20. Wie mir die »Nachfolge Christi« in die Hände kam.

[178] Wie lange vorher hatte ich mich vor dem 15. Mai gefürchtet. Es war der Tag, an dem das Godeffroysche Segelschiff, »La Rochelle«, in See stach, und mir die Mutter nahm. – Nun war auch dies überstanden. – Ein Abschied auf zehn Jahre, – das schien mir damals gleichbedeutend mit: »Für immer!«

Solchen Tag durchlebt man, – darüber sprechen kann man nicht. –

Die Tage, die dem Abschied vorangingen, waren voller Unruhe, da die Mutter vollauf mit ihrer Ausrüstung zu tun hatte. Höchstens abends kam sie noch auf ein Stündchen, ließ sich von mir erzählen oder gab mir Rat und Vermahnungen für die Zukunft. Sie wohnte diesmal in Dovenfleet, da die gute Madame Piepenbrink nach auswärts verzogen war, was auch mich sehr schmerzlich berührte, da ich schon lange gehofft hatte, durch die Mutter meine Bekantschaft mit der gutherzigen Frau fortsetzen zu können. Es erleichterte und beruhigte die Mutter, als ich ihr erzählte, daß nun alles schon klarer und übersichtlicher für mich würde und daß ich dankbar und glücklich in den neuen Verhältnissen sei.

»Nun,« sagte sie ernst, »so hat sich ja dann alles Verworrene ziemlich geordnet, und ich kann wenigstens deinetwegen leichten Herzens an die neue Aufgabe gehen.«

Tiefer Ernst und kühne Entschlossenheit prägten sich in ihrem Gesicht aus. Ich, die ich sie so genau kannte, sah und fühlte, wie sie am Tage des Abschiedes kämpfte[178] und litt, wie sie aber trotz alledem ihre Festigkeit bewahrte, um mir bis zur letzten Minute den Halt zu bieten, dessen ich bedurfte, um diese schweren Stunden zu überstehen. – –


***

Der Aufenthalt an der Alster hatte leider sehr bald danach für mich sein Ende erreicht. Frau Doktor sagte mir, in einigen Monaten wollten sie für die Sommermonate verreisen, da sei es ebenso gut, ich käme so bald wie möglich an meinen neuen Bestimmungsort. Äußerlich war aufs beste für mich gesorgt. Das Haus lag weit vor der Stadt in einem herrlichen Garten. Die weiten Wege zur Schule waren mir lieb. – Aber ich konnte mich nur schwer in die Menschen finden. Die eine der Damen war die, die mir die Sprachstunden gab. – Wie ich auch war und was ich auch tat, so erregte ich Mißfallen und rief Tadel und Schelte hervor. Ich war aber innerlich wund und trostbedürftig. Ich wollte in meinem verlassenen Zustand so gern in die Kirche gehen, das wurde mir verwehrt. Da lerne man nur heucheln, wurde mir auf meine Bitte geantwortet, ich sei schon vermuckert genug. Ich möge mich endlich von der Vergangenheit losreißen, die Anschauungen aus einem abergläubischen Bergmannsdorf paßten nicht in die aufgeklärte Großstadt. – Da weinte ich in den stillen Nächten und bat Gott, daß er mir doch einen Trost in dieses Dunkel senden möge. Hatte ich denn nicht schon genug hergeben müssen? Wollte man mir auch noch das aus dem Herzen reißen, was meine Haupthilfe in der Not gewesen war. Als ich in Voigtsberg hilfesuchend meine Hände ausgestreckt hatte, hatte Er sich da nicht als treu erwiesen? »Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen«.[179] Hatte sich dieser Spruch denn nicht buchstäblich an mir bewahrheitet, so bewahrheitet, daß ich es vor Staunen nicht fassen konnte. Wie bald und wie sichtbar hatte Er mein Rufen ge- und erhört, und nun sollte ich das Preisen unterlassen?

