In den Steinnußkopffabriken Schmöllns

[91] Außer mir wurde nur noch ein männlicher Bursche mit dem Auflegen beschäftigt und zwar ein gewisser Horst. Der war schon ein Jahr früher aus der Schule gekommen und erhielt 5 Mark Lohn wöchentlich. Durch ihn erfuhr ich die Bezeichnung der verschiedenen Farben, wie Blauholzextrakt, Gelbholzextrakt, Schmak, Bejo usw., die außer zahllosen giftigen Anilinfarben sämtlich zum Knopffärben nötig sind. Unser gefürchteter Vorgesetzter war der Färber Heinrich. So ein Färber verdient wöchentlich 24 bis 36 Mark. Er wird deshalb so gut bezahlt weil er die Zusammensetzung der Farben kennt und seine Rezepte niemanden mitteilt. Dieser Heinrich hatte aber infolge seiner Jugend, er zahlte erst 20 Jahre, keine Erfahrungen sammeln können. Die Rezepte hatte er lediglich seinem älteren Bruder zu verdanken, der ebenfalls Knopffärber war. Horst stand bei dem Färber gut. Er mußte ihm fast allwöchentlich 1 bis 2 Mal sein hohes Fahrrad putzen. Mich hatte der Färber jedoch vom ersten Augenblick an »gefressen«, und er hat mir böse mitgespielt.

Meine erste Beschäftigung war also, in Gemeinschaft mit drei 13- bis 14jährigen Mädchen und 2 verheirateten Frauen die Knöpfe, die meliert wurden, auf die Auflegebretter hübsch eng nebeneinander zu reihen War eine Anzahl fertig, so kam der Färber mit seinem Farbentopf, steckte einen Rohrbesen hinein und spritzte aus diesem die Farbe auf die Knöpfe. Sie wurden dann getrocknet und darauf in einen Bottich voll Kali gebracht, wodurch die Farbe nie wieder vom Knopfe zu entfernen war. Schwarze Knöpfe und überhaupt einfarbige, brauchten nicht aufgelegt zu werden, sondern[91] lagen erst im Wasser, wurden dann in der Farbe und schließlich im Kali gekocht und kamen dann nach der Poliererei zum Polieren, was auf zwei Arten, im Futter oder im Faß, geschieht. Das Melieren geschieht auf 3 Arten: durch die Mundspritze, durch den Besen oder im Kasten. Die ersten beiden Arten geschehen offen im Arbeitsraum. Wie es mit dem kleinen Handreißigbesen gehandhabt wird, habe ich schon geschildert. Die Mundspritze ist ebenfalls von primitivster Art. Ein kleiner Blechtopf ist mit Farbe angefüllt, oben ist eine Blechröhre quer über den Topf angelötet und von der sogenannten Schnepfe an läuft ein seines Röhrchen bis fast zum Grunde des Töpfchens. Der Melierer bläst nun in die obere Röhre hinein und bewirkt dadurch, daß die vordere Röhre als Saugheber funktioniert. Die heraufbeförderte Farbe wird aber sofort durch den Luftdruck aus dem Munde des Mannes in seinen Staub verwandelt, der sich dann auf die ausgebreiteten Knöpfe niedersetzt. Auf diese Weise werden meist Anilinfarben verarbeitet. Beim Kastenspritzen werden meistens Blauholzextrakt und derartige Farben verbraucht. Es ist da an irgend einer Ecke des Arbeitsraumes ein kastenartiger Verschlag angebracht, der circa 2–4 Quadratmeter faßt. An der eingelassenen Türe befindet sich ein kleines Schiebefensterchen. Wir Jungens stellten nun die mit Knöpfen belegten Bretter dahinein, sodaß der ganze Boden bedeckt war. Hierauf wurde an die Luftpumpe, die mit Dampf betrieben wird, ein Schlauch angeschraubt und dieser an einer, wie die Mundspritzen angefertigen Farbenspritze befestigt. Das kleine Schiebefensterchen wurde geöffnet und der Kastenspritzer hielt, während er die Luftpumpe in Bewegung gesetzt hatte, die Farbenspritze in den Kasten hinein, sie gleichmäßig nach allen Seiten bewegend. Nach etwa 15–20 Minuten schloß er den Schieber und die in Luftbläschen verwandelte Farbe setzte sich nun auf die Knöpfe herab. Ich muß noch nachbemerken, daß auf die Bretter Metallschablonen gelegt werden. Die Farbe kann nun sich nur auf solchen Stellen der Knöpfe festsetzen, die von den Schablonen nicht verdeckt sind. Selbstverständlich sind die Muster verschieden. Zu jener Zeit gab es vielleicht 3 bis 4000 Muster in den einzelnen Fabriken. Heute[92] ist die Zahl jedenfalls noch bedeutend höher. Im Kasten wurden die Auflegebretter etwa 1 Stunde stehen gelassen, dann geöffnet und die Schablonen herabgenommen. Man hatte nun die gemusterten Sachen vor sich. Sollte nun der Knopf zwei- oder dreifarbig werden, so wurden die Knöpfe, nachdem sie ordentlich trocken gemacht waren, nochmals aufgelegt und mit der Mundspritze oder dem Besen nochmals meliert. Nach diesem kamen sie wieder in den Kalibottich. Es wurde brauner und grüner Kali verwendet. Hier wurden die Farben fest und unverwischbar gemacht. Oft wurden dann die noch übrigen weißen Stellen des Knopfes schwarz oder bunt gefärbt, sodaß der Knopf dann vierfarbig aussah. Am schönsten wurden die kleinen Damenknöpfe, die als Zierde an die Ball- und Modekleider kommen, – vom schönsten Weiß, hellrosa und himmelblau bis zum dunkelsten Grün und karmoisinrot, – in allen Nüancen wurden sie gefärbt. Wenn diese noch nachzubearbeiten waren, dann hieß es, vorher die Hände sehr rein waschen. Ich habe später in der gleichen Fabrik gestanzt, eine Beschäftigung, wodurch auf die Knöpfe noch extra Muster eingepreßt wurden. Die Plättchen hierzu wurden, dem Muster entsprechend, graviert und gehärtet. Diese Platten wurden dann in den unteren Teil der Stanze aufgeschraubt. Dicht darunter befand sich eine Matrize, in die der Hinterteil des Knopfes genau hineinpaßte. Der Arbeiter setzt dann die Stanze in Bewegung, bei großen Herrenknöpfen muß man noch 2 schwere Kugeln an die Kurbelstange schrauben, um das Muster genügend tief in den Knopf einzupressen. Bei kleinen Damensachen hingegen braucht man nur einen kleinen Druck anzuwenden.1

