Journalistenfahrt am Bodensee

Zu Konstanz war einer der Führer der national-liberalen Partei, Max Stromeyer, zum Bürgermeister gewählt worden. Er hatte sich in Konstanz eine Art Paschawirtschaft eingerichtet und in seinem Übermut der Bürgerschaft mit einer »saftigen Rute« gedroht. Gegen ihn verbanden sich alle oppositionellen Elemente und so schlossen sich bürgerliche Demokraten und Ultramontane eng zusammen. Dieser Zusammenschluß war damals um so leichter, als Baden seinen »Kulturkampf« für sich hatte und die ultramontane Agitation einen demokratischen Charakter trug.

Der Führer der Konstanzer Demokraten war der Arzt Dr. Stizenberger, ein sehr vermögender und äußerst rühriger Mann, der sich immer »im Zweiunddreißigstelstakt« bewegte. Er kam mir in jeder Beziehung nett entgegen und förderte mich überall, wo es ihm möglich war. Er war der eigentliche »Oberredakteur« des Parteiblattes, übte aber nur eine Art Aufsicht aus und ließ mich allein machen, nachdem ich einmal in die Redaktionsarbeiten eingeführt war. Der Demokratie hatte sich auch der ehemalige badische Minister des Auswärtigen, der Freiherr Ludwig von Edelsheim, angeschlossen. Er suchte für seine antipreußische Gesinnung und Agitation hier einen Stützpunkt, nachdem er 1866 durch die preußischen Siege aus der Regierung verdrängt worden war. In die Demokratie paßte dieser eingefleischte Aristokrat gar nicht hinein. Aber »die Exzellenz« spielte unter den 48er Republikanern eine wichtige Rolle und überwachte sehr sorgsam meine Redaktionsführung, die in verschiedenen Billets bald gelobt, bald getadelt wurde.

Die Konstanzer Demokratie bestand meist aus kleinbürgerlichen Elementen, zu denen auch einige Bourgeois herniederzusteigen pflegten, die aber nur »unter Pfarrerstöchtern« mit der Revolution kokettierten, vor der sie am meisten erschrocken wären, wenn sie leibhaftig erschienen wäre. Von einigen Achtundvierzigern war ich sehr enttäuscht, so von dem Advokaten Welte, den man 1848 wegen seines »wilden Republikanismus« im Volke des Seekreises den Baronenmetzger genannt hatte. Ich fand ein kleines schüchternes Männlein, das sich nicht einmal entschließen konnte, in einem Preßprozeß meine Verteidigung zu übernehmen, um sich bei den Behörden nicht unbeliebt zu machen. Dieser Mann hätte nicht nur keinen Baron, sondern auch kein Huhn »metzgen« können.

Verschiedene Konstanzer Demokraten hatten 1848 den Heckerzug mitgemacht oder 1849 unter den Revolutionsfeldherrn Sigel und Mieroslawski gedient. Man machte mich mit einem Metzger bekannt, von dem es hieß, er habe im Treffen von Kandern den General von Gagern[65] erschossen; der Mann beteuerte, dies sei nicht, wie so vielfach von reaktionären Schriftstellern behauptet worden, während des Parlamentierens, sondern erst dann geschehen, als Gagern zum Angriff kommandiert und sich mit geschwungenem Säbel auf die Freischaren gestürzt habe. Gerne hörte ich von den Schlachten bei Waghäusel und an der Murg erzählen. »Bei Waghäusel,« sagte mir ein ehemaliger Volkswehrmann namens Hunkel, »sah man nichts wie Himmel und Preußen; sie schienen plötzlich aus dem Boden herauszuwachsen.«

Verleger des »Konstanzer Volksfreund« war der Buchdruckereibesitzer Stadler, ein geborener Nürnberger, der sich in Konstanz zum wohlhabenden und angesehenen Bürger emporgearbeitet hatte und auch eine Zeitlang Bürgermeister gewesen war. In seinem geräumigen Hause erhielt ich eine Gratiswohnung und einen Teil der Beköstigung, so daß ich mit dem geringen Gehalt als »Unterredakteur« leidlich auskommen konnte. Damals war eben alles sehr billig. Ein Schoppen = 1/2 Liter guten Bieres kostete 2 Kreuzer = 6 Pfennig; ein Schoppen Wein 4–6 Kreuzer = 12 bis 18 Pfennig; ein gutes Mittagessen 18 Kreuzer = 54 Pfennig. Mein Gehalt betrug monatlich 25 Gulden. Der Gulden hatte 60 Kreuzer.

