Das Norddeutsche Wochenblatt

Inzwischen war in Bremen unter den Parteigenossen der Wunsch entstanden, es mit der Gründung eines Arbeiterblattes zu versuchen. Die Sache hatte unter den damaligen Zeitumständen ihre nicht geringen Schwierigkeiten. Zunächst waren die vorhandenen finanziellen Mittel natürlich gering. Sodann mußten die Vorverhandlungen und Vorbereitungen geheim bewerkstelligt werden. Dies wurde um so schwieriger, als auch die Bremen naheliegenden Städte Bremerhaven. Wilhelmshaven und Verden zu dem Unternehmen herangezogen werden sollten. Wurde eine der vielen geheimen Konferenzen, die in Hinterstuben bei verschlossenen Türen, im Walde mit ausgestellten Posten, auf Kegelbahnen und zwischen den Deichen abgehalten werden mußten, von der Polizei überrumpelt und ihr Zweck entdeckt, so war mit tötlicher Sicherheit zu erwarten daß dem neuen Blatte bei seinem Erscheinen sogleich der Kragen umgedreht wurde.

Das schlimmste Hindernis aber waren die Zwistigkeiten unter den Parteigenossen, die namentlich von einigen aus Berlin und Hamburg ausgewiesenen Leuten geschürt wurden. Diese kehrten die Erbitterung, die sie wegen ihres Schicksals empfanden, gegen ihre Gesinnungsgenossen, statt gegen den gemeinsamen Feind. Leider gab es auch damals schon manche, die ihre persönlichen Neigungen und Abneigungen dem Gesamtinteresse der Partei nicht unterzuordnen vermochten.

Indessen wurden alle Schwierigkeiten überwunden. Es gab in Bremen einen Stamm tüchtiger Parteigenossen – ich nenne Imwolde, Steinebach und Weddingfeld in erster Linie – die sich nicht irre machen ließen, desgleichen in Wilhelmshaven, wo die Parteigenossen Hug, der heutige Landtagsabgeordnete, Kühn, Morisse und Bümmerstede mit uns eifrig zusammenarbeiteten. Die Nachbarstädte Verden und Bremerhaven schlossen sich uns nicht mit dem gewünschten Eifer an.

An Intrigen fehlte es auch nicht. Da bekannt geworden, daß mir die Redaktion des neuen Blattes übertragen werden sollte, verschafften sich unsere Widersacher von einer Persönlichkeit, die früher in einem Parteiamt gewesen und jetzt mit mir verfeindet war, eine Bescheinigung, daß ich nicht zur Partei gehöre. Das war angesichts der Tatsache, daß ich zur sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gehörte, recht albern, aber es wurde mit diesem »Sittenzeugnis« doch eifrig gearbeitet. Durch eine kleine Kriegslist verschaffte ich mir den Wisch und legte ihn der Fraktion vor, die das Erforderliche veranlaßte.

Ich glaube solche an sich unbedeutende Dinge nicht verschweigen zu sollen, weil sie zeigen, zu welch seltsamen Ausläufern die Wirkungen des[41] Sozialistengesetzes damals gelangen konnten, da der Partei die öffentliche Organisation fehlte.

Pfingsten 1882 fand im Hasbruch, dem oldenburgischen Urwald im Amte Delmenhorst, unter mächtigen alten Eichen, wo uns keine Polizei suchte, die Konferenz der Bremer und Wilhelmshavener Parteigenossen statt, welche die Herausgabe einer Wochenschrift beschloß. Der von mir vorgeschlagene Name: »Norddeutsches Wochenblatt« wurde angenommen, und ich wurde zum Redakteur bestimmt. Am 2. August 1882 erschien die erste Nummer des neuen Blattes in Groß-Lexikon-Format, acht Seiten stark.