Das ist so meine Arbeit in der Knopffärberei gewesen. Beim Auflegen der Knöpfe war es natürlich am gemütlichsten. Trotzdem es außerordentlich schnell gehen mußte, konnte man doch dabei erzählen und Allotria treiben. Wir Knaben mußten auch oft Nebenarbeiten verrichten, während die Frauen und Mädchen immer beim Auflegen blieben. Dabei kamen uns kaum der Schule Entwachsenen[93] bei dem Zusammenarbeiten mit älteren Leuten natürlich schon die verschiedensten Dinge zu Gehör.

Der Parterreraum der Schrammschen Fabrik bestand aus drei Räumen. Zuerst kam die Spritzerei, wo ich mit beschäftigt war, dann kam die Färberei und endlich die Maschinenlöcherei, darin waren ebenfalls nur Mädchen beschäftigt. Später kam der Stanzer mit hinein. In der 1. Etage befand sich der eigentliche Fabriksaal mit dem Werkführer und im Obergeschoß die Abklopftrommel, die Hülsenausleserei und das Nußlager. Im rechten Flügel kam zuerst das Kessel- und Maschinenhaus; dann das Knopflager mit den Poliertrommeln und den Knopfausleserinnen. Im Obergeschoß befand sich Jahrs Rosetten- und Portierendrechslerei. Im Parterreraum und in der 1. Etage die Privatwohnung des Drechslereibesitzers Jahr, der im Hofraum auch eine kleine Schneidemühle betrieb. Die Inhaber der Schrammschen Knopffabrik waren die Herren Kaufmann Schramm, Chemiker Hölke, Hutmacher Haller (unser ehemaliger Hauswirt), Drechslereibesitzer Jahr und ein Rentier Fritzsche. Der zweite Herr Hölle schied später aus und an seiner Statt trat Kaufmann Örtel ein. Mein langjähriger Schulfreund Oskar Haller war als Lehrling im Kontor beschäftigt. Das war noch eine Freude für mich, daß wenigstens ein bekanntes Gesicht in meiner Nähe war.

Im Fabriksaal arbeitete ein gewisser Luder als Anbohrer. Er war in Amerika gewesen und als ein auf tiefstem Bildungsniveau stehender Mensch zu bezeichnen. So aß er z. B. Ratten und Mäuse, um von sich reden zu machen. In der Fleckschen Fabrik hat er sogar einmal einer lebenden Maus den Kopf abgebissen, gegen eine Wette von drei Glas Bier. Dieser Luder war eines Montags Nachmittag unten in der Färberei und renommierte mit dem Färber Heinrich über seine Schnelläuferei. Herr Jahr, der dazu kam, beteiligte sich ebenfalls am Gespräch. Da hörte ich plötzlich Luder sagen: »In einer Stunde laufe ich nach Altenburg und zurück.« Es ist das ein Weg von reichlich 2 Stunden. Herr Jahr schüttelte ungläubig den Kopf, da wetteten sie um einen Taler, daß Luder um 4 Uhr starten, laufen und um 5 Uhr wieder eintreffen wollte. Die[94] Sache ging vor sich und als der Färber Heinrich gevespert hatte, fuhr er auf seinem hohen Zweirad nach, um den Schnelläufer zu beobachten. Er ist aber nur bis über den Stöbnitzer Berg hinaus geradelt, da hat er den Luder von weitem drüben den Berg zum Rundteil hinauf laufen sehen. Es sei 1/2 5 Uhr gewesen und da ihm unmöglich schien, daß Luder um 5 Uhr wieder in der Fabrik sein konnte, ist er zurückgefahren. Luder kam eine Viertelstunde später an. Es entspann sich nun natürlich ein Streit, der damit geschlichtet wurde, daß Herr Jahr eine Mark zahlte. Luder erzählte, daß die Bauern in Großstöbnitz geglaubt hätten, er sei verrückt, so sei er gelaufen. Er habe ihnen aber zugeschrien: »Eine Wette – eine Wette!«