Bei Stadlers war ich in ein gutes Haus gekommen; man war so freundlich und gut gegen mich, als ob ich zum Hause gehörte. Die Erfahrungen des alten Stadler wurden mir sehr nützlich. Er hatte 1848 die von dem bekannten Republikaner Fickler redigierten »Seeblätter« herausgegeben, und, wie sich denken läßt, eine Zeit des Sturmes und Dranges mitgemacht. Begierig lauschte ich den Erzählungen der beiden alten Leute. Namentlich die Altbürgermeisterin besaß ein reiches Anekdoten-Schatzkästlein. Sie erzählte viel von dem originellen Auftreten des republikanischen Agitators Fickler. Eines Tages erschien er während der Märzstürme von 1848 in einer großen Volksversammlung und wollte eben das Wort nehmen, als ein Gensdarm herantrat und mit wichtiger Miene meldete, der Herr Oberamtmann sei soeben angekommen. Darauf begann Fickler seine Rede also: »Männer des Volkes! Man meldet mir soeben, daß der Herr Oberamtmann uns die hohe Ehre erwiesen hat, zu unserer Versammlung zu erscheinen. Das ist schön; da kann er mich auch gleich am – – – –!« Das brausende Gelächter der Versammlung scheuchte den Herrn Oberamtmann zum Saal hinaus.

Die Altbürgermeisterin war in ihrer Jugend Kammerfräulein bei der sogenannten Gräfin Mainau gewesen. Diese war eine frühere »Figurantin« am Karlsruher Hoftheater, deren blendende Schönheit den Großherzog Ludwig bewogen hatte, eine »Gewissensehe« mit ihr zu schließen. Sie wurde zur Gräfin von Gondelsheim gemacht; unter ihrem früheren Namen Katharina Werner war sie in der Kaspar Hauser-Affäre genannt worden. Großherzog Ludwig schenkte ihr unter anderen Gütern auch die Insel Mainau, weshalb sie im Volke die Gräfin Mainau genannt wurde. Der Großherzog aber änderte ihren Titel in Erinnerung an die alte Ritterfamilie, der einst die Insel gehört, in[66] Gräfin Langenstein um.1 Die Geschichte dieser »Figurantin« ist ein nicht uninteressanter Beitrag zur Geschichte der Maitressenwirtschaft in den Kleinstaaten.

Während die spätere Bürgermeisterin von Konstanz auf der Mainau Kammerkätzchen war, ging es in dem ehemaligen Deutschherrenschlosse dort hoch her; ein üppiges Fest jagte das andere. Dies bewirkte, daß sich die begehrlichen Blicke eines in der Nähe hausenden Abenteurers auf die reizende Insel und ihre nicht minder reizende Beherrscherin richteten. Dies war Louis Napoleon Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleon III., der zu jener Zeit auf dem Schlosse Arenenberg lebte, das bei Ermatingen am Untersee liegt. Dorthin hatte sich seine Mutter, die galante Hortense, ehemalige Königin von Holland, zurückgezogen. Der Prinz Napoleon wurde im Schlosse Mainau täglicher Gast und vertrauter Freund der Gräfin. Den Weg von Arenenberg nach der Mainau und zurück pflegte er zu Pferde zurückzulegen. Die Gräfin, so erzählte die Altbürgermeisterin, war groß im Geldausgeben. Manchmal saß sie ganz auf dem Trockenen; dann sah man wieder ihre Schubladen »mit Dukaten eben voll gestrichen«. Napoleon ließ es sich wohl sein auf der Insel Mainau; seine Kaiserträume beherrschten ihn dort schon völlig. 1838 wurde er auf Betreiben der französischen Regierung aus dem Kanton Thurgau ausgewiesen, obschon er schweizerischer Bürger und Artilleriehauptmann geworden war. Am Bodensee hatte er sich durch Geldspenden usw. eine gewisse Popularität erworben. Im Thurgau sieht man heute noch häufig sein Bild. Mehrfach trat er auch als Schürzenjäger bei ländlichen Schönheiten mit Erfolg auf, worüber die Altbürgermeisterin ergötzliche Dinge zu erzählen wußte.