In der zu Rüstringen 1913 erschienenen Festschrift zum 25jährigen Bestande der Buchdruckerei Paul Hug & Comp. wird geschildert, wie das heute in Rüstringen erscheinende »Norddeutsche Volksblatt« aus dem Bremer »Norddeutschen Wochenblatt« hervorging. Dort heißt es über die Aufnahme, die das neue Unternehmen fand:

»Die Probenummer, gedruckt bei Guthe in Bremen und redigiert von Wilhelm Blos, befriedigte die Stürmer und erbitterten Kämpfer nicht. Der Ton war ihnen zu sanft und die Leitartikel etwas zu wissenschaftlich, das Feuilleton nicht unterhaltend genug. Nichts destoweniger wurde für das Blatt agitiert und Abonnenten und Inserenten geworben. Das Ergebnis der Agitation mit der ersten Nummer waren etwa 300 Abonnenten. Den Neulingen in der Gemeinde schien der Erfolg winzig, denen, die die Verhältnisse kannten, war er vielversprechend. Doch fand noch manche geheime Konferenz statt, bis der Erfolg des Blattes gesichert war. Es waren nicht nur das Sozialistengesetz und die Mängel in der Ausstattungs- und Erscheinungsweise, welche die Werbekraft des Blattes beeinträchtigten, sondern auch die Gegnerschaft innerhalb der Partei. Sie war besonders unter den aus Hamburg-Altona ausgewiesenen Arbeitern vorhanden, die sich in Bremen niedergelassen hatten. Diese Gegnerschaft, sowie die anderen Schwierigkeiten wurden überwunden.«

Das Blatt resp. die Redaktion hatte sonach vor sich die politischen Gegner und die Polizeigewalt, während ihm die »Stürmer und erbitterten Kämpfer« in den Rücken fielen.

Es war die alte Geschichte. Wollte das Blatt bestehen, so mußte es die vom Sozialistengesetz gezogenen Grenzen beobachten; allerdings war es auch so stets in Gefahr, verboten zu werden, wenn die Polizei die entsprechende Laune überkam. So hatte die Krittelei, die nun einmal die Liebhaberei verschiedener Leute ist, immer ein geeignetes Objekt.

Hier muß einmal die merkwürdige Erscheinung berührt werden, daß fast alle Leute glauben, vom Zeitungswesen etwas zu verstehen. Obwohl der journalistische Beruf genau so erlernt werden muß, wie ein anderer, so glauben doch unendlich viele Leute, ohne weiteres in eine Redaktionsführung hineinreden resp. den Redakteur belehren zu können. Würde sich aber umgekehrt ein Journalist erdreisten, eben diese Leute über deren eigene[42] Berufstätigkeit belehren zu wollen, so würden sie in die höchste sittliche Entrüstung geraten und die Belehrung energisch zurückweisen.

Die Krittelei an den Redaktionen wird allerdings oftmals herausgefordert, indem es – und zwar in allen politischen Parteien – Redakteure gibt, welche die zu einem modernen Redaktionsbetrieb erforderliche Übung und Gewandtheit nicht besitzen und denen es auch an anderen Eigenschaften gebricht, welche dieser Beruf verlangt. Gerade unter diesen Elementen finden sich wieder solche, deren Selbstbewußtsein durch ihre Stellung so ungemein gesteigert wird, daß sie ihren Schreibebock als den Richterstuhl der Weltgeschichte betrachten, auch wenn es sich dabei nur um irgend ein Lokalblättchen handelt. –

Wir konnten zu jener Zeit eine dankbare Aufgabe in unserem Blatte erfüllen, nämlich die besonderen wirtschaftlichen Verhältnisse Bremens beleuchten. Diese waren ganz eigener Art durch den ungeheuren Auswandererstrom, der sich damals in die großen Hafenstädte ergoß. Man kann sich davon heute kaum mehr eine Vorstellung machen. Nach dem Berichte des deutschen Reichskommissärs für das Auswanderungswesen wurden damals über Hamburg, Bremen und Stettin befördert


1881 247,346 Personen, darunter 184,569 Deutsche

1882 231,557 Personen, darunter 169,034 Deutsche

1883 201,308 Personen, darunter 143,947 Deutsche.


Über Holland, Belgien und Frankreich ging ein vielleicht ebenso starker Auswanderungsstrom aus Deutschland.