In der Auflegerei arbeitete eine Witwe Namens Schmidt mit, die schon einen Sohn beim Militär hatte und in der Löcherei arbeitete an der Abschneidemaschine ein etwa 20jähriges Mädchen Namens Martig. Beide liebten einen Anbohrer Namens Krenke. Er war noch dazu Alkoholiker und wurde allgemein »Saufkrenke« genannt, trotzdem er im Höchstfalle 25 Jahre alt war. Diese beiden Weiber wetteiferten und buhlten nun gegenseitig um die Neigung des Geliebten. Die eine brachte ihm Wurst mit, die andere Käse. Die eine kaufte ihm Bier, die andere Schnaps. Zwischen den beiden Frauenzimmern kam es bei dem fortwährenden Hader einmal zu so saftiger Schlägerei, daß nicht nur die Haare, sondern auch die Fetzen flogen; der Witwe waren von der Jacke und dem Hemd sämtliche Knöpfe abgerissen, sodaß uns die Brüste sichtbar wurden. Trotzdem zog die jüngere, glaube ich, den kürzeren, obwohl sie alles Mögliche aufgeboten hatte, um als Siegerin hervorzugehen. Der Krenke lachte sich natürlich eins ins Fäustchen, anstatt für die eine oder andere Partei zu ergreifen. Darüber kam die Martig schließlich so in Wut, daß sie in der Färberei Kali trank, um sich zu vergiften. Sie kam aber wieder zu sich, weil sofort Gegenmittel angewendet wurden. Mit ihrer Liebe zu Krenke war es aber trotzdem doch aus. Sie heiratete aus Ärger einen etwa 60jährigen Gutsbesitzer Namens Heetzsch aus der Umgegend. Der war aber dermaßen liebestoll, daß er ihr Tag und Nacht keine Ruhe ließ. Es[95] beruht das auf voller Wahrheit. Ich hörte da z. B. Weiber erzählen, daß sie Butter, Käse und Gemüse bei dem alten Schürzenfreund holten, mit ihm noch »Kaffee in der Stube tranken« und dann sich mit der Ware kostenlos entfernen konnten; auch auf einen Zentner Kartoffeln kam es ihm dann und wann nicht an. Nach kaum sechs Wochen sei denn auch die junge Frau zum Bürgermeister gekommen und habe diesem erklärt, daß sie es bei dem alten Schwerenöter nicht aushalten könne. Sie ist dann auch wirklich mit dem Theatermeister einer Schmiere durchgegangen, nach Berlin gekommen und später mit einem Galan von da zurückgekehrt, hat in Ronneburg und Gera gearbeitet und am Ende auch noch den alten Heetzsch beerbt, da sie von diesem nicht geschieden worden war.

Inzwischen war noch ein anderer mit mir konfirmierter Knabe bei uns in Arbeit getreten, ein gewisser Nienkampf, der aber in der Schule einer der beschränktesten Schüler war. Mit diesem mußte ich nun freundlich verkehren. Er war ein Ausbund von Schlechtigkeit oder vielmehr von Dummheit, gab andere an, beschmierte die Wände im Arbeitsraum und im Abort, bohrte dort durch die Holzverkleidung Löcher, um in den Frauenabteil sehen zu können und ähnliche Dummheiten. Ja, er und auch noch andere, waren so vertiert, daß sie beobachteten, wer von den Frauen oder Mädchen den Abort benutzte, dann nachgingen, im Männerabteil ihren Kopf durch die »Brille« steckten und sich so die Geschlechtsteile der Frauen oder Mädchen anschauten, ohne daß diese so etwas ahnten. So unglaublich diese Schweinerei von kaum der Schule entwachsenen Knaben klingt, so beruht doch alles auf reiner Wahrheit. Da passierte es einmal, daß Nienkampf ein Loch durch die Wand gebohrt hatte und ich gleich nach ihm den Abort benutzte. Auf einmal, nach kaum 2 Minuten, rüttelte es an der Türe und der Färber Heinrich rief mir zu: »Ich solle sofort aufmachen.« Als ich dem Befehle nachgekommen war, stand Heinrich mit einem meterlangen Gummischlauch da, schaute sich das neugemachte Loch, das ich übrigens noch gar nicht gesehen hatte, in der Wand an und auf dasselbe deutend schlug er mit dem langen Gummischlauch auf mich ein und[96] zwar so lange, bis ich buchstäblich wieder hinter meinem Arbeitstische saß. Das boshafte Lächeln Nienkampfs sagte mir alles. Er hatte vorn geklatscht und seine Bosheit mir zugeschoben. Heinrich, bei dem er gut und ich schlecht stand, hatte da endlich einmal Gelegenheit, sein Mütchen an mir zu kühlen; denn in der Arbeit konnte er mir nicht beikommen. Der Fabrikant Hölle kam gerade dazu, als er mich schlug. Auf dessen Fragen beschuldigte er mich ohne Weiteres des Nienkampfschen Vergehen. Dabei war Heinrich selbst ein ganz gemeiner Mensch, der namentlich die Hälfte der Arbeitszeit in rohem Gerede mit den Frauen und Mädchen zubrachte. Am besten gefiel mir eigentlich der um ein Jahr ältere Otto Horst. Dieser zeigte mir alles, und ich begriff auch sofort, sodaß ich den Heinrich nie zu fragen brauchte, und das war dessen Ärger. Mit Horst ging ich auch öfters am Sonntag aus. Er schlug nie über den Strang und nahm mich mit in den evangelischen Jünglingsverein, den der Archidiakonus Tümpel leitete. Die jeden Sonntag stattfindenden Vereinsabende wurden immer mit einem Lied eingeleitet, das ein Geistlicher oder gewöhnlich ein Lehrer auf dem Harmonium begleitete. Dann folgte ein Vortrag mit Diskussion und am Schlusse wurde wieder ein Lied gesungen. Später wurde auch ein Posaunenkorps eingerichtet und ich habe öfters mit Theater gespielt, worauf ich noch zurückkommen werde. Einmal war ich mit Horst und dessen Vater Sonntag vormittags »Kartoffel stoppeln« gegangen. Früh 7 Uhr waren wir mit einem kleinen Handwagen abgefahren. Da kamen wir bis über Untschen hinaus, das ungefähr auf der Hälfte des Wegs zwischen Ronneburg und Schmölln dicht an der Chaussee liegt. Auf einem großen Felde lagen die ausgeackerten Kartoffeln ganz frei und da es über Nacht geregnet hatte, waren sie auch besonders gut zu sehen. Ringsum schien kein menschliches Wesen in unserer Nähe zu sein. Horsts Vater befahl deshalb uns, die Säcke aufzuhalten und in Zeit von einer knappen halben Stunde waren diese, 6 Stück an der Zahl, bis an den Rand gefüllt. Als wir über dem Zubinden und Aufladen waren, kam ein Mann des Wegs und fragte Horsts Vater, wie er mit den Kartoffeln in diesem Jahre zufrieden wäre. »Nun,« meinte dieser, »ich[97] kann nicht klagen, wie Sie sehen, sie liegen so massenhaft, daß man nur immer einzuwerfen hat, um den Sack zu füllen.« Wir kehrten nun auch unterwegs noch in einem Gasthause ein, wo Herr Horst jedem ein Glas Bier bezahlte und gegen Mittag kamen wir, ohne irgendwie belästigt worden zu sein, nach Hause. Es war ein Rittergutsfeld gewesen....

