Der Pastor

[192] Eines Tages kam ein Herr in die Schule. Der Kantor bot ihm einen Stuhl an, und der Fremde nahm Platz. Es war gerade Religionsstunde, und wir sagten unsere eingelernten Antworten her. Da der Herr nicht weit von mir saß, konnte ich ihn betrachten. Er war von schmächtigem Körperbau, sein Gesicht war bleich, das Haar war dunkel, er trug es ziemlich lang. Aus diesem blassen Gesicht schauten ein Paar große, blaue Augen mit ernstem Ausdruck auf die Kinderschar. Diese Augen beunruhigten mich, immer zogen sie meinen Blick auf den Fremden. Fürchtete ich mich vor dem ernsten Blick dieser Augen? Jetzt begegneten sich unsere Blicke, ich erschauerte. Warum ruhten seine Augen so lange auf mir? Mir war, als wolle er mir auf den Grund der Seele sehen. Wie konnte mich seine Gegenwart in solche Erregung bringen? Was ging er mich an? Wer war er, und was wollte er hier bei uns?

Die Pause kam, und alle stürmten hinaus. Der Herr stand jetzt auf und trat zum Kantor. Wollte ich hinaus, so mußte ich gerade an den beiden vorüber, das schien mir nicht möglich, ich war wie an meinen Platz gebannt. Damit der Fremde mich nicht mehr ansehen sollte, hielt ich die Schiefertafel vors Gesicht, verstohlen blickte ich aber darüber hinaus und beobachtete die beiden, da merkte ich zu meinem Schrecken, sie sahen jetzt beide nach mir hin. – Die anderen kamen endlich zurück, es war Lesestunde, der Herr blieb auch jetzt noch. Ich kam dran; meine Stimme zitterte vor Erregung, aber lesen konnte ich gut, und als ich fertig war, sah ich, wie der[192] Herr beifällig nickte. Eine warme Freude durchglühte mich.

Nach der Schule ging ich ein Stück mit Anna. Meine erregte Frage war, ob sie wisse, wer der Herr sei.

»Ja,« sagte sie, »es ist unser neuer Pastor, wir werden nächstens Konfirmandenstunden bei ihm haben.«

»Glaubst du,« fragte ich, »daß wir bei ihm auch viel lernen müssen?«

»Ja freilich! Viel mehr als beim Kantor, ich habe gehört, er soll furchtbar streng sein.«

Ich erschrak, meine Seele war in großer Spannung, ich dachte viel an die kommenden Stunden, und trotz der wenig tröstlichen Aussicht sehnte ich sie herbei, war mir doch, als müsse in diesen Stunden etwas ganz Besonderes mit mir vorgehen.

Suchend streckte mein Herz Fühlfäden nach Verständnis und Anschluß aus. Jeder Mensch, jedes Buch, jedes Ereignis erregte mich, es war ein Hungern und Sehnen in mir, das mir zur Pein wurde. –

Dann singen die Stunden beim Pastor an. Mit erwartungsvoller Freude ging ich hin.

Im Eingangsgebet bat der Pastor, daß doch jedes Kind recht reichen Segen fürs Leben mitnehmen möchte aus diesen Vorbereitungsstunden.

»Jede Seele,« sagte er, »auch die scheinbar geringste, ist so teuer erkauft, daß es ein großer Verlust wäre, wenn sie verloren ginge.« Weiter sprach er dann über Engel und Teufel. Von dem allgemeinen »Ihr« kam er meist auf das »Du« in der Anrede, und das machte auf mich den Eindruck, als seien er und ich ganz allein miteinander. Ich fühlte mich ganz persönlich von ihm[193] aufgefordert, vermahnt und getröstet, und in meinem Herzen gab ich lebhaft Antwort auf jede seiner Anregungen.

»Von den Teufeln sowohl wie von den Engeln,« sagte er, »machst du dir eine ganz verkehrte Vorstellung. Oder meinst du vielleicht, heutzutage gibt es weder die einen noch die anderen? Da irrst du dich! Auch heute noch geht der Teufel einher und sucht, welchen er verschlinge. Willst du dich etwa von ihm verschlingen lassen?«

»Nein!« rief es furchtsam in mir.

