Anno 1707
§ 90

[234] Um selbige Zeit, ehe ich aus Breslau wieder abreisete, begegnete mir ein seltsamer Casus, der zwar lächerlich vielen scheinen möchte, der mich aber in solche Verwunderung gesetzt, und zu so vielen weiterm Nachsinnen Gelegenheit gegeben, daß ich mich gar nicht schäme, denselben hier zu erzählen. Ich rauchte einst des Abends vor Tische, da ich aus der Kälte, so mäßig war, wiederum nach Hause, und in mein Quartier kommen war, eine Pfeife Tabak. Ich hatte kaum etliche Züge getan, so fieng mich alles im Munde, Zahn-Fleisch, Gaumen, Zunge, in Summa, so weit sich der Rauch, den man in Mund ziehet, erstrecket, auf eine ungewöhnliche, ja ich möchte bald sagen, auf eine unbeschreibliche Weise an zu titilliren [kitzeln]. Je länger ich rauchte, je mehr nahm diese angenehme und süße beißende Empfindung zu, daß ich nicht wußte, wie mir geschahe, noch was ich gedenken sollte. Ich überlegte, was ich etwan gegessen hätte: ich forschte bei meinem Bruder nach, wer mir den Tabak geholet, und bei wem er wäre geholet worden; ich konnte aber nichts entdecken, was ich als eine Ursache solcher delicieusen Empfindung hätte ansehen mögen. Mein Lebetage hat mein Maul keine solche Freude und Wollust gehabt, als dieses mal, was ich auch gegessen und getrunken. Ich habe in der Jugend ein und das andere mal Tabak ore vinoso [mit Weingeschmack im Mund] geraucht, welches auch annehmlich schmecket; doch dies ist so was Schlechtes, daß ich mich ärgere, daß ich eine Vergleichung damit anstellen will. Ich legte die Pfeife weg, ich nahm sie wieder, der scharfe durchdringende Geschmack blieb einmal wie das andere. Ich bin versichert, wenn dergleichen alle Tabaks-Brüder[234] bei ihrem Tabak-rauchen empfänden, was ich damals empfand, sie söffen sich daran zu schanden, oder stächen und hieben sich darüber zu Tode, wie über der viehischen und venerischen [sexuellen] Wollust. Bei der folgenden Pfeife aber, die ich ansteckte, hatte die Herrlichkeit ein Ende: dieselbe schmeckte wie Numer 7 [Tabaksorte] davon die Elle einen Dreier kommt [kostet], und dergleichen ich noch zu rauchen pflege.

Ich hatte meine Reflexion darüber. Wenn Gott wollte, dachte ich, so könnte er leicht Materie, und äußerliche Objecta finden, alle Gliedmaßen unsers Leibes, sie möchten stehen, wo sie wollten, auf eine solche Weise zu bewegen, daß die größte Wollust daraus entstehen müßte. Die Wollust kommt in dieser Welt dem Schmerz nicht gleich, den wir Menschen in Gliedern öfters fühlen. Ein Hühner-Auge ist ein geringe Ding, und was kann das nicht vor Pein machen, wenn es zu toben anfänget. Was soll ich von Zahn-Schmerzen sagen, welche ich oft in so großem Maße gehabt, daß ich nicht davor schlafen, noch des Tages etwas darvor verrichten können. Habe ich aber jemals in Zehen, oder an Zähnen solche Wollust empfunden, die dem Schmerze gleich gewesen, so ich in denselben ausgestanden? Sollte aber dasjenige Teil des Leibes, so des Schmerzens fähig, nicht durch eine andere Bewegung eben so gut eines gleichen Grades der Wollust fähig sein? Es scheinet, daß Gott weise Ursachen gehabt, daß er die Wollüste des Leibes nicht so groß und so viel, als die Schmerzen desselben in der Welt gemacht, weil die Menschen sonst ihr Herz noch hundert mal mehr, als jetzund geschiehet, an die Welt, und an die Erquickungen, die wir mit dem Viehe gemein haben, hängen dürften. Wer weiß, was geschehen sein würde, wenn die Menschen im Stande der Unschuld blieben wären? Und wer weiß, was Gott einst im Himmel tun wird? Ob nicht daselbst alle Glieder des verklärten Leibes öfters dermaßen werden beweget werden, daß die größten und süßesten Empfindungen daraus entstehen werden. Sollten die vielen sinnlichen Kräfte, und Facultates, so hier der Seelen wesentlich gewesen, im Himmel aufhören, und nicht vielmehr auf einen höhern Grad gesetzet werden? Wird der Leib etwan im Himmel nur helfen mit da sein, wenn die Seele wird erquicket werden? Sollte das Vergnügen des Leibes im Himmel einmal nicht eben so groß sein, als hier auf Erden der Schmerz gewesen? Ich kann es nicht billigen, daß einige dem Leibe nichts, als die Augen übrig gelassen haben, und von nichts weiter wissen wollen, als was der Leib durch das Auge und Anschauen Gottes empfinden wird. Die Heilige[235] Schrift nennet einen Sinn, das Auge, und schließet dadurch die andern äußerlichen und innerlichen Sinnen nicht aus. Wir werden Gott sehen, und erkennen, wie er ist [vgl. 1. Joh. 3,2]. Nun entstehet in diesem Leben alle unser Vergnügen, Freude und Wollust aus dem Erkenntnis unserer Sinnen, oder aus dem Erkenntnis dessen, was wir mit unsern äußerlichen und innerlichen Sinnen percipiren, und wahrnehmen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 234-236.
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