Im Stadlerschen Hause fühlte ich mich recht wohl. Abends fand ich immer anregende Gesellschaft in den Lokalen, wo die Opposition sich traf. Auch eine Anzahl angenehmer junger Leute, Künstler, Kaufleute und Beamte lernte ich kennen, unter ihnen den Finanzpraktikanten Friedrich Hug, den ich im Reichstage später wieder traf, wo er dem Zentrum angehörte. Die Opposition war noch voll Grimm über ihre Niederlage bei der Oberbürgermeisterwahl. Sie hatte dem allmächtigen Stromeyer den derzeitigen Ratschreiber gegenübergestellt; diesem war aber kurz vor der Wahl eine der besten Gerichtsnotarstellen des Landes von der Regierung angeboten worden und er war so schwach gewesen, anzunehmen. Vor dem Stadlerschen Hause war eine große Katzenmusik aufgeführt worden. Der Altbürgermeister ging seitdem jeden Abend in die nahe Schweiz nach dem dicht vor Konstanz gelegenen Dorfe Emmishofen, wo er im »Englischen Gruß« eine gleichgestimmte Gesellschaft von Konstanzer Honoratioren alten Schlages traf. Er nahm mich oft mit und ich lauschte gerne den Erzählungen der alten Herren.[67]

Jeden Sonntag fuhr ich über den See nach Überlingen zu meiner Braut und zu den mir so lieb gewordenen Freunden.

So flossen die Tage fröhlich dahin. Aber


»Da plötzlich, horch, ein andrer Tanz:

Das Kriegshorn überm Rhein!«


Anläßlich der spanischen Thronkandidatur eines hohenzollernschen Prinzen war am Himmel finsteres Gewölk aufgestiegen, aber es hatte sich wieder zerstreut. Niemand glaubte mehr an Krieg. Aber da kam die »aus einer Chamade in eine Fanfare« verwandelte Emser Depesche Bismarcks, die sehr aufregend wirkte, namentlich bei den Franzosen, und der am 19. Juli 1870 die Kriegserklärung Napoleons III. an Preußen folgte. Wir waren alle ungeheuer entrüstet über den frechen Friedensstörer Napoleon, der bei der Demokratie wegen seines blutigen Staatsstreiches vom 2. Dezember 1851 ganz besonders verhaßt war. Wir wußten damals noch nicht, daß Napoleon durch die diplomatischen Manöver Bismarcks in eine Situation gedrängt worden war, die ihn zum Losschlagen zwang, und zwar in einem Moment, da die französische Armee nicht kriegsbereit war. Aber wir hofften alle, daß es dem verhaßten Napoleon nunmehr an den Kragen gehen werde, und dachten mit Georg Herwegh:


»Von den Thronen ward als Retter

Hochgepriesen der Tyrann –

Endlich zieht das Donnerwetter

Eines Volks auf ihn heran.«


Die süddeutschen Staaten schlossen sich den Preußen an und alles eilte zu den Waffen.

Meinen damaligen Anschauungen entsprechend überlegte ich, ob ich mich nicht als Kriegsfreiwilliger melden solle. 1869 hatte ich mich zur Konskription in Freiburg gestellt, war aber für untauglich zum Militärdienst erklärt worden. Das kam daher, daß mir bei meiner damaligen Magerkeit der sogenannte Adamsknochen am Halse stark hervorstand. Der assistierende preußische Offizier erklärte: »Hier kann keine Krrrawatte sitzen« und man schrieb in mein Zeugnis: »Gänzlich untauglich wegen Kropfs.« In Wirklichkeit war ich durchaus fehlerfrei; es wurde aber vor 1870 mit den Studenten nicht so genau genommen. Ich hatte immer militärische Neigungen gehabt und mich gerne mit Kriegsgeschichte beschäftigt; auf dem Lyzeum zu Wertheim hatte ein Aufsatz von mir über die Feldzüge des Erzherzogs Karl von Österreich 1796 und 1799 die Aufmerksamkeit der Lehrer auf sich gezogen. Aber vor 1870 stand das Offizierkorps nicht in dem Ansehen wie heute. »Ultima spes miles!2 sagte man spöttisch, wenn ein Student zum Militär überging. Der Garnisonsdienst konnte auch nicht reizen. Aber nun war ein großer Krieg da, der mir allerlei Bilder vorzauberte. Wenn ich als Freiwilliger den Krieg mitmachte, dann konnte[68] ich mit allem Grund hoffen, wenn ich nicht verstümmelt wurde oder blieb, Leutnant zu werden, was auch bei vielen meiner Kameraden geschah; wenn ich dann in ausländische Dienste trat, in der Türkei etwa oder in Südamerika, dann konnte ich »etwas werden«. Ich war trotz der Bitten meiner Braut im Begriff, mich zu melden; indessen bewog mich im letzten Moment eine Mitteilung, die vom Minister von Edelsheim ausging und sich auf die Behandlung der Freiwilligen bezog, davon abzustehen.