»Der Teufel,« fuhr er fort, »wird sich hüten, so zu dir zu kommen, wie du ihn von Bildern her kennst, als gehörntes Ungeheuer mit Schwanz und Pferdefuß, nein, er ist viel zu schlau, sich dir so abschreckend zu zeigen, er will doch deine Seele haben, deshalb verstellt er sich, er kann schön aussehen, er ist freundlich, er verspricht dir Genuß und Freude, er sagt, du sollst es gut bei ihm haben, aber trau' ihm nicht! Hör' ihn nur gar nicht erst an, verlaß dich nicht auf deine Kraft, du bist ja so schwach, wie leicht bist du überredet, und was dann? Ja, mein armes Kind, was dann? Dann bist du verloren!«

Ich zitterte, und mein Herz versprach, auf der Hut zu sein.

»Von den Engeln,« fuhr er fort, »hast du dir natürlich auch eine falsche Vorstellung gemacht. Du stellst sie dir vor, ausgestattet mit Flügeln, angetan mit hellen, wallenden Gewändern, mit schönen, lächelnden Gesichtern. Aber so begegnen sie uns nicht. Gott überträgt Engelsdienste ganz gewöhnlich aussehenden Menschen; ob sie[194] bucklig, alt und häßlich sind, darauf kommt's ihm gar nicht an; er gibt ihnen seine Aufträge, und sie richten sie aus. Ein äußeres Merkzeichen für Engel oder Teufel gibt's also nicht. Ach, ihr lieben Kinder, wie wollt ihr euch da hindurch finden! Bald sollen die meisten von euch hinaus in die Fremde, ihr Mädchen nehmt einen Dienst an, und ihr Knaben geht zu einem Lehrmeister oder zu den Bauern. Überall umlauern euch Gefahren und Versuchung, da kann ich euch nur herzlich vermahnen: Prüfet die Geister, festigt euer Herz, widerstrebet allem Bösen!« –

An einem der nächsten Tage sagte Nagel bei Tisch: »Wenn du mit aller Arbeit fertig bist, kannst du in der Dämmerung nach Zella gehen, erwarte mich da im Gasthof. Ich will Apfel kaufen, die lasse ich dahin schicken, du sollst sie nach Hause tragen.«

Verabredetermaßen ging ich nach Zella. Das Wetter war kalt, ein scharfer Frost machte die Erde hart und knupperig. Die große Wirtsstube war leer, ich mußte lange warten, mich hungerte, und ich fühlte mich bis ins Innerste durchgekältet. Die Leute brachten kein Licht, und die Zeit wurde mir lang, aber endlich kam Nagel in Begleitung eines Jungen, der die Apfel trug. Nun brachte der Wirt ein Öllämpchen. Ich versuchte, den traumhaften Zustand abzuschütteln, und wir traten den Heimweg an. Als wir in Nossen in die Neugasse kamen, sagte Nagel, auf eine Wirtschaft deutend: »Hier geht's ja lustig zu, komm, wollen mal sehen, was hier los ist!«

Gehorsam folgte ich. Nagel öffnete die Tür. Dicker Tabaksqualm erfüllte das Zimmer, und durch den Qualm[195] hörte man laute, aufgeregte Stimmen. Kaum hatten die Anwesenden gesehen, daß Nagel da war, als ein wahres Freudengeheul losbrach. Eine Frau mit stark gerötetem Gesicht stürzte aufgeregt auf ihn zu und rief mit schriller Stimme: »Da ist ja wahrhaftig Nägelchen! Goldenes, liebstes Nägelchen! Sie fehlten uns ja gerade noch! Was sagen Sie nur, daß Sie wirklich recht behalten haben?! Ganze fünf–hun–dert – Taler! Sie sind ein Prachtkerl! Von keinem andern Menschen als von Ihnen nehmen wir von nun an unsere Lotterielose!«

Alle drängten sich um Nagel, sie umarmten und küßten ihn, er konnte sich vor ihren lauten Liebkosungen gar nicht erwehren.