Ich veröffentlichte damals eine Schilderung des mit der Auswanderung verbundenen Lebens und Treibens in Bremen und gebe das von mir Aufgefaßte zum Teil wieder, da es vielleicht nicht ohne kulturhistorischen Wert ist ...

Am Bahnhof beginnts. Die Züge brausen heran, dicht gefüllt mit Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, namentlich die Personenzüge mit vierter Klasse. Eine dichte Masse entsteigt den Wagen, wie ein Ameisenhaufen durcheinanderwimmelnd und den Bahnsteig erfüllend. Die Passagiere der ersten und zweiten Wagenklasse entfliehen eiligst dem Lärm und Dunst des Auswandererschwarmes; ihnen bietet das Vaterland noch Annehmlichkeiten genug, um nicht auswandern zu müssen, während in der Masse sich fast lauter Leute befinden, die zwar in der Heimat für die besitzenden Klassen des Mehrwerts die Fülle geschaffen, bei der kärglichen Ablohnung aber nicht haben bestehen können. Die Auswanderer, von denen ein großer Teil nicht deutsch kann, suchen sich indessen zurechtzufinden und werden von den Bahnbeamten dem Ausgang zugewiesen, wo ihrer die »Auswanderungswirte« harren. Letztere dürfen den Bahnsteig nicht betreten, weil manche von ihnen die Passagiere zu sehr belästigt haben. Nun, die Schäflein entgehen ihnen doch nicht, denn die Auswanderer haben alle eine farbige Karte in der Hand oder auf den Hut gesteckt, wo der Name des Gasthauses verzeichnet ist, an das sie vom[43] Agenten gewiesen wurden. So erkennt jeder Wirt leicht die Seinigen und sammelt sie um sich. Es gibt auch viel Tumult und Durcheinander, bis das Gepäck von allen in der großen Güterhalle untergebracht ist. Dann setzt sich jeder einzelne Wirt mit seinen Gästen in Marsch, an der Spitze der Kolonne einherziehend. Beim Vorbeimarsch haben wir Gelegenheit, uns die »Europamüden« etwas näher anzusehen.

Zunächst die Deutschen. Da sehen wir den kräftigen Schleswig-Holsteiner, der mit seiner »Deern« fortgeht, weil der Verdienst so schlecht geworden; den Mecklenburger, den die Konkurrenz der schwedischen Taglöhner forttreibt, den Sachsen, den Thüringer und den Schlesier, denen man die Not an den hageren Gesichtern ansieht und die meinen, daß es ihnen schlechter als am heimatlichen Webstuhle drüben auch nicht gehen könne, höchstens besser; den schwäbischen und pfälzischen Bauer, der sich nicht länger mit den Hypothekengläubigern herumschlagen mag, und den Bayern, der die Hoffnung hegt, daß es drüben auch »a Bier« gibt. Aber es sind nicht lauter Deutsche. Da kommen der »Böhmak« und der Slovak mit ihrem charakteristischen Äußeren und der zahlreichen Kinderschar; die Weiber mit den roten Kopftüchern und den frühgealterten Gesichtern tragen meist das jüngste Kind in einem Tuche auf dem Rücken; da kommen polnische und russische Juden, Ungarn, Kroaten, Dalmatiner, Bosniaken, Rumänen und Zigeuner. Es ist ein Sprachengewirr wie beim babylonischen Turmbau.

Beim Gasthause angelangt, wird das Handgepäck in den Gaststuben niedergelegt, und ein Teil der Auswanderer geht, sich die Stadt zu besehen und Einkäufe zu machen, während andere, namentlich die Frauen und Kinder, auf der Hauptstraße und dem Vorplatz des Gasthauses sich lagern und entweder dumpf vor sich hinbrüten oder neugierig in den Straßenverkehr der Hafenstadt hineinstarren. Die Böhminnen, Russen und Zigeunerinnen machen dabei sehr ungeniert Toilette. Den Deutschen sieht man an, daß sie mit Sorgen der »neuen Welt« zustreben; die Slaven und Südländer zeigen dies weniger. Aber alle haben Hoffnung, drüben das ersehnte »Glück« zu finden. Ach, wie wenige finden in der Tat das, was man »Glück« nennt!