Für gewöhnlich ging ich freilich des Sonntags mit Otto Pößiger, einem Kaufmannslehrling, Robert Franke und noch einigen anderen mitkonfirmierten Knaben aus der Nachbarschaft im Walde spazieren. Der Pößiger erzählte aber immerfort von Mädchen und von seiner Stiefmutter und ich konnte derartige Gespräche nicht ertragen. Am 2. Pfingstfeiertage waren wir wieder einmal im sogenannten Hain, einem Laubwäldchen unterhalb des Bellevue. Da führte Pößiger wieder das Wort. Er meinte, um mannhaft auszusehen, müsse man behaart sein. Das beste Mittel wäre der Birkensaft. Er wolle im Sommer nicht in der Sprotte baden, ohne an verschiedenen Körperteilen behaart zu sein. Aus dem Grunde wurden nun die Birken, welche gerade zahlreich in der Nähe standen, zu einem großen Teile ihrer Rinde entkleidet und die naseweisen Herrchen beschmierten nicht nur die Schnurrbartstellen, sondern auch noch andere Körperteile mit dem Birkensafte. Ich machte nicht mit und stand abseits, weil ich gar keinen Grund für den Zwang sehen konnte, auf jeden Fall behaart zu sein.

Im Laufe des Sommers, es konnte auch wohl Anfang Herbst sein, gesellte ich mich zu einem andren ehemaligen Schulkameraden, einem gewissen Mäscher, der schon in der Schulzeit das Geigenspielen gelernt hatte. Es war da nämlich, schon als wir die 3. Bürgerschulklasse besuchten, ein Musikdirektor Namens Räche in Schmölln, der lernte nur Schulknaben an und gab dann auch zeitweilig Konzerte mit ihnen. Da hatte Mäscher gleich mit angefangen, das Musikmachen zu lernen. Ich sollte auch Geige spielen, mein Vater, der damals noch an der Bahn war, hat mich förmlich darum gebeten, mitzumachen. Ich hatte aber keine Luft dazu, weil mir verschiedene Knaben zu jener Zeit gesagt hatten, ich hätte kein musikalisches Gehör, deshalb lernte mein Bruder Felix an meiner[98] Stelle, die Geige zu spielen. Später habe ich mich vielmals geärgert, daß ich meines Vaters Wunsch nicht erfüllte. Da erinnere ich mich noch sehr gut an das erste Konzert der Knabenkapelle, das Herr Räche im Saale des Bellevue gab. Nachdem mehrere Vorträge stattgefunden hatten, betrat Herr Räche mit meinem Bruder Felix das Orchester. Felix zählte damals erst 8 Jahre. Er hatte in den vorhergehenden Stücken nicht mitgewirkt. Der Herr Direktor teilte dem zahlreich versammelten Publikum mit, daß sein jüngster Künstler auch etwas zum Besten geben wolle und nun spielte der Kleine »Kuckuck, Kuckuck rufts aus dem Wald«. Ein donnernder Beifall belohnte ihn und ich ärgerte mich, daß ich nicht mit von der Partie sein konnte.

