbst töten würden, unstreitig unter die Melancholicos gehören, obschon ihre Melancholie noch nicht den höchsten Grad erreicht, es mag nun ihre Melancholie in einem zuvor schon kranken und Milz-süchtigen Leibe ihren Grund haben, oder durch andere große Affecten, Furcht, Sorge, Traurigkeit, Seelen-Angst, Höllen-Angst im Leibe sich mit mähligem generiret [bildet], gezeuget, und feste gesetzt haben; so fragt sichs nun, wie kommt denn die Idée, der Gedanke, und das Bild vom Selbst-Mord vielmehr in das Haupt eines solchen Melancholischen, als eines andern Menschen? Und woher rühret denn die Einbildung samt der Furcht bei demselben, daß er sich selbst töten werde? Wie kann denn die höchste Furcht, eine Tat zu begehen, gleichwohl endlich die Tat nach sich ziehen, und machen, daß sie einer begehet? Natürlicher und ordentlicher Weise schreiten die Menschen zu Taten, zu welchen sie Lust und Beliebung, und welche sie zu begehen den Vorsatz haben, der doch hier nicht zu finden. Und wie gehet es denn zu, daß einige dieser Bilder wiederum los werden, und von solcher Furcht eines schrecklichen Todes befreiet werden? Das sind lauter schwere, dunkele, und noch unerkannte Sachen, und welche niemanden mehr unbekannt sind, als denen, welche mit dergleichen Leuten zu tun haben, sie mögen nun ihre geistliche, oder leibliche Ärzte, oder ihre Wärter sein, und sich doch ihres Zustandes, und ihrer Gedanken, Meinungen und Einbildungen, und ihres Leibes und Gemütes nicht recht erkundigen, und zudem auch an sich selbst von dergleichen Übeln noch nichts erfahren haben; oder, so sie etwas erfahren, doch nicht genug auf sich selbst Achtung gegeben haben, da sie als Gelehrte solches doch zu tun fähig und verbunden gewesen wären.

Weil ein jeder seinem Nächsten mit demjenigen zu dienen verbunden, was ihm Gott zu erkennen gegeben [vgl. 1. Petr 4,10], wenn auch sein Erkenntnis noch nicht vollkommen wäre, indem das leicht, was er den andern mitteilet, zu einem mehrern und völligern Erkenntnis den Weg bahnen kann; So will auch ich[151] hier in meinem Lebens-Laufe eine Weile stille stehen, und nach dem, was mich Gott an andern Menschen, und an mir selbst, durch eigene Erfahrung, mehr als einmal in meinem Leben wahrnehmen und anmerken lassen, den Zustand und Beschaffenheit solcher Melancholicorum, oder wenn sie nicht allemal pure Melancholici sind, doch solcher Leute, welche mit der Furcht und Einbildung, als ob sie sich selbst töten würden, Tag und Nacht gequälet und gemartert werden, so viel es sich wird tun lassen, deutlich beschreiben, und sowohl dieses Zustandes Ursache, als auch den unterschiedenen Effect und Ausgang derselben vor Augen stellen. Der Leser aber, so nicht studiret, kann im Lesen dieses, was hier folget, vorbei lassen, und besser unten § 76 wieder zu lesen fortfahren.

1

So sorgfältig ich auch bei Lesung der Bücher bin, das zu excerpiren und anzumerken, von dem ich urteile, daß ich da und dorten dessen benötiget sein möchte: so geschiehet es doch wohl, daß ich zuweilen etwas übergehe, und hernach, wenn ich es brauche, ich mich nicht mehr zu besinnen weiß, wo ich es gelesen. So geht mirs mit diesem angezogenen Orte [zitierten Stelle]. Der Autor, bei dem es zu finden, ist nicht Brunchorst, auch nicht Schererzius in seiner Fuga Melancholiæ, wie ich bisher vermutet. Denn in der Edition von Anno 1682 und 1715 stehet nur etwas weniges davon, und ist diese Plage mit der Anfechtung der Verzweiflung in ein Kapitel gebracht worden. In demjenigen Buche aber, dessen Autor mir entfallen, war ein besonder Kapitel, welches von denen handelte, die auf die Furcht und Einbildung geraten, als ob sie sich einst noch ein Leid antun würden. Auch Scriver im Seelen-Schatze, in der Predigt von hohen Anfechtungen, gedenket wohl, daß, wenn Angefochtene zur Stunde ihrer geistlichen Versuchungen von allerhand erschrecklichen Todes-Fallen hören, sie auf die Gedanken kommen, als ob sie auch noch eines solchen Todes sterben würden; allein, wie ich oben bewiesen, so entstehet die Furcht und Einbil dung eines selbsterwählten Todes nicht allemal aus Sünden-Angst, und Furcht der Verdammnis, sondern auch aus einem kranken Leibe, schwachem Haupte, natürlichen Schwermut, und Melancholia hypochondriaca, oder auch wohl aus angesteckter Phantasie, obwohl zuweilen hernach hohe Versuchungen, und zweifelhafte Gedanken wegen des Gnaden-Standes dazuschlagen. Indessen kann den Mangel des Autoris, der mir nicht einfallen will, dasjenige ersetzen, was Herr D. Marperger in seiner Warnung vor dem Selbst-Mord denen, die wegen Milz-Krankheit mit Furcht, und Einbildung geplaget werden, p. 72, 87 und 88 zum Troste geschrieben.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 147-152.
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