Während sich der Aufmarsch der gewaltigen Heeresmassen diesseits und jenseits des Rheins vollzog, erreichte in Deutschland der furor teutonicus den höchsten Grad. Wenn man bedenkt; daß ein so sein empfindender Mann wie der Ästhetiker Vischer damals den Franzosen zurief: »Euch unverschämter Nation sollte man die Hände zusammenschnüren, daß euch das Blut aus den Nägeln spritzt«, so kann man sich vorstellen, wie die wildgewordenen Spießbürger tobten.

Alle Übertreibung ist in solchen Zeiten lächerlich, widerlich und schädlich. So begierig wir alle die Niederlage Napoleons mit seinen Zuaven und Turkos ersehnten, so widerwärtig waren uns die Wirtshauspatrioten, welche die Franzosenfresserei bis zur äußersten Roheit trieben und Tag und Nacht die »Wacht am Rhein« abbrüllten. Dies Lied war schließlich so »zersungen«, daß Friedrich Stoltze in seiner »Latern« Millionen aus dem Herzen sprach, als er meinte:


»Wacht ihr am Rhei, so viel ihr wollt;

In Frankfort loßt mich schlofe!«


Rasch auf einander folgten die furchtbaren Niederlagen Napoleons.

Durch die Verbindungen des Ministers von Edelsheim waren wir in der Lage, manche wichtigen Ereignisse früher als andere Zeitungen bringen zu können, denn der Nachrichtendienst war damals noch nicht so vortrefflich organisiert wie heute. Ich wurde deshalb abends im Wirtshaus mit Spannung erwartet. Am Abend des Tages der Schlachten von Wörth und Spichern kam ich in das Restaurant »Barbarossa« und rief meinen Freunden zu: »Es hat noch eine Schlacht und zwar bei Spichern stattgefunden, in der die Franzosen auch geschlagen worden sind; bei Wörth ist auch eine badische Abteilung mit dabei gewesen!« Der Stammtisch, der von der Schlacht von Spichern noch nichts wußte, antwortete mit Hurra! An einem anderen Tisch antwortete lautes Wehklagen; dort saßen badische Offiziersfrauen mit ihren Kindern. Es war mir schrecklich leid, den armen Frauen solche Aufregung bereitet zu haben.

Es kamen die Schlachten um Metz und wir erhielten die Nachricht vom Siege bei Gravelotte auch früher als andere. Ich sah eine aus dem Hauptquartier Rezonville datierte Depesche an Edelsheim, in welcher gesagt war, daß der General von Steinmetz wegen seines rücksichtslosen Draufgehens mit dem Hauptquartier in Differenzen geraten sei und von den empörten Soldaten »der Steinmetzger« genannt werde, weil er hatte in geschlossener Kolonne angreifen lassen, was bei dem modernen[69] Schnellfeuer nicht angängig war. Der Mann lebte noch in der napoleonischen Zeit. Er ward gleich darauf nach Posen zurückgeschickt. Hier sei erwähnt; daß dieser General im Norddeutschen Reichstage für den Normalarbeitstag gestimmt, weil seiner militärischen Art die Regelung der Arbeitszeit gefiel.

Dann kam die Schlacht von Sedan und die Gefangennahme Napoleons. Wir glaubten, daß nunmehr der Krieg bald zu Ende sei. Die Demokratie und die Sozialdemokratie erhoben Einspruch gegen die gewaltsame Annektion von Elsaß-Lothringen. Sie wollten eine Volksabstimmung, wie sie von Bismarck den Nordschleswigern im Artikel V des Prager Friedens zugestanden, aber allerdings nicht ausgeführt worden war.