Also, wie gesagt, Mäscher hatte fortgeübt und spielt heute noch seine Geige. Allerdings ein Virtuose oder nur Berufsmusiker ist auch aus ihm nicht geworden, dazu fehlten auch ihm die Mittel. Er macht während der Wochentage Knöpfe und des Sonntags spielt er mit zum Tanze auf. Mit diesem Burschen kam ich zusammen und wir gingen Sonntags miteinander aus, rauchten Zigarren und Zigaretten und verjubelten so die wenigen Groschen Taschengeld meist bis auf den letzten Pfennig. Später kam allerdings meine Mutter dahinter und es gab ein schauderhaftes Halloh. Die Ursache war, weil ich durch den Einfluß Mäschers nicht mehr die Vereinsabende des Jünglingsvereins regelmäßig besuchte und meine Mutter, wie ich schon oft erwähnt, auf solch kirchliche Sachen viel Wert legte. Dafür hatte ich des Sonntags fast ein ganzes Vierteljahr hindurch das Schmierentheater besucht, das im »Gasthof zum deutschen Kaiser« gastierte. Die Operetten, Lust- und Trauerspiele waren mir zu einer wahren Leidenschaft geworden. »Der Raub der Sabinerinnen«, »Veilchenfresser«, »Mann im Monde«, »Walzerkönig«, »Zigeunerbaron«, »Bettelstudent«, »Die lustigen Weiber von Kyritz«, »Kinder des Kapitän Grant«, »Das Blitzmädel«, »Der Stabstrompeter«, »Preziosa«, »Der Glockenguß zu Breslau«, »Mein Leopold«, »Reise durch Berlin in 80 Stunden«, »Die sieben Raben«, »Marie, die Regimentstochter« usw., das waren die Theaterstücke, die mich fesselten und bezauberten. Ich[99] hatte außer dem »Rattenfänger« nie vorher etwas derartiges gesehen. Sogar die Namen der meisten Mitwirkenden sind mir zum größten Teile noch in Erinnerung: als Direktor zeichnete Herr Adolf Wagler, als Charakterkomiker Max Saod, als 1. Held und Liebhaber Ernst Kraft, als Regisseur Max Kort, dazu die Damen Käthe Wagler, Paula Wilhelmi, Martha Feist, Franziska Vestvali. Letztere gefiel mir ganz besonders und als sie in der »Preziosa« die Titelrolle spielte und den spanischen Nationaltanz, den Fandango tanzte, war ich entzückt von ihr. In den meisten Stücken wirkte auch unser Logisbursche Paul Bauer als Statist mit und gar oft schmuggelte er mich mit hinein; sodaß ich das Eintrittsgeld ersparte.

An einem dieser Sonntage war ich auch einmal zu Mäscher gekommen, um ihn zum Theater abzuholen. Da sagte mir sein Großvater, daß er sich noch in seiner Kammer befinde. Ich ging hinaus. Da saß er auf seinem Bett und nahm eine Prozedur an sich vor, die mich entsetzte, und von der ich vorher nie etwas gehört hatte. Ich will dem Leser die Beschreibung sparen. Er – onanierte. Auf meine Frage, was das zu bedeuten habe, entgegnete er, das müsse man machen, wenn man sich nicht mit einem Frauenzimmer abgeben und doch gesund bleiben wolle. Ich erwiderte ihm, daß mich dazu niemand bringen würde, trotzdem ein mitanwesender Hauseinwohner, ebenfalls ein noch junger Mensch, Mäschers Angaben bestätigte. Leider hat er mich später doch noch verführt, und auch ich habe einige Zeit diesem Laster gefröhnt, bis mich dann ein älterer Arbeitskollege auf die Schädlichkeit desselben aufmerksam machte, von dem er erst mir auch den Namen nannte. Ich habe ihm freilich nichts davon gesagt, daß auch ich dem Unfug ergeben gewesen war.

