Anno 1735
§ 153

[375] Doch es war nun geschehen, und ich fieng mich an um das Ende des Sommers mit lauter Ängstlichkeit und Bangigkeit zu schleppen, und war doch nicht die geringste Ursache in meiner Seele vorhanden, der ich solche Affecten und Plagen hätte zuschreiben können. Doch wie ich mehrmalen gedacht, bei dergleichen Fällen sucht sich der Mensch allerhand Dinge, wodurch er seine Furcht und ängstlichen Affecten noch mehr ernähret und erhält. Gottes seine Weise ist, wenn er die Menschen will stark machen, so macht er sie höchst schwach, ja, wenn er ihren Glauben stärken will, und ihnen geben, was sie gar sonderlich durch Gebet, und alle gewöhnliche Mittel gesucht haben, so läßt er das größte Maß der Furcht entstehen, so mit dem Vertrauen streitet, damit sie Gelegenheit haben zu kämpfen, und im Glauben wider die Furcht sich zu üben, und wenn er sie denn vor allen denen Übeln behütet, die sie im höchsten Maße gefürchtet, so daß sie Gottes Hülfe augenscheinlich sehen, und spüren, so wird ihr Vertrauen und Zuversicht ganz ungemein gestärket. So gieng es auch mir. Die Plagen, welche 1704 und 1717 über mich gekommen, kamen um diese Zeit viel stärker, als jemals, wieder. Und[375] wenn sich auch die Wellen des Gemüts ein wenig manchmal legten, so waren die traurigen Begebenheiten, so sich mit andern Leuten zugetragen, gleichsam neue Sturm-Winde, welche das Schiff des Glaubens umzuwerfen suchten. Ich merkte auch in diesem Jahre gar bald an, daß, wie eine gewisse Himmels-Witterung, manchmal Schnupfen, Fieber, Durchfälle etc. also eine andere die Milz-Krankheit unter den Menschen mehr als sonst verursache. Denn es vergieng das ganze Jahr, wie oben gedacht, fast keine Woche, da nicht in Zeitungen erschreckliche, und traurige Todes-Fälle bald von da, bald von dort her wären erzählet worden, welche ohne Zweifel in der Melancholia hypochondriaca solcher armen Menschen ihren Grund gehabt hatten.

Mitten im Sommer bekam ich Briefe von meinem Vetter aus Breslau, der etliche dunkele Worte in seinen Brief aus Unvorsichtigkeit einfließen lassen, aus welchen ich nicht wohl anders schließen konnte, als daß meine noch einzige Schwester, welche noch 9 Jahr älter, als ich ist, gestorben wäre. Ich redete mit dem Kutscher und mit dem Fuhrmann, der mir den Brief brachte; und siehe, dieser stellte sich ängstlich und betrübt an, fragte mich, ob mir denn nicht die Umstände wären geschrieben worden; sie wäre freilich gar eines elenden Todes gestorben, oder was er vor undeutliche Wörter sagte, so daß es schiene, als ob er mit der Sprache nicht heraus wollte. Ich weiß nicht, ob er meine Schwester mit eines andern Menschen Todes-Fall confundiret, oder was ihn so dunkel zu reden veranlasset. Weil ich ohnedem einen Leib voller Bangigkeit und Furcht überall mit herum trug, so erschrecke ich, und komme auf die Gedanken, als ob meine Schwester eines unnatürlichen Todes gestorben; da sie doch gar nicht gestorben war, welches ich erst hernach zu Anfange des Herbstes erfuhr. Zu eben der Zeit, da ich mich über den Tod meiner Schwester noch ängstete, und auf meine Briefe noch keine Antwort bekommen hatte, brach der erbärmliche Tod des Rats-Herrn, Wincklers, aus. Ein Medicus erzählte mir, daß er ein Weib an der Melancholie zu curiren hätte, die in schreckliche Angst, Furcht, und Einbildung geraten; es werde mit ihr auch noch so ein Ende nehmen; insonderheit könne sie sich nicht drein finden, daß dieser Mann zuvor gesungen und gebetet, und sein Gebet-Buch noch auf dem Tische gelegen hätte. Unfehlbar war der arme Mann kurz zuvor vom Verstande gekommen. Denn einige Jahre zuvor wurde er schon einst seines Verstandes beraubet, daß er auch bei dunkeler Abends-Zeit zu Fuße davon lief, und wo mir recht ist, ohnweit Eulenburg von dem ehemaligen[376] hiesigen Catecheten, Avenario, auf dem Wege angetroffen, und von demselben, da er keinen Verstand, sondern lauter Verwirrung bei ihm vermerket, in sein Pfarr-Haus mit genommen, und den andern Tag wiederum nach Leipzig geschickt wurde. Er verdiente also wohl, daß man ein Urteil der Liebe von ihm fällte, und das Beste hoffte, so daß viel mit den scharfen Predigten nicht in allem zufrieden waren, die damals über ihn gehalten worden. Es kam auch eine Predigt zum Vorschein eines niedersächsischen Theologi, die hitzig weggekauft wurde, und war doch nichts Sonderliches darinnen zu finden. Die Melancolici, wenn sie sich selbst Schaden tun, wurden zwar darinnen entschuldiget, aber mit keinem Worte gedacht, was Melancholici wären, und durch was vor Mittel, Weg und Weise sie denn eben dazu kommen, daß sie Hand an sich selbst legen, und nicht vielmehr auf andere Taten geraten.