»Sie sollen heute abend haben, was Ihr Herz nur wünscht, und das kleine Mädel, das Sie da bei sich haben, natürlich auch. Komm, Kleine, setz' deinen Korb hier nur her. Du sollst auch mit essen. Gleich kommt schöner, warmer Schweinebraten. So gut wird's dir nicht oft geboten. Komm nur dreist heran an den Tisch. Nagel! Prost! Leben und leben lassen!«

»Was?« sagte Nagel, indem er mit erhobenem Glase an den Tisch trat, »du bist auch schon hier, Willy?«

Richtig, da saß er, mit einem Glas dampfenden Grogs vor sich. Er stand auf, gab dem Vater lachend die Hand, zog einen leeren Stuhl an seine Seite und winkte, ich möge mich neben ihn setzen. Zögernd folgte ich.

»So ist's recht!« rief Willy, »komm, bist wohl ganz kalt geworden, das gibt sich bald, hier ist's gemütlich,[196] gleich kommt das schöne Essen. Jakob! St! Du, unser Lieblingslied!« Sie stimmten an, die andern fielen ein, und dann sang die ganze Gesellschaft mit überlauter Stimme:


»Lebe – liebe – trinke – schwärme –

Und begeistre dich mit mir!

Härme dich, wenn ich mich härme,

Und sei wieder froh mit mir!«


Sie stießen lachend miteinander an, und jetzt erschien der duftende Braten auf dem Tisch. Nun gab's zu essen, ich war so hungrig, da schnitt auch schon die Frau mit dem roten Gesicht die dicken Scheiben ab. Ich fühlte, daß jemand den Arm um mich legte, und als ich mich erschrocken umdrehte, sah ich in Willys lachendes, übermütiges Gesicht. Ich rückte erschrocken von ihm ab, und eine heiße Angst packte mich plötzlich. Im Geiste sah ich ein Paar ernste Augen traurig fragend auf mich gerichtet. Ich zitterte, ich schämte mich vor dem fragenden Blick. O, wenn der Pastor mich in der Gesellschaft sähe, was würde er sagen? Hatte er nicht gerade den ersten Psalm besprochen? Und hatte er uns nicht mit heiligem Ernst vermahnt, wir möchten nicht sitzen, wo die Spötter sitzen? Alles Laute und Rohe sollten wir meiden, damit die seine Stimme in uns nicht ertötet würde. Das würde sie aber im wüsten Lärm. Wäre die aber erst tot, dann hätten wir keinen Mahner und Retter mehr. Da wurde die Angst und Unruhe in mir so stark, daß ich leise aufstand, meinen Korb ergriff, und ehe jemand von meinem Weggehen etwas gewahr wurde, stand ich in der Neugasse.

Eilig, klopfenden Herzens, als würde ich verfolgt,[197] hastete ich nach Hause. Die Stube war nur vom hellen Mondlicht erleuchtet. Scharf hob sich das Fensterkreuz von der weiß gescheuerten Diele ab. Frau Nagel saß nicht weit vom Fenster, ihr seines, blasses Gesicht sah im Mondschein noch bleicher aus als sonst.

»Du kommst spät,« sagte sie mit der gewohnten Müdigkeit in der Stimme. »Warum bist du denn so gehetzt?«

»Ich will nicht da sein!« sagte ich trotzig, und ich erzählte ihr, woher ich kam.

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Wenn man so jung wie du, schon auf sich selbst gestellt ist, da muß man sich fragen, zu welcher Partei man gehören will. Ich weiß ja nicht, wohin dein Herz dich zieht; das entscheidet ja. Helfen kann dir niemand, unser Schicksal liegt in uns selbst. Ich möchte auch nicht an solchem wüsten Leben teilnehmen. Zwingen dazu kann uns niemand.«

Sie deutete auf ein Nebentischchen und sagte: »Da liegt deine Bemme, iß sie, und dann geh zu Bett.«

Auch in die Bodenkammer schien der Mond. Ich konnte noch lange nicht schlafen, ich war so aufgeregt, daß ich heftig weinte. Ich war durchaus zufrieden mit mir, daß ich weggegangen war, ich fühlte, ich hatte ganz im Sinne des Pastors gehandelt, und auch die Mutter, wenn sie es mit erlebt hätte, würde mir ihren Beifall aussprechen. Was half es mir, daß ich bei der schönen Frau Nagel Teilnahme suchte, wo war sie mit ihren Gedanken und Empfindungen? Aber daß ich den Pastor hatte! Was er wohl sagen würde, wenn er wüßte, wie durchgekältet und hungrig ich war, und daß[198] ich trotzdem vorm Schweinebraten geflohen war, dann würde vielleicht das feine, zustimmende Lächeln über sein blasses Gesicht huschen. Ich hätte doch gewünscht, daß er es wüßte, vielleicht hätte er ein freundliches Wort für mich gehabt, danach sehnte ich mich so. Da ich aber das ersehnte Wort nicht hören würde, so lobte ich mich selbst und schlief endlich im Gefühl dieser Selbstzufriedenheit ein.