Man hat nun auch Gelegenheit zu beobachten, daß die meisten der Auswanderer gar nicht schlecht mit Geldmitteln versehen sind. Das läßt sich denken; der Bauer hat den Betrag für sein verkauftes Gütchen in der Tasche, andere haben lange für die Auswanderung gespart, und es sind überhaupt nicht die Allerärmsten, die auswandern, denn diese müssen dableiben. Auf die Geldmittel der Auswanderer wird von allen Seiten spekuliert. Schon die Geldwechsler machen ihren Schnitt und die Wirte erst recht. Alle größeren Wirte haben beim Gasthause auch einen Laden eingerichtet, in dem alle Waren, deren die Auswanderer bedürfen, zu haben sind, was auch nicht verhindert, daß auch sonst in der Stadt noch eine Unzahl von Geschäften vorhanden ist, die alle für die »Bedürfnisse« der Auswanderer sorgen wollen. Diese kommen meistens mit dem guten[44] Vorsatz, möglichst wenig Geld auszugeben. Allein das verführerische Warenangebot ist zu groß, und die meisten werden unversehens einen Teil ihrer Mittel los. Denn zunächst müssen doch die »Utensilien« zur Überfahrt angeschafft werden, eine Matratze, eine Decke und ein Kissen, wenns geht; dann etwas Geschirr mit Messer. Gabel, Löffel u. dergl. Denn der Auswanderer hat für die Ehre und das Vergnügen, im Zwischendeck zu fahren, noch die Pflicht, sich mit diesen »Utensilien«, die sogar das Gefängnis umsonst liefert, auf seine Kosten selbst zu versorgen.1

Aber solch ein reich ausgestatteter Laden »für Auswanderer« in verlockend. Der Süddeutsche will nicht ohne einige Flaschen Wein, der Norddeutsche nicht ohne etwas Rum oder Arrak hinüber. Alles ist zu haben und keineswegs billig. Da sieht ein lustiger Bauernbursch eine große Harmonika, wie er sie im heimatlichen Dorf abends unter der großen Linde am Brunnen gespielt hat und nach der die Dorfschönen so flink getanzt haben. Ihm wird wehmütig uns Herz und die Harmonika muß her, damit er sich auf dem Schiff und nachher drüben die Grillen vertreiben kann. Auch Spieldosen werden verkauft, darunter sehr große und wertvolle. Ich kam einst in ein solches Geschäft und sah einen Vorrat großer Spieldosen oder Orgeln, auf denen Preise bis zu hundert Mark verzeichnet waren. »Das alles wollen Sie an die armen Auswandere absetzen?«, frug ich erstaunt. »Gewiß«, war die Antwort »davon setzen wir in einer Woche ein Dutzend ab.«

Tabakspfeifen, Zigarrenspitzen mit und ohne Meerschaum, kurz eine Menge von Luxusgegenständen werden in diesen Lokalen zu keineswegs niedrigen Preisen abgesetzt und zwar in großen Massen. Besonders stark ist der Absatz von Waffen und Munition. Dabei kann man sich die sonderbaren Vorstellungen vergegenwärtigen, die sich zurzeit noch immer so viele Auswanderer von Amerika machen. Viele schleppen alte rostige Flinten und Pistolen, manchmal mit Radschlössern, mit hinüber. Auch Revolver werden viel gekauft, da man von reisenden Prahlhänsen gehört hat, daß drüben bei jeder Gelegenheit der Revolver entscheide. Viele große Hunde sieht man bei den künftigen Bürgern der »Neuen Welt«. Das sind die Romantiker, welche glauben, gleich hinter Newyork gingen die großen Prärien an, wo noch die Rothäute hausen und wo man mit Leichtigkeit nicht nur Wildbret und Geflügel, sondern auch Büffel erjagen kann. Wenn da in der »Ansiedelung« – denn davon träumen die meisten – frühmorgens noch kein Braten vorhanden, so nimmt der treusorgende Familienvater die alte Büchse mit Rad- oder Steinschloß und kehrt mit einem delikaten Büffel- oder Hirschbraten noch zeitig genug zurück, daß Mama ihn zu Mittag fein herrichten und auf den Tisch bringen kann. Das ist nicht übertrieben; ich habe sonst ganz vernünftige Leute gehört, die ähnliche, total irrige Vorstellungen hatten und die sich auch demgemäß einrichteten.2[45]