Am 1. Weihnachtstag 1887 wurde in jenem Theater »Mein Herzensfritz« gegeben. Anstatt nun in den evangelischen Vereinsabend zu gehen, begab ich mich natürlich ins Theater, zumal Bauer wiederum mitwirkte. Diesmal hatte er sogar einige Worte zu sprechen. Um nicht aufzufallen, eilte ich nach Schluß der Vorstellung nach Hause und legte mich schleunigst ins Bett. Kaum aber[100] hatte ich die richtige Lage gefunden, als die Bettdecke plötzlich weggerissen wurde und ein Hagel von Kantschuhieben auf mich niederprasselte. Diesmal war es meine Mutter selbst, die mich züchtigte, weil ich den Jünglingsverein geschwänzt hatte. Als es mir zu bunt wurde, sprang ich auf und entwandt der Mutter die neunschwänzige Katze, worüber sie natürlich noch mehr in Extase geriet. Sie rechnete auf den Vater, doch der schlief ruhig weiter. In solchen Sachen übte er Nachsicht, denn ich war ja auf seinen Fußstapfen, wenn ich den frommen Kram ignorierte. Am andern Tage gab es zwar noch einige, für mich wenig schmeichelhafte Ausdrücke von der mütterlichen Seite und am Mittag bekam ich von dem nach langer Zeit zum ersten Male wieder gekauften Gänsebraten einen recht winzigen Bissen für mich. Für gewöhnlich haben wir jede Weihnachten einen viertel Zentner Mehl zu Kuchen und Stollen verbacken, es wurden auch manchmal nur zwei Achtel – aber gebacken haben wir Gottseidank mit einer einzigen Ausnahme zu Weihnachten stets. Da konnten wir während der 2 Festtage essen nach Herzenslust. Bei dem Kaffeetrinken an jenem Feiertag aber bekam ich mein Stückchen Kuchen auf den Teller. Denn gewöhnlich aß nur der Vater am 2. Feiertage ein Stück Stollen. Auch am Sylvesterabend gegen Mitternacht wurde fast stets ein Grog gekocht und dazu Stollen gegessen. Das bekamen bei uns auch die Quartierleute und namentlich Paul Bauer stellte darin seinen Mann. Dafür war er aber auch beim Baumanputzen und sonstigen Arbeiten bereitwilligst mit tätig. Ich habe schon von diesem Paul Bauer oft erzählt. Seine Mutter hatte er bei der Geburt verloren und sein Vater war nach Amerika ausgewandert. Er kam deshalb zu seinem Großvater, einem Barbier in Pflege. Geboren wurde er in Langenberg bei Gera, der Heimat seines Vaters. Von seinem Leben während der Schuljahre habe ich auch schon Mitteilung gemacht. Hinzuzufügen wäre da nur, daß er vom 10. bis 14. Jahre in der Jahnschen Bürstenfabrik Zahnbürsten einzog und nach der Konfirmation zum Gärtner Graulich in die Lehre kam. Nach dem ersten Lehrjahre starb aber seine Großmutter und der Knabe, für sein Alter übernormal entwickelt, wurde in Wäsche und Kleidung vernachlässigt. Er lief deshalb[101] aus der Lehre weg und arbeitete seitdem in den Knopffabriken Schmöllns. Seine Großmutter hatte ihm etwa 200 Mark hinterlassen und bei der Obervormundschaftsbehörde in Gera lag auch noch ebensoviel hinterlassenes Vermögen der Mutter. Das Erbe der Großmutter ging ihm jedoch durch die Fahrlässigkeit seines Vormundes verloren und sein Großvater hängte sich schließlich in der roten Sandgrube zu Schmölln an einer Birke auf. In den Knopffabriken verdiente der Bursche auch nicht viel. Er polierte meist, bohrte aus und anfangs löcherte er nur, sodaß er in Schulden geriet und meiner Mutter einmal 45 Mark schuldete. Da wandten wir uns an seinen Vormund, denn zu jener Zeit befand sich mein Vater noch im Gefängnis und die Mutter brauchte das Geld sehr notwendig. Wir richteten dann unter der Zustimmung des Vormundes ein Gesuch an die Obervormundschaftsbehörde nach Gera, in dem wir um die Bezahlung der Schuld aus seinem Vermögen baten. Es wurden uns auch keine Schwierigkeiten bereitet. Bauer wurde geladen und meine Mutter bekam das Geld in seinem Beisein ausgezahlt. Er meldete sich dann freiwillig zur Marine, wurde auch für tauglich befunden, weil er aber erst 16 Jahr zählte, mußte er bis zur Vollendung seines 17. Lebensjahres warten, bevor er definitiv eingestellt werden könne. Sein Eintritt erfolgte dann nicht. Er hatte die Luft dazu wieder verloren. Auch war er inzwischen wegen Hehlerei mit 2 Tagen Hast bestraft worden. Er hatte mit seinem Jugendgenossen Bruno Pohlers die Altenburger Landesausstellung 1886 besucht. Letzterer hatte daselbst ein Stück Radiergummi im Werte von 25 Pfennigen mitgehen heißen und nach etwa 11/2 Jahre kam die Sache durch ein Gespräch ans Tageslicht, d. h. an die Ohren der Polizei. Bauer wurde als Zeuge verlangt und weil er nicht früher den Fall gemeldet hatte, wurde auch ihm der Prozeß gemacht. Er bekam 2 Tage und Pohlers 5 Tage Gefängnis. Ersterer brummte sie die Osterfeiertage 1887 ab. In Holzschuhen marschierte er zu diesem Zwecke am 1. Feiertag nach Altenburg und am 3. Feiertag wurde er wieder entlassen. Er sagte mir, daß er in der Wand der Zelle einen Spruch eingeritzt gesehen habe, der lautete: »Wir sitzen hier zwischen vier Mauern – Und[102] klagen einander die Not – Ach Gott, sind wir nicht zu bedauern – Bei Wasser und bei Brot.« Im Sommer desselben Jahres reiste er mit einer Schießbude fort und besuchte die Vogelschießen und Jahrmärkte. Der Besitzer hieß Rudolf Bommann aus Leipzig. Nachdem aber die Schießen und Märkte vorüber und der Unternehmer nach Leipzig zurückgekehrt war, bekam Bauer etwa drei Wochen später von ihm seine Entlassung. Mit einem Anzuge und einem gestreiften Trikothemd kehrte er zu uns zurück. Das war sein ganzes Hab und Gut. Er arbeitete dann wieder in einer Knopffabrik und lernte hier bei der Firma Julius Pohle, einem Nachbar, bei dem auch mein Vater inzwischen als Holzschuhmacher beschäftigt wurde, das Pantoffelnageln. Durch die neue 3wöchentliche Lehrzeit hatte er wieder Schulden bei uns gemacht, die er nicht abzahlen konnte. Später ließen wir uns einen Schuldschein ausstellen, um uns wenigstens von seinem Vermögen den Betrag zu sichern. Ich habe zufällig das Original noch gefunden und füge es hier mit ein.


Schmölln, den 15. Juni 1889.


Schuldschein.


Ich Endesunterzeichneter, bekenne hiermit, daß ich seit Oktober 1888, der Frau verehl. Pauline Bromme in Schmölln, für erhaltene Kost und Logis, infolge Arbeitslosigkeit, nach und nach die Summe von 58 M. – sage Achtundfünfzig Mark – Pfg. schuldig geblieben bin. Da ich jedoch setzt nicht in der Lage bin, um obige Schuldsumme bezahlen zu können, indem mein Vermögen gegenwärtig noch von der Obervormundschaft verwaltet wird, so erkläre ich hierdurch nach richtiger Überlegung und mit völlig freien Willen, daß nach Ablauf meiner Minderjährigkeit, mein noch vorhandenes Vermögen in erster Linie, zur Tilgung dieser Schuld Verwendung finden möge. Zugleich erteile ich der verehel. Pauline Bromme die Vollmacht, diese meine Willensäußerung, der wohllöblichen Obervormundschaft zu unterbreiten.