Schon am Tage nach meiner Flucht hatten wir wieder Stunde beim Pastor. Wir hatten den zweiten Psalm gelernt, und heute sprach er darüber.

»Du glaubst vielleicht,« sagte er, »dieser Psalm geht uns heute gar nichts mehr an, denn du lebst ja nicht unter Heiden. Du irrst dich! Du lebst ja heute noch gerade so gut unter Heiden wie die Leute, von denen der Psalmist redet. Wo sie sind? fragst du. Mitten unter uns, da sind sie, wo die Spötter sitzen, wo Tanz und Gelage sind, wo es laut und roh hergeht, da, wo man dein Gewissen töten will, wo man dir viel von Freude und Genuß vorredet. Kommst du zu solchen, da erwache derselbe Zorn in dir wie hier beim Psalmisten, rufe wie er: ›Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile!‹«

Der Pastor rief es laut wie einen Befehl hinaus, seine Augen funkelten, die zarte Gestalt hob sich in heiliger Begeisterung, als er fortfuhr: »Du wirst sie hören, wie sie pochen auf ihr Glück, wie sie sich sicher fühlen in ihrem Taumel, aber paß mal auf: Der im Himmel wohnet, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer. Er wird einst mit ihnen reden in seinem Zorn und mit seinem Grimm wird er sie schrecken. Er wird sie mit[199] einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe wird er sie zerschmeißen!«

Mächtig war die Stimme angewachsen, ich kroch ganz in mich zusammen, jedes seiner zornig gesprochenen Worte fiel wie ein Hammerschlag an meine Ohren. Er fragte: »Willst du bei Heiden sein? Ich sage dir, solches Tun ist dem Herrn ein Greuel, fliehe! Nimm nicht teil! Verschiebe deine Entschlüsse nicht, führt dich dein Schicksal zu Heiden, so bedenke dich nicht, erwäge nicht, sondern gleich mach' kehrt, verstocke dein Herz nicht!«

Mich hatte die erregte Rede so ergriffen, daß ich heftig weinte und bei mir selbst eifrig sagte: »Ach, ich geh' ja gleich! Ich geh' gar nicht erst wieder hinunter zu ihnen.«

Und als wir entlassen waren, schlug ich den Weg nach Siebenlehn ein. Zuerst war ich einfach drauf los gelaufen, als ich aber auf die einsame Chaussee kam, da kam auch das Nachdenken. Wohin konnte ich denn? Der Forsthof war nicht mehr meine Heimat. Zu Madame Hänel wagte ich mich nicht recht. Ich wollte zur alten Christiane gehen, die war noch eine Freundin meiner Großmutter gewesen, und ich hatte manchmal gehört, daß sie der Mutter ihren Rat angeboten hatte, vielleicht wußte die einen Ausweg.

Als ich mir das überlegte, hörte ich Schritte hinter mir, und eine freundliche Stimme fragte, wohin ich denn so eilig mit meinen Schulbüchern wolle.

Der so zu mir sprach, war der kleine, dicke Bäcker Winkler, der am Marktplatz wohnte, wo ich jeden Morgen die Dreierbrötchen gekauft hatte. Es wurde mir schwer, ihm eine bestimmte Antwort zu geben, aber durch allerlei[200] geschickte Fragen erfuhr er auf dem weiteren Wege, wie es um mich stand, und zu wem ich jetzt wolle. Vor Siebenlehn trennten wir uns, und ich ging zu Christiane. Sie saß in ihrem kleinen Stübchen, hatte ein dickes Kopftuch weit über die Stirn nach vorn gezogen, so daß ihr altes faltiges Gesicht wie unter einem Schutzdach verborgen war. Sie hatte einen Haufen Federn vor sich und war dabei, sie zu schleißen. Bei meinem Anblick schlug sie verwundert die Hände zusammen, schob das Tuch hinter die Ohren und wollte wissen, was ich bei ihr wolle. Aber das war eine schwere Aufgabe für mich, ihr begreiflich zu machen, warum ich von Nagels fortgegangen war. Zögernd rupfte sie die Federn und schüttelte bedenklich den Kopf. »Geben sie dir nicht satt zu essen?«

»Doch,« sagte ich.