Die Auswanderer werden von den Agenten, die ihre Reise vermitteln, an einen bestimmten Gasthof verwiesen; der Agent bezieht dafür eine Provision. Sie sind vollkommen gebunden. Indessen sind es meistens Leute, die zum ersten Male eine größere Reise machen und die froh sind, an einen Wirt gewiesen zu sein, von dem sie das Nötige erfragen können. So müssen sie es eben über sich ergehen lassen, wenn sie in ein Gasthaus geraten, wo es teuer und schlecht ist, denn die Auswanderer-Gasthöfe sind sehr verschieden. Die Lage der Auswanderer bringt es mit sich, daß sie von anmaßenden Wirten oft sehr schlecht und hochmütig behandelt werden. Sie werden eben nicht als vollberechtigte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft angesehen. Mir selbst ist es begegnet, daß ich von einem frechen, noch nicht hinter den Ohren trockenen Kerl, dem Sohn eines solchen Wirtes, von oben herab gefragt wurde, als ich in die Gaststube trat: »Wollen Sie auswandern«. Hätte ich bejaht, so wäre ich sicher unhöflich behandelt worden.

Der Reichskommissär berichtete damals über Sanitätsmaßregeln in den Auswanderer-Gasthöfen. »Es sind da, wo es dringend notwendig war, die Niedergänge von den oberen Etagen vermehrt worden, und die Holzwände haben einen Kalküberwurf erhalten. Ferner sind Änderungen über die nächtliche Bewachung und Erleuchtung der Häuser, über die Türverschlüsse und darüber getroffen worden, daß die Zahl der Personen, welche nach den Bestimmungen der Behörde in jedem Zimmer beherbergt werden dürfen, auf der äußeren Seite der Tür in sichtbarer Weise vermerkt sein muß, wodurch die Kontrolle darüber, ob die einzelnen Räume nicht überfüllt sind, bedeutend erleichtert wird. Endlich ist auch noch angeordnet, daß in den unter dem Dache befindlichen Räumen niemand logiert werden darf.«

Früher hatten sich die Behörden hauptsächlich darum bekümmert, daß den Auswanderern die nötige Seelsorge zuteil wurde; daneben ließ man die schlimmsten Übelstände bestehen, wie aus dem Bericht des Reichskommissärs zu schließen. Den Wirten war es so schon recht. Nun aber schrien sie über »Freiheitsbeschränkung«. –

Viele hielten die enorme Steigerung der Auswanderung für eine Wirkung der Tätigkeit der Auswanderungsagenten. Aber – so sagte ich damals – die Auswanderung ist keine künstliche Bewegung. Sie steigt und fällt in einem gewissen Verhältnis zu den ökonomischen und politischen Zuständen diesseits und jenseits des Ozeans. Die Tätigkeit der Agenten kann Ebbe und Flut der Auswanderung nur in geringem Maße beeinflussen. Ein Einfluß wird indessen ausgeübt und zwar häufig ein unheilvoller. Es werden Nachrichten über gewisse Gegenden verbreitet, als ob dort die Verhältnisse so günstig seien, daß den Ansiedlern die gebratenen Tauben in den Mund flögen. Viele haben sich verlocken lassen und haben dann grausame Enttäuschungen erlebt. Man sah damals solche Enttäuschte tausendweise zurückkommen.[46]