»Halt mich doch weiter in Deiner Hand,« so bat ich, »laß mich bei Dir bleiben, auch wenn ich darum kämpfen soll.« Ach, ich hatte einen großen Herzenswunsch. Als ich in Nossen von meinem Pastor Abschied nahm, hatte der unter anderem gesagt: »Solltest du dich in der großen Stadt einsam und verlassen fühlen, so such Pastor Meinel auf.« – Er schrieb mir den Namen auf ein schmales Zettelchen, und ich steckte dasselbe ins Portemonnaie, da lag es noch. So vereinsamt hatte ich mich bis jetzt noch nicht hier gefühlt, das Bedürfnis nach diesem Beistand war noch nicht so lebhaft geworden. An der Alster durfte ich zur Kirche gehen. Jetzt aber, da man mir in meiner gänzlichen Vereinsamung auch diesen Trost entzog, da man mich um dieses Bedürfnisses willen höhnte und verspottete, da wuchs die Sehnsucht nach religiösem Anschluß und Verständnis allgewaltig in meinem Herzen. Wie oft nahm ich das Zettelchen hervor, las den Namen, machte mir eine Vorstellung von dem Manne, er mußte natürlich ebenso eifrig um eine Seele bemüht sein, wie mein Nossener Pastor, und welch ein Glück müßte es sein, mit einem solchen zu verkehren. Ob ich mir doch ein Herz faßte und einmal fragte? Freilich, ich wußte nicht, wo er wohnte, das würde in der großen Stadt so leicht niemand wissen, aber wenn ich nur die Erlaubnis bekäme, so wollte ich mich wohl bemühen. Da waren ja so viele Kinder in der Schule, eins davon würde doch vielleicht wissen, wo Pastor Meinel zu finden sei. – Gott weiß es, – dachte ich schließlich, er kann ja auch in Kleinigkeiten helfen, er[180] kann mich ihn finden lassen, wenn ich nur hin darf. – Nun, versuchen wollte ich es doch mit einer Frage, – aber, wie ich es eigentlich nicht anders erwartet hatte, ich wurde auf das bestimmteste abgewiesen.

»Da sieht man doch wieder, wie durchaus unkindlich und krankhaft alles an dir ist! Welches Kind in deinem Alter denkt wohl daran, sich mit einem Pastor in Verbindung zu setzen! Furchtbar unnatürlich! Wenn Frau Doktor wiederkommt, werde ich es ihr alles erzählen. Weißt du, was du bist? Orthodox bist du!«

Ich erschrak heftig. Was das wohl war, »orthodox«? Das X am Ende gab dem Wort einen so ganz eigenen Beigeschmack. Es mußte wohl etwas Schlimmes sein, aber ich verstand es wieder einmal nicht! –

Eines Tages hatte ich den Auftrag, Besorgungen in der Stadt zu machen. Seelisch müde und gleichgültig wanderte ich durch die Straßen. Plötzlich stockt mein Fuß. – Mein Blick bleibt an einer Tür haften. – Und doch ist an der Tür nichts anderes zu sehen als ein einfaches, kleines Porzellanschild, darauf steht: Pastor Meinel.

Wie eine Erscheinung sah ich das Schild an. Ich war so aufgeregt, daß ich heftig zitterte. Auf mein Gemüt wirkte dieses einfache Erlebnis wie ein großes Wunder. – Ich ging eilig die Straße zurück und sah nach dem Straßennamen, dann wieder vor die Tür, und nun prägte ich mir ein: Brandsende 13.

Ich suchte in meinem Portemonnaie den Papierstreifen, er war so mürbe, daß er in sich selbst zerfiel. – Was tat's, ich brauchte jetzt den Streifen nicht mehr, ich hatte ja den Mann selbst.

