XXI.

Zug nach Freiberg. Richard Wagner.

[118] In Freiberg langte ich mit etwa 2000 Mann aus der eingenommenen Stadt an. Heubner, das einzige Mitglied der provisorischen Regierung, das bis zum Moment der Ausgabe des Rückzugsbefehls im Rathaus ausgehalten, war in Freiberg, wo er zu Hause war, einige Stunden vor uns angelangt. Ich suchte ihn in seiner Wohnung auf. Als mir die Tür zu seinem Zimmer geöffnet wurde, in welchem sich mehrere mir unbekannte Personen befanden, nannte er mich. Da stürzte ein begeisterter Mann mit offenen Armen auf mich zu, küßte mich und brach in die glühenden Worte aus: »Nichts ist verloren! Die Jugend, ja die Jugend, die Jugend wird alles wieder gut machen, alles retten!« Es war Richard Wagner, der meine Ankunft in dieser Weise begrüßte, und er umarmte mich noch einmal. Ich hatte ihn nie vorher gesehen, ich war später häufig bei ihm in Zürich, ich sehe ihn immer noch vor mir in jenem Augenblick der ersten Begegnung. Wodurch eigentlich der königlich-sächsische Hofkapellmeister sich so kompromittiert hat, daß er die Flucht ergreifen mußte, weiß ich heute noch nicht. Ich habe ihn nie danach gefragt. Der sächsische Hof hatte besonderes Mißgeschick mit seinen berühmten Künstlern. Er verlor Gottfried Semper durch den Mai-Aufstand. Von Frau Schröder-Devrient habe ich schon gesprochen. Den Musikdirektor Röckel sah ich, von einer Kugel ins Bein getroffen, zusammenknicken. Er geriet als Verwundeter in Gefangenschaft und man schickte ihn mit Heubner ins Zuchthaus.

Ich sprach meine Absicht aus, in Freiberg, das mir zur Verteidigung sehr geeignet schien, einen Versuch weiteren Widerstandes zu wagen. Heubner bat mich, diesen Gedanken aufzugeben, von seiner Vaterstadt ein solches Unglück abzuwenden; er[118] selbst sei im Begriff, mit Wagner und anderen weiter zu ziehen, zunächst nach Chemnitz, dann ins Exil. Es sei für mich nun auch Zeit, an meine Sicherheit zu denken.

Wir drückten uns die Hand. Ich begab mich auf den Platz hinaus zu meiner bewaffneten Freischaar. Da ist auch Bakunin. Er zieht mich beiseite und redet auf mich ein, die jungen Leute über die Grenze nach dem nahen Böhmen zu führen. »Sie sind wohl toll?« rief ich erzürnt ihm zu. »Nach Böhmen sollen wir, zu Ihren Freunden, den Tschechen, die schon längst in den Dienst der Reaktion getreten sind!« »Man würde Euch mit offnen Armen aufnehmen,« erwiderte er. – »Man würde über uns herfallen und uns an die österreichische Regierung ausliefern,« erwiderte ich ihm, und darauf trennten wir uns.

Ich riet den aus Dresden abgezogenen Maikämpfern, sich in kleinen Trupps in ihre Heimat zu begeben. Ihnen würde man wenig anhaben, sagte ich, es gäbe sonst eine zu große Masse der Opfer. Nur auf die Führer werde man fahnden.

Sie zogen traurig ab. Das Gefühl der erfahrenen Niederlage drückte auf ihre Gemüter. Da erschien plötzlich ein Wagen. Heubner und Wagner saßen darin; zu seinem Unglück auch Bakunin, der überall sich unterzubringen wußte. Man hielt einen Augenblick in meiner Nähe, drückte mir die Hand, und ich, von einer bösen Ahnung plötzlich erfaßt, rufe ihnen zu: »Geht nur um des Himmels willen in Chemnitz nicht in einen Gasthof.« Heubner und Bakunin gingen aber doch in einen Gasthof und wurden in der Nacht von mutig gewordenen reaktionären Wehrmännern verhaftet, nach Altenburg gebracht und an die dort garnisonierenden Preußen ausgeliefert. Wagner nahm bei seiner Schwester Quartier und dies bewahrte ihn vor dem gleichen Schicksal.