Auch unter den Parteigenossen und den ihnen nahestehenden Kreisen gab es nicht wenig Leute, die zum Auswandern geneigt waren. Es war eine Zeit der wirtschaftlichen Kalamität, und dazu kam der Druck des Sozialistengesetzes. Viele gingen damals über den Ozean. Mir wurde auch nahe gelegt, eine Auswanderungsbewegung mit in Fluß bringen zu helfen, mit welcher allerlei phantastische Projekte von sozialistischen Kolonien und dergleichen verknüpft wurden. Ich lehnte das entschieden ab und betonte, daß ich es dem einzelnen nicht übel nehmen könne, wenn er auswandere, weil er die Bedrängnis der heimatlichen Zustände nicht mehr abwehren könne; im ganzen aber erfordere es das Parteiinteresse, daß die Parteigenossen im Lande blieben und den Kampf gegen die herrschende Reaktion fortsetzten. Die Freiheit im Urwald war mir ohnehin etwas Problematisches. Es mag viele Naturen geben, denen sie allein zusagt; mir schien indessen das Wort von Ludwig Pfau zutreffend:


»Mag auch durch Wälder todesstill

Der Sturmchoral der Freiheit brausen –

Doch wer sie recht genießen will,

Der muß als Mensch bei Menschen hausen.«


Immerhin bewirkten diese Dinge, daß eine bedeutende Auswandererfirma sich an mich wandte und mich zu bewegen suchte, mitzuwirken, daß ein Auswanderungsstrom von Deutschland nach Uruguay gelenkt werde. Man sagte mir, die Regierung dieser südamerikanischen Republik sei sehr darauf bedacht, ackerbautreibende Kolonisten in ihr dünnbevölkertes Land zu ziehen. Einzelne Leute waren auch dafür gewonnen, welche den Kern einer größeren deutschen Ansiedelung bilden zu können hofften. Ich beschloß die Gelegenheit wahrzunehmen, mich über die dortigen Verhältnisse möglichst genau zu informieren, was von Vorteil für solche Parteigenossen sein konnte, die unbedingt zur Auswanderung gezwungen waren, falls nämlich wirklich günstige Bedingungen dort geboten wären.

Um diese Zeit war der alte Garibaldi gestorben, und ich hatte mich viel mit seiner abenteuerlichen, romantischen Vergangenheit beschäftigt. In diesen Memoiren schildert er anschaulich, wie er in Uruguay an der Spitze der italienischen Legion und der Marine einen außerordentlich kühnen Kampf gegen Rosas, den blutigen Diktator von Buenes Aires, geführt hat. So interessant dieser Heldenkampf ist, in dem eine nicht geringe Anzahl von nachher auftretenden 1848er Revolutionären sich ihre Sporen verdienten, so kläglich erschien mir auch in Garibaldis Darstellung das ganze Staatswesen in Uruguay. Dieser Eindruck wurde nicht verbessert, als mir auf Veranlassung der erwähnten Auswandererfirma eine Denkschrift der Regierung von Uruguay zuging, worin sie die Bedingungen für deutsche Ansiedler mitteilte. Es wurde ihnen Landbesitz in Aussicht gestellt, dessen Erwerb nicht allzuschwer war, aber die Ansiedler sollten von den politischen Rechten der Eingebornen ausgeschlossen sein. Eine Unterredung, die ich mit dem Generalkonsul von Uruguay in[47] Berlin hatte – er besuchte dort die Universität – ließ mir die Sache nicht in vorteilhafterem Licht erscheinen. Gleich darauf traf ich meinen Freund und Landsmann Amand Goegg, der auf seiner schon erwähnten, in Hamburg angetretenen großen Reise auch Uruguay besucht hatte. Er lachte hell auf, als ich ihm von der Denkschrift der Regierung erzählte. Die Regierung habe gar kein Land, sagte er; alle die Landstriche, die vielleicht zur Kolonisation geeignet seien, befänden sich in den Händen großer europäischer Kaufleute. Das Schlimmste aber seien dort die sich so häufig wiederholenden »Revolutionen«, die weniger politische als räuberische Unternehmungen seien. Wenn ein »revolutionärer« General Truppen gesammelt habe, um gegen die Hauptstadt vorzudringen, so nehme er auf seinem Marsche alles, was er brauchen könne, an sich. Er wurden zwar mit anerkennenswerter Gewissenhaftigkeit für alle bei diesen Requisitionen geraubten Gegenstände »Bons« ausgestellt, allein diese Bons hätten leider sämtlich den Fehler, daß sie niemals eingelöst würden.