Darauf ergingen verschiedene Verhaftungen. Bracke und Genossen in Braunschweig, Geib in Hamburg und verschiedene andere Sozialdemokraten, Johann Jacoby in Königsberg und einige Führer der Welfen wurden festgenommen. Die Braunschweiger, Geib und Jacoby wurden, meist in Ketten, nach Lötzen an der russischen Grenze gebracht. Wer sich gegen die Annektion und gegen die Verhaftungen auszusprechen wagte, wurde einfach als »Vaterlandsverräter« bezeichnet und angefeindet, wo er ging und stand. Damals kamen die sogenannten Siegeslümmel auf; die jeden in der gröbsten Weise anrempelten, der nicht zugeben wollte, daß die Franzosen eigentlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müßten. Liebknechtsund Bebels Reden im Reichstage galten als von den Franzosen bestellt und bezahlt. Den »Siegeslümmeln« widmete ich damals folgende Verse, die ich in meinen alten Papieren wiederfand:


»Geschlagen ist bei Wörth die Schlacht,

Es wurden den Franzosen,

Daß schnell sie sich davon gemacht.

Geklopft die roten Hosen.

Der Telegraph hats hergeblitzt;

Im Wirtshaus herrscht Getümmel,

Hoch oben an dem Stammtisch sitzt

Der große Siegeslümmel.


Er ist bei allem Heldentrieb

Nicht in den Krieg gezogen,

Denn Schlafrock und Pantoffeln blieb

Er gar zu sehr gewogen.

Doch hat die Feinde unser Heer

Im Felde drauß geschlagen,

Dann frißt zu Haus sie nochmals er,

Tut ihr Gebein benagen.


Die Jesuiten frißt er auch,

Dazu die Demokraten,

Die sind für solchen grimmen Gauch

Ein hochwillkommner Braten.[70]

Er schluckt viel Bier und renommiert,

Daß sich die Balken biegen,

Als hätte Deutschland er geführt

Zu seinen großen Siegen.


Um Mitternacht sitzt er allein

Bezecht und gröhlt im Grimme

Zum letzten Mal die Wacht am Rhein

Mit seiner heisern Stimme.

Da öffnet sich die Türe weit,

Es ist ein Geist erschienen;

Es schweigt des Sängers Höflichkeit,

Angst künden seine Mienen.


Ja, das ist die Hausobrigkeit,

Die Gattin rachetrunken,

Der Held und Sänger lang und breit

Ist untern Tisch gesunken.

»Genug«, spricht die erzürnte Frau,

»Mit Sausen und mit Singen;

Doch helft mir jetzt die alte Sau

Auch mal nach Hause bringen!«


Dies Jugendgedicht – das einzige von mir, das sich erhalten – kursierte in etwas anderer Form damals bei vertrauten Freunden; an die Öffentlichkeit durfte sich so etwas nicht wagen. Dagegen hörte man bald das bekannte Lied: »König Wilhelm saß ganz heiter« etc. in den Wirtshäusern. In diesem Lied wurden die Franzosen allesamt »Lumpenpack« genannt und weiter hieß es:


»Haut sie, daß die Lappen fliegen,

Daß sie all die Kränke kriegen

In das klappernde Gebein« usw.


Unter diesen Umständen gingen wir fast jeden Abend in die Schweiz und trafen uns in Emmishofen im »Englischen Gruß«. Dorthin brachte ich am 4. September abends die Depesche, daß in Frankreich die Republik proklamiert sei und daß sich Gambetta und Rochefort in der Regierung befänden. Diese damals in Deutschland sehr populären Namen riefen eine große Begeisterung hervor, namentlich bei den anwesenden Schweizer Freunden, die auf die Tische sprangen und die Republik hochleben ließen.

Aber der Krieg und die auf denselben folgende übermächtige nationalliberale Strömung entzogen unserem kleinen demokratischen Blatte den Boden. Die Abonnenten fielen ab »wie die Mucken«, wie man in Baden sagt. Wir sahen schon im Oktober ein, daß der »Konstanzer Volksfreund« das Neujahr 1871 nicht überleben werde. Mir war das ungemein schmerzlich, denn ich wäre begreiflicherweise gerne bei den »Seehafen« – so nennt man die Anwohner des Bodensees – geblieben. Auch war ich Mitarbeiter[71] von Stadlers populärem Kalender »der Wanderer am Bodensee« geworden, für den ich meine ersten Novellen sowie größere historische und politische Aufsätze schrieb. Das verhältnismäßig reichliche Honorar kam mir sehr zu statten.