Ich war allein in Freiberg zurückgeblieben. Die Sonne senkte sich zum Niedergang. Ein Postillon, der nach Dresden gefahren und mir versprochen hatte, in meine Wohnung zu gehen, und mir von dort so manches, dessen ich bedurfte, zu bringen, war noch nicht wieder erschienen. Als ich den letzten Kameraden verschwinden sah, wurde mir doch etwas unheimlich zu Mute. In einen Gasthof durfte ich nicht gehen. Dort wäre ich von den Verfolgern zuerst gesucht worden. Ich war einen Augenblick ratlos. Da trat ein junger Mann zu mir heran, er nannte sich, er war Student der Bergakademie, er bot mir freundlich ein Unterkommen in seinem[119] Zimmer an; er habe, sagte er, daran gedacht, mich zu sich zu bitten, als er mich so allein auf dem Platze stehen sah, während die anderen abzogen, meine Verabredung mit dem Postillion habe er mit angehört, der werde zu ihm kommen, ich müsse jetzt seine Gastfreundschaft annehmen, da ich gewiß sehr müde sei. Jetzt merkte ich in der Tat, daß ich sehr müde war, ich hatte seit dem 3. Mai nur eine einzige Nacht geschlafen und wir waren am Abend des 9ten. Jetzt fiel mir auch ein, daß ich seit dem Abend vorher, seit dem Kuchengeschenk des menschenfreundlichen Konditors fast nichts zu mir genommen hatte. Ich ging mit dem jungen Mann, dessen Name mir leider entfallen ist. Der Gute hatte für ein Abendessen gesorgt, und als ich mich erquickt hatte, legte ich mich aufs Sofa nieder, wo ich sofort in festen Schlaf versank. Ich hatte sein Bett nicht annehmen wollen, und der vortreffliche junge Mann hatte es dann auch selber nicht benützt. Er wachte über mein Wohl und Wehe.

Als der Morgen graute, weckte er mich. »Sie müssen fort«, rief er arg erschrocken, »die sächsischen Gardereiter sind eben in die Stadt eingezogen.«

»Ist es schon so weit? Gut, so muß ich fort.«

Unter der Kaffeemaschine flackerte die blaue Flamme. Als ich mich angekleidet und gewaschen hatte, war der Kaffee fertig, etwas Brot lag auch bereit. Wir frühstückten rasch. »Es ist toll«, sagte ich, »wogegen ich mich gestern gesträubt, einen Trupp Freiwilliger nach Böhmen zu führen, das muß ich jetzt für meine eigene Person tun. Das ist der einzige Weg, der mir wahrscheinlich noch nicht abgeschnitten ist. Ich nehme die Richtung nach Annaberg.«

Mein lieber Wirt wollte mich ans Tor begleiten, von dem aus die Straße nach Annaberg führt. Auf dem Wege dahin keine Menschenseele. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Als wir das Tor in Sicht bekamen, wurden wir gewahr, daß es von zwei Reitern gesperrt war. Es mochten wohl Rekruten sein. Sie schienen die Pferde, die sich unruhig hin und her bewegten, nicht in der Gewalt zu haben. »Leben Sie wohl und tausend Dank«, raunte ich meinem Begleiter zu. Im nächsten Moment war ich zwischen den zappelnden Pferden durchgeschlüpft. Ob die Reiter mich bemerkt haben, weiß ich nicht. Sie zerrten an ihren Gäulen, sie machten keine Anstalt, mich zu verfolgen.

So war ich bald auf der offnen Landstraße und schritt tapfer zu.[120] Ich war nie ein starker Fußgänger gewesen. Nach einer halben Stunde eifrigen Marschierens begann die Kraft zu erlahmen, was aus der ungeheuren Anstrengung der letzten Tage sich leicht erklärt. Ich setzte mich auf einen Steinhaufen, um mich auszuruhen. Ein Wagen rollte heran. Seine Insassen, ein junges Brautpaar, das merkte man ihnen an, hielten bei mir und fragten mich freundlich, ob ich mitfahren wolle. Ich nahm dankend an. Sie fuhren nicht ganz bis Annaberg, aber doch eine Strecke weit, um beim Herrn Pfarrer das Aufgebot zu bestellen. »Immer so viel gewonnen«, sagte ich mir. Ob sie in mir einen Flüchtling aus Dresden vermuteten? Möglich. Der Aufstand, wenn auch das ganze Land sich an ihm nicht beteiligte, hatte doch die Sympathien des ganzen Landes.

Voller Dank im Herzen für die wackern Leute zog ich weiter. Und siehe da, als ich wieder eine halbe Stunde gegangen war, stieß ich auf einen Zug unserer Dresdner Freischaren, der aus einem abseits von der Hauptstraße gelegenen Dorfe, wo die Leute die Nacht zugebracht und sich gründlich ausgeruht hatten, seine Heimfahrt nach Annaberg begann. Ich wurde sofort erkannt. »Sie dürfen nicht zu Fuß gehen, und wenn wir Sie tragen sollten«, riefen die jungen Leute mir zu. – »Das ist durchaus nicht nötig«, erwiderte ich ihnen. »Doch wenn Ihr noch einen Befehl, den letzten, von mir ausführen wollt, so begeben sich zehn Mann wieder zurück in das Dorf und requirieren auf meine Anordnung eine Anzahl gut bespannter Leiterwagen. Ihr seid ja bewaffnet.« Sie verstanden. Nach einer Viertelstunde waren so viel Wagen vorhanden, daß wir alle fahren konnten. Es hatte keines Zwanges bedurft. Die Bauern betrachteten es als eine Ehrenpflicht, uns nützlich zu sein. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Als wir in die Nähe von Annaberg gelangt waren, stiegen wir ab. Da war ich Zeuge einer ergreifenden Szene, die ich nie vergessen werde.