Damit war die Sache für mich erledigt.

Am 19. August 1881 trat in Zürich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zu einer außerordentlichen Beratung zusammen, die drei Tage dauerte. Es sollten dort behandelt werden:

Fragen der Taktik, Organisationsangelegenheiten, bessere Regelung der Flugblätterverbreitung, Stand und Haltung des Parteiorgans, Verhalten zur deutschen Presse, Errichtung eines Parteiarchivs, Kassenangelegenheiten, Entscheidung über den geeigneten Zeitpunkt für einen Parteikongreß, Beschwerden usw.

Man sieht, daß die Fraktion die Rolle der Parteileitung vollständig übernommen hatte. Zu dieser Beratung mußten auch einige andere Parteigenossen, sowie die Redaktion des Parteiorgans herangezogen werden. Darum traten wir im Auslande zusammen und zwar in dem sogenannten Weinschlößchen, das über Hottingen bei Zürich lag. Die Debatten wurden manchmal sehr hitzig; indessen gab es in allen wesentlichen Punkten keine tieferen Differenzen. Es wurde die Gründung des Parteiarchivs beschlossen, sowie die Einberufung eines Kongresses der deutschen Sozialdemokratie, der im Ausland tagen sollte. Der »Sozialdemokrat« sagte in seinem Bericht:

»Allseitig trat die Überzeugung zutage, daß die deutsche Sozialdemokratie so einig und kampfbereit als je den ihr gestellten Aufgaben gegenübersteht.«

In Zürich machte ich zwei interessante Bekanntschaften. Ich wurde dem Herrn von Beust vorgestellt, der in Zürich ein Erziehungsinstitut besaß. Er war ein stattlicher alter Herr mit langem weißem Bart und hatte als Artillerieoffizier den Dienst in der preußischen Armee mit dem in der badischen Revolutionsarmee von 1849 vertauscht, hatte sich im Gefecht von Ubstadt ausgezeichnet und war in der Schweiz unserer Partei nahegetreten. Auch mit dem bekannten ostpreußischen Steuerverweigerer John Reitenbach-Plicken wurde ich bekannt, der das »Junkerparadies«[48] seiner Heimat mit der republikanischen Freiheit der Schweiz3 vertauscht hatte.

Den Bremer und Wilhelmshavener Parteigenossen erstattete ich Bericht über diese Verhandlungen und zwar wiederum im oldenburgischen »Urwald« des Hasbruch unter der uralten »Amalieneiche«. Ich stand dabei in der Höhlung des mächtigen Baumes, während die rings auf dem Waldgrün lagernden Genossen lauschten.

Der Rückmarsch durch den Wald machte uns einen so gewaltigen Appetit und Durst, daß in dem kleinen Restaurant zu Delmenhorst, wo wir einkehrten, binnen kurzem alle flüssigen und festen Vorräte aufgebraucht waren, da man auf einen solchen »Heuschrecken«-Einfall nicht vorbereitet war.

Mit Rührung erinnere ich mich an den Geist schöner Solidarität und Brüderlichkeit, der in dieser engen Gemeinschaft herrschte.

