Anno 1736
§ 159

[386] Schier gleiche Bewandnis hatte es mit dem unvermuteten Gewissens-Skrupel, der einige Wochen hernach wegen meines einzigen Schülers, den ich mir erwählet hatte, entstand. Er gehörte einem von meinen guten Freunden an, und ist noch dazu mein Pate: ein Knabe von ohngefähr 12 Jahren. Die Zeiten sind schwer, dachte ich, und die Eltern haben der Kinder mehr, der Knabe ist der Handlung [Kaufmannsgewerbe] gewidmet, und kann wenig mehr Schul-Sachen tractiren, so daß zu befürchten, er werde in kurzen wieder vergessen, was er gelernet. Weil dir die Zeit ohnedem zu lang wird, ich will ihn doch etwan ein halb Stündgen des Tages ein wenig in Sprachen unterrichten, die bei der Handlung nützlich sind. Ich tat es, der Knabe bezeugete große Lust; aber siehe, auch dieses mal, als ich in bestem Informiren bin (wenn gleich der Teufel solche unvermutete Pfeile bisher hätte abzuschießen angefangen, es hätte nicht ärger sein können) ganz unvermutet, und ohne alle Connexion der Gedanken überfällt mich der Skrupel, als wenn ich wider das Verbot und Rescript Ihro Majestät sündigte, in welchem mir Predigen, Collegia halten, und alles Haus- Dociren vor zehen und vor acht Jahren untersaget worden. Doch wurde endlich nach dreien Tagen eine rechte kräftige und stärkere Versicherung in meiner Seelen gewürket, daß eine solche Unterweisung eines Knabens, vor dessen Auferziehung ohnedem als Pate zu sorgen verbunden bin, unter dem Verbot der Collegiorum wohl nicht mit würde begriffen sein. In Wahrheit, wenn Gott uns armen Menschen alle unsere Pflichten und Schuldigkeiten nach seinem Gesetze zu leben wollte klar vor Augen legen, und uns zur vollkommenen Erkenntnis derselben wollte gelangen lassen; wir müßten endlich verschmachten und vergehen. Denn wissentlich alsdenn wider Gott tun, und sich Christi Verdienst dabei getrösten wollen, würde wohl nicht fähig sein unsere Herzen, und zarte Gewissen zu beruhigen.

Nicht lange hernach überfiel mich ein neuer Skrupel wegen Undanks, den ich vielleicht an einem von meinen Præceptoribus begangen, zu der Zeit, da ich selbst noch ein Schüler gewesen. Als ich An. 1699 auf die Universität gekommen war, verstund ich schon etwas Engelländisch, kunte aber nicht lesen. Ich wurde schlüssig, zum wenigsten auf einen Monat zu jemanden zu gehen, der mich lesen lernte, in Meinung mit dem übrigen[387] durch die Grammatica, und das Lexicon mir selbst zu helfen. Man recommandirte mir den damaligen Herrn M. Abicht, der im Ruf war, daß er die Engeländische Sprache wohl verstünde. Ich wurde mit ihm eins des Monats 4 Tlr. vor die Information zu zahlen. Er war mir aber zu weitläuftig, so gut er es meinen, und im Sinne mit mir haben mochte; indem ich mehr ex usu [durch Übung], als durch weitläuftige Erklärung der regularum lectionis [Ausspracheregeln] lesen zu lernen gedachte. Ich prænumerirte also auf einen halben Monat, und wie derselbe vorbei, so blieb ich außen. Jetzt, da nun schon 37 Jahre vergangen, überfiel mich erst der Kummer, ob ich nicht die übrigen 2 Tlr. weil ich mich auf einen Monat verdungen, ihm zu zahlen, und zuzuschicken verbunden wäre. Nun Gott hat diesen meinen ehemaligen Præceptorem in seinem Leben auch erfahren lassen viel und große Angst, und hat ihn wieder lebendig gemacht, und erhöhet, und zu großen Ehren gesetzt: ich hoffe also der Hochwürdige Herr General-Superintendens, wenn er auch einige Obligation ihn zu contentiren mir noch zuschreiben sollte, werde mir armen Manne, den Not, und Armut im Alter drückt, und den, wenn ihm auch einige Brosamen des Jahres übrig bleiben, seine notdürftige, häufige Anverwandten in Breslau, die vor 2 Jahren durch die große Teurung noch elender wurden, öfters um Gottes Barmherzigkeit willen bitten, daß er ihnen helfen soll, nach seiner genereusen und edlen Gemüts-Art, so man jederzeit an ihm wahrgenommen, diese Schuld erlassen, und meine Hochachtung, und gute Wünsche vor das Wohlsein seiner hohen Person statt einer Zahlung annehmen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 386-388.
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