Im Oktober wurde ich volljährig und mein Stiefvater rechnete prompt mit mir ab. Es war noch ein für meine Verhältnisse nicht unbedeutender Rest meines Vermögens vorhanden. Aber dieser blieb an Händen kleben, aus denen ich ihn durch Hilfe der Justiz nicht herausholen mochte. So verzichtete ich darauf und ließ auch die Philister schwatzen, welche sich arg darüber aufhielten, daß ich auf der Universität etwa 150 Mark Schulden hatte machen müssen.

Um diese Zeit hatte ich meinen ersten Preßprozeß; ich war wegen Beleidigung eines nationalliberalen Redakteurs angeklagt. Dieser hatte die Demokraten als Vaterlandsverräter bezeichnet und ich hatte heftig erwidert, worauf er Strafantrag stellte. Bei der Gerichtsverhandlung sah ich, wie den Nationalliberalen der Kamm geschwollen war. Der klägerische Anwalt stellte den Satz auf: »Die Demokraten sind Vaterlandsverräter« und suchte dies mit einem Schwall geschwollener Phrasen zu »beweisen«. Der Vorsitzende, der mich gut kannte, ließ dies zu. Ich wurde zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt; diese Strafe wurde später durch geschickte Verteidigung eines Konstanzer Anwalts auf 8 Tage reduziert, schließlich aber mit Zustimmung des Klägers mit Geld abgemacht, was damals zulässig war.

Nun hieß es für mich eine andere Stellung finden. Das war damals nicht sehr schwer, denn es fehlte an brauchbaren Journalisten. Meine Freunde waren mir behilflich. Wir entdeckten, daß am »Schwarzwälder Boten« in Oberndorf am Neckar ein Redakteur gesucht wurde. Ich meldete mich und Stadler, Dr. Stizenberger und Dr. Szuhany gaben mir die wärmsten Empfehlungen dazu. Der »Schwarzwälder Bote« galt damals als demokratisches Blatt im Sinne der württembergischen Volkspartei. Ich erhielt von dem Besitzer, Herrn Brandecker, sogleich eine zusagende Antwort und wurde ersucht, in Villingen mit ihm zusammenzutreffen, um den Anstellungskontrakt abzuschließen.

Der »Schwarzwälder Bote« war ein sehr verbreitetes und sehr einträgliches Blatt; sein Besitzer galt als ein schwer reicher Mann. Ich erstaunte daher nicht wenig, als ich in Villingen ein kleines vertrocknetes Männlein, nach Kleidung und Haltung einem Dorfschulmeister aus dem Hinterwald vergleichbar, vorfand, das sich mir als Brandecker zu erkennen gab. Aber es folgte eine sehr angenehme Enttäuschung. Das Männlein entfaltete zwei Bogen größten Kanzleiformats, auf denen ganz oben rechts in der Ecke mit ungelenker Schrift geschrieben stand: »Herr Blos erhält 1000 Gulden Gehalt, dazu Wohnung, Heizung, Beleuchtung, Wäsche und Frühstück.«

Das war ein Aufstieg! Für jene Zeit und für einen jungen Mann von 21 Jahren war das ein glänzendes Einkommen. Ich unterschrieb mit vor[72] Freude zitternder Hand und dankte Brandecker, den ich so von seiner besten Seite kennen gelernt. Wir machten aus, daß ich zu Anfang Januar meine Stellung in Oberndorf antreten sollte.

Als ich nach Konstanz zurückfuhr, war ich über alle Maßen glücklich. Frei, selbständig, auf niemanden angewiesen, so kam ich mir vor. Ich dachte nicht daran, daß ich mich einem kapitalistischen Betrieb verpflichtet hatte, dessen Schattenseiten ich erst noch kennen lernen sollte.