Inzwischen erhielt ich von dem Dietzschen Verlag der »Neuen Welt« in Stuttgart die Aufforderung, dahin überzusiedeln und mich der regelmäßigen Mitarbeiterschaft an diesem belletristischen Blatt, sowie anderen literarischen Arbeiten zu widmen. Ich schwankte lange, ob ich das mir so lieb gewordene Bremen verlassen solle. Aber die Stuttgarter Stellung bedeutete für mich eine pekuniäre Verbesserung, die mir noch weitere Aussichten eröffnete, und so nahm ich auf das Zureden verschiedener Freunde an. Der Parteigenosse Oehme, der bisher die Expedition des Blattes besorgt hatte, ein wohl befähigter Mann, übernahm die Redaktion des Blattes, dessen Schwerpunkt sich immer mehr nach Wilhelmshaven verschob. Schon vom April 1883 ab erschien es als »Norddeutsches Volksblatt« dreimal wöchentlich.«

Nicht vergessen soll eine interessante Bekanntschaft sein, die ich um diese Zeit machte. Auf der Hin- und Herfahrt zwischen Bremen und Berlin saß ich oft im gleichen Kupee mit einigen welfischen Abgeordneten, unter denen die bekanntesten Graf Bennigsen-Banteln und Langwerth von Simmern waren. Es ist Brauch, daß bei solch gemeinsamer Fahrt die Parteiunterschiede weniger oder gar nicht beachtet werden; nur einige reaktionäre Fanatiker schließen sich davon aus. Mit diesen Welfen unterhielt ich mich immer besonders vortrefflich. Langwerth von Simmern war ein sehr geschichtskundiger Herr, mit dem zu plaudern mir ein Genuß war. Der alte Graf Bennigsen-Banteln war 1848 Märzminister in Hannover gewesen, aber schon 185o zurückgetreten. Er war so »unbotmäßig«, dem König Georg V. in Dingen, die dessen persönliches Interesse berührten, zu opponieren, fiel in schwere Ungnade und wurde aus der Kammer ausgeschlossen. Die »preußische Spitze« stieß ihn ab, und er schloß sich der welfischen Partei an. Von seinem Neffen Rudolf von Bennigsen sprach er sehr geringschätzig. Wir blieben manchmal noch im Bahnhof zu Hannover zusammen, um noch ein wenig zu[49] plaudern. Er sagte mir, sein Vater sei der bekannte russische General Bennigsen, der bei Eylau und Friedland gegen Napoleon befehligte – »Sie wissen ja«, meinte er, »jener Bennigsen, welcher den Paul4 und dabei machte er lachend die Gebärde des Halsabschneidens. Seine Bemerkungen waren oft recht sein. Eines Tages sprachen wir im Kupee von Lothar Bucher, der jetzt die rechte Hand Bismarcks und von dem vergessen sei, daß er im Jahre 1848 zu fünfzehn Monaten Festung und zum Verlust der Nationalkokarde verurteilt worden. »Darf er die Nationalkokarde jetzt wieder tragen?« fragte Graf Bennigsen spöttisch.

1893 ist der interessante alte Herr gestorben, 84 Jahre alt.

»Sie hinterlassen eine Lücke«, sagte der Dichter August Freudenthal zu mir beim Abschied. Ich weiß nicht, wie viel dies Lob verdient war; das aber weiß ich, daß ich noch lange eine Art Heimweh nach Bremen und den dortigen Freunden empfand, auch als ich nach Süddeutschland gekommen war, wo sich doch meine eigentliche Heimat befand.

Zu Anfang 1883 traf ich in Stuttgart ein und ließ mich in dem nahen Cannstatt nieder. Kaum angekommen mußte ich wieder abreisen um mich zu dem Parteitag zu begeben, der nach Kopenhagen einberufen worden war.

Bald darauf verließ auch mein Freund Neißer Bremen. Innerlich längst der sozialistischen Weltanschauung nicht mehr zugetan, trat er in die Redaktion des »Hamburger Fremdenblattes« ein. Vor einiger Zeit ist er gestorben. Ich habe seiner immer mit Dankbarkeit gedacht.[50]

Fußnoten

1 Das ist inzwischen, namentlich beim Norddeutschen Lloyd, besser geworden.


2 Das ist nun über dreißig Jahre her. Diese Art Romantiker mag so ziemlich ausgestorben sein. Dafür gibt's andere Illusionen.


3 Zu dieser Freiheit muß man heute öfters ein Fragezeichen setzen.


4 Bennigsen war bei der Ermordung des wahnsinnigen Zaren Paul I. beteiligt.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 51.
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