Anno 1735–36
§ 154

[378] Bei solchen Fällen ist leicht zu erachten, wie das Gemüte eines Milzsüchtigen müsse sein gequälet und gemartert worden. Ich kann aus der Erfahrung sagen, so lange die Krankheit und das Übel im Leibe, und im Milze haftet, so ist kein Trost in die Seele zu bekommen. Ich habe in meinem Leben nicht so oftmalige, und so vielfältige Tröstungen und Erquickungen Gottes in meiner Seele, wie auch Mut- und Glaubens-Freudigkeit, als dies Jahr, von Michael [29. 9.] an bis Ostern bekommen; ja die Versicherung von Gott in meiner Seele, daß ich wegen Ostern, oder der Marter-Woche nichts zu befürchten hätte, war in der Kirche, und auch zu Hause, insonderheit im II. post Epiphanias, den Tag vor Mariä Reinigung, und am Sonntage Oculi [3. Fastensonntag] so ausnehmend, daß sie nicht viel größer hätte sein[378] können, wenn mir gleich Gott im Himmel eine schriftliche Versicherung, oder eine Handschrift durch einen Engel darüber zugestellet hätte. Am Sonntage Oculi in der Vesper, in der Neuen Kirche, mußte ich schon nach vielem Genuß der Gnade Gottes das Urteil fällen: daß mir der Oculi-Sonntag wieder würde werden, wie Anno 1710. Doch bei dem allen, wenn der Paroxismus der Krankheit sich wieder einfand, und ich die Spasmos, Flatus [Blähungen], Verstopfung, oder was es gewesen, auf dem Milz spürte: so war aller Trost und Versicherung verschwunden, und wieder nichts als lauter Furcht, Zagen, Bangigkeit, und törichte Einbildung vorhanden. Wie ich bereits oben [S. 170] gesaget, so möchte ich schier noch einmal sagen: Der kranke Milz ist der größte und schärfste Moralist auf Erden. Er macht die abscheulichste Furcht und Angst; und weil man nichts so sehr, als Gott, seinen Zorn, und die ewige Verdammnis fürchtet, so entdeckt man aus Furcht alle Bosheit, alle Schlupf-Winkel des menschlichen Herzens, alle unlautere, unreine Absichten, in Summa, man siehet alle seine ehemaligen Sünden in der natürlichen Größe und Abscheulichkeit, so daß das Gewissen bald im höchsten Grad aufwacht, bald aber wiederum, so bald man Linderung spüret, und sich an Gottes Wort hält, getröstet, und aufgerichtet wird. Das geschahe einst gar sonderlich Mittags nach der Mahlzeit. Ich setzte mich eine Stunde nach dem Essen auf den großen Stuhl, nicht zu schlafen, denn darauf durfte ich mir keine Hoffnung machen; sondern nur ein wenig, wo möglich, das Haupt ruhen zu lassen. Ehe ich mich es versehe, so wurde mir wohl im Gemüte, und fiel mir unvermutet und ohne Connexion, und andere vorhergegangene Gedan ken ein: Derselbe mein Herr Jesu Christ vor alle meine Sünde gestorben ist etc. von ihm der bittre ( ) Tod mich nicht scheid. Das Wort alle brach mir das Herze, und wurde mir zu lauter Zucker und Honig, und hemmte auf eine Zeit alle Furcht, und Kummer.

Meine nicht, geliebter Leser, als ob etwan zu dieser Zeit wegen meines Buches mein Gewissen mich geplaget. Denn was man nach seinem obwohl irrenden Gewissen tut, pfleget der Seelen selten Pein zu machen. Man hat mehr Unruhe in der Seele, wenn man nicht nach seinem, obwohl irrenden, Gewissen tut, sondern wider dasselbe handelt. Wo Paulus feste geglaubet, und obwohl aus irrendem Gewissen davor gehalten, er sei bei Verlust der Seligkeit die Christen als Ketzer zu verfolgen schuldig; so würde er mehr Angst gehabt haben, wenn er sie nicht verfolget hätte, als da er nach seinem irrenden Gewissen tut, und sie verfolget.[379] Das irrende Gewissen obligiret einen Menschen zu zweien Dingen. Erst muß man sich alle Mühe geben zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen; und wenn man da alles getan, was man tun sollen, so ist man hernach zum andern verbunden, nach seinem Erkenntnis und nach seinem Gewissen zu wandeln, und zu tun. Es kann einem wohl nach der Zeit, wenn man zur Erkenntnis der Wahrheit kommt, leid sein, daß man geirret, so daß man sich darüber recht betrübt, und mit Paulo sagen muß: Ich habs aus Unwissenheit getan; aber die Sünden, die das Herze und Gewissen nagen, sind hauptsächlich diejenigen, die man aus Trägheit im Kampf wider die Sünde, oder wohl gar wider besser Wissen und Gewissen aus fleischlicher Hoffnung auf Gottes Gnade begehet und vollbringet; oder die man zur Stunde der Anfechtung aus irrendem Gemüte vor wissentliche, und freventliche Sünden ansiehet, da es doch nur Schwachheits-Sünden sind.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 378-380.
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