Der gute alte Stadler gab mir noch einige Tage frei, die ich natürlich in Überlingen zubrachte. Dort hatte ich noch ein merkwürdiges Erlebnis. An einem Sonntag abend spät ging ich; nachdem ich bei meiner Braut gewesen, in den Gasthof zum Wilden Mann, um mich zur lustigen Tafelrunde des Stadtrechners zu gesellen. Im vorderen Zimmer machte gerade ein »Siegeslümmel«, ein betrunkener Lithograph namens Sulger, einen großen Lärm und schimpfte von einem Stuhl herab über die »verkommene Nation«, die Franzosen. Als ich durch das Zimmer ging, deutete er auf mich und rief: »Das ist auch so ein Franzosenfreund und Vaterlandsverräter!« Ich antwortete ihm nur mit einer verächtlichen Gebärde und achtete weiter nicht auf ihn. Solcher franzosenfressenden Arbeiter gab es damals ungemein viele. Bald darauf wollte Sulger nach Hause, stürzte in seinem Rausche die steile Wirtshaustreppe hinab und war sofort tot; da er das Genick brach. Es gab eine große Aufregung; ich half den Leichnam auf einer Leiter nach der Polizeiwache tragen, wobei ich blutige Flecken auf meine Kleider bekam. Das wurde benützt, um mich zu denunzieren, ich hätte den Sulger die Treppe hinabgeworfen, nachdem ich mit ihm gerauft. Die Denunziation, die von der Geliebten des Sulger ausgegangen sein soll, hatte natürlich keine weitere Wirkung.

Wie weit die Anmaßung von Leuten, die sich als »Patrioten« hervortun wollten, damals manchmal ging, zeigte sich so recht, als ich mit meinem Freunde Szuhany beim Abschiedsschoppen saß. Dazu kam, wenn ich recht weiß, der Bruder eines badischen Offiziers, der 1849 zur Revolutionsarmee übergetreten war, aber beim Heranrücken der Preußen sich zu diesen begeben und dabei die Pferde und die Epauletten Sigels mitgenommen hatte. Der Bruder dieses Überläufers war Kontrolleur oder etwas dergleichen beim Zollamt und kannte mich von dort. Als er mich mit dem verhaßten Demokraten Szuhany zusammen sah, rief er in großväterlichem Tone: »Kehren Sie zur bürgerlichen Gesellschaft zurück; Sie haben noch Zeit, ein ordentlicher Mensch zu werden!« – Erst dachte ich den Menschen zu ohrfeigen, dann aber lachte ich aus vollem Halse, Szuhany lachte mit und wir lachten die Schreiberseele zum Lokal hinaus. Er predigte draußen auf der Straße noch weiter; Szuhany aber meinte, so »kannibalisch wohl« sei ihm schon lange nicht gewesen, wie nach diesem befreienden Lachen.

Ich hatte um diese Zeit alle die Sorgen und Kümmernisse, mit denen man meine Jugend belastet, völlig abgeschüttelt und reckte mich kräftig empor; auch mein Humor, der mich in den schwierigsten Lebenslagen nicht[73] verlassen hat, kam zur vollen Geltung. Eine neue Bahn war mir eröffnet und ich drang frischen Mutes vor. Aber dennoch war ich tief bewegt, als ich, nachdem ich von meiner Braut und von meinen Freunden Abschied genommen, über den See von dannen fuhr. Man gewöhnt sich leicht an den Bodensee und fühlt sich wie an heimatlichen Gestaden. Darum ward mir der Abschied schwer. Auch fragte ich mich, ob ich überall so treffliche Freunde finden werde.

Vom Bug des Dampfers schaute ich in den stürmisch bewegten See hinein. Zu Hunderten rollten »die Schäf« um das Schiff, als wollten sie mir eine stürmische Zukunft ankündigen.3 Aber ich steuerte ja einem sicheren Port zu.

Als ich ans Land stieg, nahm ich die Mannheimer »Neue Badische Landeszeitung« zur Hand, die damals von dem bekannten Demokraten Dr. Josef Stern redigiert wurde. Dort wurde das Eingehen des »Konstanzer Volksfreund« gemeldet und zum Schlusse hieß es:

»Drei Salven über das Grab des braven Kameraden!«

Ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß mir die Tränen in die Augen traten.

Fußnoten

1 Ihre Tochter heiratete einen Grafen Douglas und von diesem ging die Mainau 1853 in den Besitz des Großherzogs Friedrich von Baden über.


2 Die letzte Hoffnung ist das Militär.


3 Schäf – so viel wie Schafe – werden die weißen Rämme der Wellen von den Anwohnern des Bodensees genannt.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 1. Band. München 1914, S. 75.
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