»Hauen sie dich?«

»Nein!« rief ich.

Da ließ sie die Federn sinken, die alten blöden Augen ruhten fragend auf mir, sie wackelte mit dem Kopf und sagte vorwurfsvoll: »Ich find' mich ni mehr zorecht, man leeft doch ni glei weg! Ä, is das 'ne Zeit! Ja, die Jugend! Bist immer e närr'sches Mädel gewest! Sulltst doch wieder runter gehn, den Leiten e gutes Wort geb'n, vielleicht nehm'n se dich wieder.«

Unter Christianes Worten ging in mir eine leise Veränderung vor. Ich versuchte meinen Schritt mit Christianes Augen anzusehen, zwei Meinungen kämpften gegeneinander. Ich fragte mich: hatte ich wirklich unbesonnen gehandelt? Als ich die Frage schweigend in mir erwog, klopfte es, und zu meinem maßlosen Staunen[201] trat mein freundlicher Weggenosse, Bäcker Winkler, herein. Wir waren alle drei linkisch und verlegen. Ich konnte mir nicht denken, was Winkler hier wollte. Da sagte er, indem er sich den Schweiß abtrocknete: »Hier, geh mal zu Kaufmann Dietzels und hol' mir ein Päckchen Streichhölzer, ich hab' grade keine mehr.«

»Sonderbar!« dachte ich, aber ich lief schnell in die Niederstadt.

Als ich wiederkam, war kein Bäcker Winkler mehr da; Christiane sagte kopfschüttelnd: »Der wollte doch gar keene Streichhölzchen! Ich soll dir von ihm sagen, du könntest morgen nach der Schule zu ihm kommen, du solltest keene Bange haben, könntest da bleiben bis nach der Konfirmation. Kennst'n du den?«

Ich nickte. Der Pastor hatte in allem recht; es war gut, daß ich ihm gehorcht hatte! Wie er recht hatte! Auch was er über die Engel gesagt hatte. Ganz unscheinbare Leute könnten Engelsdienste verrichten, Bäcker Winkler war also auch dazu ausersehen. Das hätte ich früher nicht gedacht, nun hatte ich's erlebt. Das Erlebnis machte mich so froh, daß ich, mit Dank und einem großen Glücksgefühl im Herzen, ganz sanft auf Christianes hartem Kanapee einschlief.

Ganz schüchtern stand ich am nächsten Tag bei Bäcker Winklers. Eine resolute Frau mit aufgestreiften Ärmeln trat auf mich zu und sagte: »Bist du die kleine Dietrich? – Na, mit viel Gepäck gibst du dich nicht ab. Hast wohl dein Zeug noch bei Nagels, wirst's nicht gern holen wollen – der Geselle kann hingehen. – Leg' deine Bücher hierher. Gleich wollen wir essen, hier im Tischkasten ist's Deckzeug, deck' den Tisch!«[202]

Sie gab mir einige kurze Anleitungen und holte das Essen. Außer dem freundlichen Bäcker waren noch seine alte Mutter und zwei hübsche, erwachsene Töchter da. Mein Aufenthalt hier wurde wie die selbstverständlichste Sache von der Welt angesehen. –

Nach dem Essen gab mir Frau Winkler ein Päckchen weißes Garn und einen Satz Stricknadeln.

»Das hab' ich dir heute früh besorgt, du hast vielleicht noch keine Strümpfe zu deiner Konfirmation. Schlag dir Maschen auf, und wenn ich grade nichts für dich zu tun habe, so strick' dir ein Paar Strümpfe.«

Mir war vorläufig geholfen. Das Erlebnis machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich.[203]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Bilder aus meinem Leben. Berlin 1912, S. 192-204.
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