Das war eine Nacht! – denn gleich ging ich nicht hin, das mußte erst nach allen Seiten hin erwogen werden, und ich mußte die beiden Stimmen, die nun einen[181] gewaltigen Kampf gegeneinander führten, zu Worte kommen lassen. – Hans hatte so korrekt gesagt: »Papa und Mama sagen, man darf keine Heimlichkeiten haben«. Frau Doktor hatte ausdrücklich verboten: »Ohne unsere Erlaubnis gehst du zu keinem, den wir nicht kennen«. Dann sah ich mich wieder im Nossener Schloß bei meinem Pastor, und so mühte ich mich stundenlang mit dem »für und wieder« ab. Das Ende des Kampfes war der Entschluß, sobald ich wieder in die Stadt geschickt würde, nach Brandsende 13 zu gehen. – Die Gelegenheit kam. – Auf mein Klingeln öffnete mir eine Dame selbst die Tür und fragte nach meinem Begehr. – Stotternd bestellte ich die Grüße aus Sachsen. Ich wurde mit in die Stube genommen, wo der Pastor war. – Wer ihn gekannt hat, vergißt diese Erscheinung so leicht nicht wieder. Eine große, hoheitsvolle, würdige Erscheinung. Unter dem schwarzen Sammetkäppchen war das leicht gekräuselte, weiße Haar sichtbar. Aber das Schönste waren die großen, durchdringenden blauen Augen, die sich jetzt fragend auf meine kleine Gestalt richteten.

Das war gar kein so leichter Augenblick für mich! Ich suchte Trost, wie konnten sie das wissen, wenn ich ihnen nicht zuvor einen Begriff von meiner verlassenen Lage gab. – Dann kam ich ja aber ins Klagen, und mir wurde täglich gesagt, ich müsse dankbar sein. Ja, ich sah das selbst ein, daß Ursache genug zum Danken sei, aber über dem allen stand nun doch als Tatsache fest, daß ich mich tot-unglücklich fühlte und daß ich gern aus diesem Zustand heraus möchte. Ich wurde hin und her gefragt. Der Boden brannte mir unter den Füßen, ich war ruckweise mitteilsam, und zurückhaltend. Natürlich!

Dem Pastor kam wohl allerlei unter die Hände, vielleicht auch welche von der Sorte, wie ich eine war. Endlich sagte er: »Wir wollen gern, – wie dein lieber[182] Pastor in Sachsen es wünscht, – dir ratend zur Seite stehen, du kannst uns nächsten Sonntag um drei Uhr besuchen.«

Nein, das konnte ich ja eben nicht! Nun mußte ich bekennen, wie die Sache war. Eine Weile schwiegen Pastors und sahen einander an. Dann sagte der Pastor: »Raff doch deinen Mut zusammen und bitte und frage, ob du nicht bei uns verkehren darfst?«

Ich schüttelte betrübt den Kopf und sagte, daß ich bereits gefragt hätte, daß es mir aber entschieden abgeschlagen sei. »Im Augenblick können wir dir keinen Rat geben, komm gelegentlich noch wieder vor und hole dir unsere Meinung. – Kannst du singen?« fragte der Pastor. Ich sah überrascht auf. Singen! Ei und ob ich singen konnte! Hatte uns nicht der liebe Pastor in Nossen allwöchentlich einmal bei sich versammelt, und hatte uns schöne Lieder singen lassen? Diese Stunden hatten mir doch zur Erhebung und Erbauung gedient. Ja, ich konnte singen, behauptete ich freudig.

Der Pastor schlug ein Liederbuch auf, zeigte auf die Stelle und setzte sich ans Klavier. Sie stimmten an:

»Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh«. Aber nur Pastors Stimmen wurden hörbar, mich überwältigten die Worte und die Töne derart, daß ich Ströme von Tränen vergoß. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wurde ich freundlich entlassen. – –

Nach einiger Zeit waren die Damen zu Tisch eingeladen. Ich benutzte dies und ging wieder zu Pastors. – Heute hatte ich mehr Ruhe und Zeit. Den Pastor traf ich nicht zu Hause, nur die Frau Pastorin. – Sie empfing mich freundlich aber ernst.