Mit eigner Namensunterschrift

Wilhelm, Otto, Paul Bauer.
[103]

Auf Bauers weiteren Lebensweg komme ich später noch einmal zu sprechen, da er bis 1892 auf das Engste mit dem meinigen verknüpft ist.

Wie ich eben bemerkte, hatte mein Vater der Knopffabrik Valet gesagt und war in der Holzschuh- und Pantoffelfabrik von Julius Pohle als Holzschuhnagler eingetreten. Den ersten Schuh hat ihm der Werkführer vorgemacht, den zweiten fertigte mein Vater selbst an. Die erste Woche verdiente er 13 Mark. Höher hatte er es beim Steinnußschneiden und Knopfausbohren auch nicht bringen können. Die zweite Woche aber verdiente er schon 20 Mark, und es dauerte nicht lange, so bekam er stets den höchsten Lohn ausgezahlt. Man muß natürlich auch dabei in Betracht ziehen, daß die Schuhmacherei meinem Vater ja nicht fremd gewesen ist, namentlich das Zwicken, was die Hauptsache ist, verstand er schon aus dem »ff«. Später sagte Pohle dann jedesmal beim Lohnauszahlen, wenn mein Vater daran war: »Schickt jetzt den Wühler 'rein.« Ich weiß sogar, daß der Vater einmal vor Weihnachten, allerdings bei einer Arbeit bis 12 Uhr Nachts, 48 Mark in einer Woche verdient hatte. Vom Herbst bis Weihnachten ist nämlich in dieser Brauche die angestrengteste Arbeitszeit. Im übrigen Teil des Jahres gehen Holzschuhe selten oder gar nicht.

Nun aber wieder einmal zu mir selbst zurück! Nachdem mich der Färber Heinrich bei Schramms mit dem Gummischlauch gezüchtigt hatte, war meines Bleibens daselbst nicht länger. In einer Turnstunde des »Älteren Turnvereins«, dem ich mich als Zögling angeschlossen hatte, kam ich mit dem Kollegen Robert Franke, der übrigens 1 Jahr später gestorben ist, ins Gespräch und teilte ihm das Vorgefallene mit. Dieser war als Hobler bei der Firma Naumann beschäftigt und machte mich aufmerksam, daß ich dort auf jeden Fall auch als Löcherer oder Hobler Beschäftigung finden würde. Ich forderte deshalb bei Schramms meine Entlassung, fragte bei Naumanns an und wurde auch eingestellt. Niemand war froher als ich, daß ich dem Heinrich aus den Augen kam. Ich trat ein, verdiente auch einige Mark mehr als bei Schramm. Allerdings über 7 Mark kam ich auch nicht hinaus. Denn ich mußte für die[104] erwachsenen Arbeiter allerlei zum Frühstück und Vesper einholen, wofür ich natürlich meine Arbeitszeit einbüßte. Ich bekam 3 und 4 Pfennige für ein Gros (170 Stück) Knöpfe zu löchern, und da ich von zwei Seiten einbohren mußte, ging das nicht so schnell. Wenn man die Stunde 2 1/2 Gros machen wollte, mußte man ordentlich antreten. Dazwischen mußte ich nun Wurst, Schnaps und Käse, Priemtabak und Zigarren holen, ja sogar in die Brauerei laufen und dort den sogenannten »Kofen«, eine Art Jungbier, für 5 Pfg. gab es da eine ganze Gießkanne voll, herbeischaffen. Kurz für andere Leute war ich unterwegs und meine Arbeit versäumte ich. Oft schalt mich deshalb auch der Werkführer aus, weil ich so gutmütig war.

Eines Tages hieß es da einmal, der Fabrikinspektor käme. Ich wußte damals noch nicht, was der Beamte für eine Funktion hatte. Man sagte mir also: »Wenn Du gefragt wirst, wie lange Du arbeitest, so sagst Du, 10 Stunden; denn jugendliche Arbeiter dürfen nicht länger beschäftigt werden.« Die 9 bis 11jährigen Abputzjungen mußten überhaupt schleunigst den Fabriksaal verlassen und sich durch den Garten nach Hause begeben.

Bei Naumann lernte ebenfalls einer meiner Mitschüler als Kaufmann. Es war der Sohn des Mehl- und Getreidehändlers Uhlig. Besonders intelligent war er nicht, vielmehr stand er in punkto Fortschritte in der Schule hintenan. Auch ein Sohn des Fabrikbesitzers Naumann selbst gehörte in der Mittelschule zu meinen Mitschülern, auch er hatte nicht gerade glänzende Zeugnisse aufzuweisen gehabt. Hätte ich Stipendien erhalten und dadurch Gymnasium und Universität besuchen können, diese alle hatte ich übertrumpft. Allerdings mit der Länge der Zeit durch die fortwährenden Familiensorgen stumpfen auch die Geisteskräfte ab. Wenn nicht immer 6 Kinder um mich herumzanken und schreien würden, könnte ich auch diese Lebensbeschreibung viel früher beendigt haben. Die Leser dürfen aber nicht glauben, daß ich meine Kinder nicht lieb hätte. Ich würde trostlos sein, wenn mir durch Krankheit oder Unfall eins wegsterben würde. Doch von meinen Familienverhältnissen erst am Ende.[105]