Die ganze Einwohnerschaft der Stadt kam ihren Söhnen entgegen. Sie hatten es drinnen erfahren, daß die braven Jungen aus Dresden nahten. Die Eltern, die Schwestern, die jungen Kinder, die Greise drängten sich um die Wiedergekehrten. »Ist Fritz, ist Hans auch da?« Man umarmte sich. In die Freude des Wiedersehens mischte sich die Trauer, daß nichts ausgerichtet worden. »Wir haben uns doch tapfer gehalten!« – vernahm ich, wie zum Troste für sich selber und die andern, manche Stimme aus dem wirren Menschenknäuel – »wir wollen es ihnen ein andermal[121] schon zeigen!« Ich drückte mich beiseite, ich war innerlich erschüttert. Da trat ein bejahrter Mann, den man an mich gewiesen, zu mir: »Ich heiße Kindermann«, sagte er, »ich weiß, Sie waren mit meinem Sohne Karl in Leipzig sehr befreundet. Er hat uns oft von ihnen geschrieben. Er ist nach Dresden gegangen. Haben Sie ihn gesehen? Wissen Sie etwas von Ihm?« – »Seien Sie ohne Sorge«, beruhigte ich den erregten Vater, »ich habe ihn kurz vor unserem Abzug gesehen, er war frisch und munter. Ich bin fest überzeugt, daß er nicht in Dresden geblieben ist. Er wird zunächst nach Leipzig zurückgekehrt und dann, wenn er nicht dort geblieben ist, etwas weiter nach Deutschland hinein gegangen sein. Auf einzelne junge Leute, auf Studenten, fahndet man sicher nicht.«

Der Mann verließ mich nun nicht mehr, er beruhigte sich in meiner Gesellschaft und ich mußte ihm zu guten Freunden nach Annaberg folgen. Am Abend wollte er dann mit mir in sein Heim an der böhmischen Grenze ziehen. Da sollte ich die Nacht bleiben und dann werde man weiter helfen. Wie man sieht, kamen mir in meiner gefährlichen Lage überall gute Menschen entgegen. Mit der sinkenden Sonne holte Herr Kindermann mich ab. Unser Weg führte durch einen schönen, in Lenzeswonne frisch grünenden Wald im Erzgebirge. Ich hatte mich in Annaberg während mehrerer Stunden ausgeruht, die Kräfte waren wiedergekehrt. Es war kein Marsch, es war ein erquickender Spaziergang, den wir machten. Keine Vogelstimme regte sich mehr in dem Gehölz, es war dunkel geworden, wir gingen plaudernd weiter. Ich hatte viel zu erzählen und der Mann hatte viel zu fragen. Jetzt hatten wir eine Höhe erreicht. Er blieb stehen. »Sehen Sie dort mein Haus«, sagte aufatmend mein Begleiter. »Die Frau hat die Lichter schon angezündet. Sie wird ängstlich auf meine Rückkehr warten.« Wir schritten jetzt stumm nebeneinander her auf dem mäßig abwärts sich ziehenden Wege. Als wir dem Hause nahe waren, horchte Herr Kindermann. »Warten Sie hier einen Augenblick«, sagte er leise, »es sind wie gewöhnlich um diese Stunde Grenzjäger bei mir. Sie trinken ihr Gläschen und spielen Karten dazu. Ich muß meine Frau von dem Besuch unterrichten, Sie müssen hier als ein Verwandter gelten, dann kümmern die Leute sich nicht um Sie.« Er verließ mich und war nur wenige Sekunden fort. »Kommen Sie nur herein, man hat uns schon lange erwartet«, rief er mir an der geöffneten Tür zu. Ich trat in ein sehr geräumiges Wirtszimmer,[122] aus dessen fernster Ecke mir eine freundliche Frau freudig aufgeregt entgegeneilte. »Seien Sie herzlich willkommen, lieber Vetter!« sagte sie und drückte mir die Hand. Rechts von der Tür, an dem einen Tisch nahe beim Fenster wurde es plötzlich still. Die Karten spielenden Grenzjäger schauten mich neugierig an, aber nur einen Augenblick, dann schallte es »Schellenbub und Kreuz und nochmals Kreuz und Trumpf Aß.« Ich saß in der entfernten Ecke neben der prächtigen Frau, die sich so plötzlich in ihre Rolle gefunden und mich als lieben Vetter begrüßt hatte, ohne mich jemals in ihrem Leben gesehen zu haben. O, die Not lehrt nicht nur beten, sie lehrt vielerlei. Ich erzählte meiner so schnell erworbenen Freundin und Beschützerin von ihrem geliebten Sohn. Sie war stolz auf ihn und sie hatte Grund dazu, ich habe selten einen gleichwertigen, geistig und körperlich so urgesunden und herrlichen Jüngling gesehen wie diesen Karl Kindermann. Mögen ihm diese Zeilen als ein warmer Freundesgruß gelten, wenn sie ihm zu Gesicht kommen sollten.

Wie ich später erfahren habe, ist er mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert.

Von ihm war natürlich an jenem Abend fast ausschließlich die Rede. Die Mutter hatte ein Nachtessen besorgt. Wir plauderten noch ein Stündchen, dann mußte ich mich in mein Zimmer begeben, denn am frühen Morgen sollte mein vortrefflicher Wirt mich über die Grenze ins Böhmerland führen.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 118-123.
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