»Wir haben uns deine Lage überlegt,« sagte sie, »da du nur heimlich herkommen kannst, muß ich dir sagen, daß du erst dann wieder zu uns kommen darfst,[183] wenn dir die freie Selbstbestimmung über deine Person zusteht. Jetzt machst du dich des Ungehorsams und der Täuschung schuldig, und das wäre ein schlechter Anfang zur Nachfolge Christi! Du weißt, der war gehorsam bis zum Tode, und zum Tode am Kreuze, darum hat ihn auch Gott erhöhet, und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist! – Nein, du darfst nur unter der Bedingung zu uns kommen, daß du niemanden hintergehst, und daß du denen, die deine Erziehung leiten, gehorsam bist! Sie mögen sein, wie sie wollen, sie sind dir jetzt als Herren gesetzt und ein Spruch lautet: ›Ihr Knechte, seid gehorsam Euren Herren, auch den wunderlichen‹.« –

Wir saßen einander gegenüber, und hatten zwischen uns nur das kleine Nähtischchen. Ab und an ergriff die Frau Pastorin eine meiner Hände und drückte und streichelte sie.

»Dieses allgewaltige Heimweh, diese Leere und Sehnsucht, das sind Gefühle, die sollst du haben! Es ist eine Krankheit, die zur Gesundung führt, wenn du nur aufrichtig Gott suchst. Erst wenn du Gottes Hand ganz fest ergriffen hast, wenn die Leere, die du jetzt fühlst, ausgefüllt ist mit ihm, erst dann wirst du Frieden finden: ›Meine Seele ist geschaffen zu Dir, o Gott‹. – Sollte dir die Vereinsamung aber unerträglich werden, dann komm ganz zu uns, dann wird sich auch durch uns ein Weg finden lassen, auf dem dein Fuß gehen kann. Du könntest ja Diakonissin werden.– – Von der Gegenwart wollen wir lieber nicht sprechen, da sie dir nicht gefällt. Erzähl mir mal von dem Leben und den Verhältnissen, ehe du hierher kamst.«

Nun erzählte ich von Voigtsberg, vom Leben der Bergleute und vom Bergbau. – Die Frau Pastorin hörte aufmerksam zu, wie ich ihr mit lebendigen Farben[184] ein Bild entwarf, wie ich es geschaut hatte. »Siehst du,« sagte sie, als ich inne hielt, »da hast du gleich ein Bild und ein Gleichnis. Die Wasser der Trübsal und die Hitze des Schmelzofens gehören dazu, um aus all den Schlacken und erdigen Bestandteilen das Edelmetall auszuscheiden. Es ist Gottes Erziehungsplan, daß wir leiden sollen. Das Leiden ist der Schmelzofen, wodurch die Seele geläutert wird. Ertrag's, liebes Kind, und bleib treu, vergiß es doch nicht, was er dir Gutes getan. – – Und nun sieh mal,« fuhr die Frau Pastorin fort, und nahm ein kleines unscheinbares Büchlein in die Hand, »dieses Buch ist sehr handlich, du kannst es in die Tasche stecken. Ich möchte es dir leihen, nicht schenken. Mache es zu deinem Freund und wenn einst die Zeit kommt, daß du die freie Selbstbestimmung über deine Person hast, dann komm wieder zu uns, und bring mir mein Eigentum wieder, ich werde mir vorbehalten, ob ich es dir dann schenken will. Zieht es dich dann noch ebenso zu uns wie jetzt, so werden wir dir nicht wieder den Zutritt in unser Haus verbieten. Hoffentlich auf Wiedersehen!«

Es war das Büchlein von der Nachfolge Christi von Thomas a Kempis, was sie mir in die Hand legte.

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 178-185.
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