Ich kann mich nicht genug wundern, daß die Gelehrten, und unter denselben die Welt-Weisen es nur bloß bei dem dunkeln Satze, den die Erfahrung beweiset, daß die Melancholici sich selbst umbringen, meistens bewenden lassen, und nicht mehr medice und philosophice, und moraliter nachgrübeln, wie Melancholia und Autochiria connectire [Selbstmord zusammenhänge], und durch was vor eine Reihe der Gedanken, Urteile, Schlüsse und der Affecten eines auf das andere folge. Wenn ich nicht wüßte, und mir nicht bekannt wäre in diesem Stücke die Unwissenheit der Menschen, und daß diese Materie vom Selbst-Mord der Melancholicorum, so lange die Welt stehet, in lauter Nacht und Dunkelheit gelegen, und zum Teil noch lieget; so möchte ich mich manchmal bald ärgern, wenn ich der Leute ihre Reden anhören muß. Dieser und jener, heißts, ist vor einigen Jahren so melancholisch gewesen, daß er sich auch selbst ein Leid tun wollen. Was, wollen? der arme Melancholicus, wenn er kein Atheist, noch ein unbekehrter Mensch ist, ließ sich eher in Stücken hacken, als daß er wird wollen, oder einen Willen, und Neigung haben sich umzubringen; man sollte eher so sprechen: er ist vor einigen Jahren so melancholisch gewesen, daß er mit der Furcht und Einbildung geplaget worden, er werde sich noch ein Leid tun.

Nun wieder zur Sache zu kommen, so betaure ich den armen Herrn Fiebig, den ehemaligen Unter-Leichen-Schreiber, der vor 30 Jahren bei mir Philosophie hörete, und sich trefflich in Collegio Disputatorio-Practico vor andern distinguirte. Der gehet zu allem Unglück in eine scharfe Predigt, die occasione [zum[377] Fall] des Herrn Wincklers gehalten wurde, da er ohne Zweifel seine Imagination mit fürchterlichen Idéen noch mehr angesteckt, indem seine Melancholei von langer Zeit her bekannt gewesen, und der, wie ich aus allen seinen Reden schließen kann, welche seine Frau von ihm gehöret, unter diejenigen auch zu zählen ist, die mit schrecklicher Furcht geplaget gewesen, daß sie sich ein Leid tun werden. Denn wie mir seine Frau, da sie noch wegen Ungewißheit seines Todes höchst bekümmert war, erzählet, so hat er auf die Letzte [zuletzt] vor allem gezittert und gebebet, was ihm nur zu tun aufgetragen worden, als ob er nicht geschickt sein würde, solches zu verrichten, wenn es gleich geringe Sachen gewesen, welches aller Melancholicorum Eigenschaft und Proprium in quarto ist. Er hatte auch, da er aus einer gewissen Predigt zurücke gekommen, zu ihr gesprochen: Ach der liebe Mann hat keine Erfahrung, und weiß nicht alle Gattungen der Selbst-Mörder, und wie manchen zuvor zu Mute ist, die sich hernach selbst Gewalt tun. Der, und der weiß es einem anders zu sagen, woher es komme, und muß ihm darinnen wegen eigener Erfahrung Recht geben. Und was braucht es viel den armen Mann zu entschuldigen? Den Tag vorhero begegnete er einem gewissen Doctori Juris auf der Gasse, der sein guter Freund war, und ihn auch manchmal besuchte. Der Doctor hat kaum etliche Worte mit ihm zu reden angefangen, so merket er, daß er nicht wohl bei Verstande ist, wie er mir solches ausdrücklich erzählet.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 375-378.
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