In jenen Tagen kam ich während der Herbstferien auch wieder mit Dietzmanns Ernst einmal zusammen. Wie von ungefähr trafen wir uns eines Sonntags Nachmittag Der stets zu losen Streichen aufgelegte frische Knabe machte den Vorschlag, einmal die Pflaumen an der Landstraße nach Kummer auf ihre Reise zu prüfen. So spazierten wir denn durch die hinter der Stadt gelegenen Felder am vielgeliebten Eichberg vorbei, auf dem wir uns in der fröhlichsten Kinderzeit ungezählte Stunden herumgebalgt haben und vor der weißen Sandgrube vorüber, in der wir ebenfalls jedes Pflänzchen und Steinchen kannten. An der Straße angekommen, nahmen wir uns gleich den ersten Baum vor. Kaum aber hatten wir eine Tasche halb gefüllt, als auch schon der Pächter auf uns zugesprungen kam. Jetzt hieß es ausreißen. Wie zwei vom Teufel Besessene stürmten wir nach verschiedenen Richtungen davon. Ich stürzte wie ein Hase vorwärts, ohne nur ein einziges Mal den Blick umzuwenden. Keuchend langte ich im Stadtinnern auf dem Kirchhofe an. Wenige Sekunden später war auch Dietzmann zur Stelle. Der Pächter hatte uns nicht einholen können.

Ich will hier noch bemerken, daß wir zu jener Zeit wieder nur männliche Kostgänger im Quartier hatten und zwar außer Bauer und August Müller, dem »blinden Hessen«, wie wir letzteren nannten, weil er aus Hessen-Nassau gebürtig war, noch einen Zigarrenmacher Bernhard Hühn und den Knopfmacher Friedrich Adam. Diese beiden waren ein paar alte Junggesellen. Ersterer trank gern einen, während Adam die Passion hatte, des Sonntags auf den Dörfern herumzulaufen und mit Bauernmädchen zu charmieren. An den Wochenabenden rauchte er die lange Pfeife und las in einem Roman. Natürlich waren unter der Bezeichnung »Roman« nicht etwa solche wie »Jörn Uhl«, »Das schlafende Heer«, »Jena oder Sedan«, »Pastor Klinghammer« usw. zu verstehen, sondern eben nur Schundware. Der beste, den Adam unter seinen zahlreichen Schwarten besaß, war allerdings noch »Der Graf von Monte-Christo«, der natürlich auch von mir verschlungen worden war. Seine Gesichtszüge zeigten immer ein leichtes Lächeln, was eines Mittags zu einem komischen Intermezzo führte. Bauer hatte damals[106] gerade Leipzig verlassen und war wieder zu uns zurückgekehrt, ohne dort seinen Pflichten als Steuerzahler nachzukommen. Auf 4,50 Mark belief sich die hinterlassene Schuldsumme. Da, eines Mittags, wir hatten uns gerade zum Essen niedergesetzt, erschien plötzlich der Polizeidiener auf der Bildfläche, der eine etwas komische Aussprache hatte, indem er sämtliche Vokale sehr kurz aussprach und das r so lang schnarrte, daß man unwillkürlich lachen mußte. Dieser Polizist kam, um Bauer wegen der Leipziger Steuerschuld zu pfänden. »Zeigen Sie mirrr mal Ihrrre Effekten!« donnerte er ihm entgegen, als er kein Geld bekam. »Felix,« meinte Bauer zu meinem Bruder, »hole mal mein Zeug runter.« Nun hatte er aber, wie schon erzählt, weiter nichts, als was er auf dem Leibe trug; nur ein Paar alte Hosen, aus denen die Mutter schon Flecke herausgenommen hatte, lagen noch von früher her auf dem Spitzboden. Mein Bruder wollte sich damit nicht die Finger besudeln, und hatte deshalb die lätierten Unaussprechlichen auf ein Stöckchen gehängt; so kam er behutsam zur Türe herein. Ein schallendes Gelächter ertönte sofort von der ganzen Tischrunde. Da aber wurde der Polizist wütend. »Na warten Sie, ich kenne die Parrragrrrafen, was es heißt, einen Polizeibeamten auszuspotten. Das kann man aberrr auch nurrr von den Schmöllnerrr Knopfmacherrrn erwarrrten.« Mit diesen Worten stürzte er dann zur Türe hinaus.

Ich glaube, es war nur wenige Tage später, eines Sonnabends Abend, an dem Hühn gewöhnlich noch einige »Piependreher« mitbrachte, um mit unseren Leuten Wendisch oder Schafskopf zu spielen. Da hatte auch August Müller einen Kollegen mitgebracht, einen Pantoffelhölzerschneider, der aus Schleswig-Holstein gebürtig war. Müller hatte nun wie gewöhnlich an Sonnabenden 1/2 Pfund gehacktes Rindfleisch für sich mitgebracht, während der Holsteiner eine Kiste mit circa 10–15 Pöcklingen bei sich führte. Da stellten diese beiden Betrachtungen an, ob wohl das gehackte Rindfleisch oder die Pöcklinge mehr Nährstoff für den Menschen hätten. Jeder plädierte für sein Essen. Und da keiner nachgab, gerieten die beiden Kampfhähne schließlich so aneinander, daß der Holsteiner[107] seine Kiste mit den Pöcklingen den Müller an den Kopf warf und die geräucherten Meeresbewohner in unserer Stube herumflogen. Jetzt legte sich aber meine Mutter ins Mittel und der Holsteiner, der übrigens ein verständiger Mann sein sollte, denn er trug einen langen Vollbart, entfernte sich wutentbrannt.

Eines Tages las ich in der Zeitung, daß die Firma Naundorf und Wagner junge Leute zum Knöpfe-Hobeln suchte, und weil beim Hobeln mehr verdient wird als beim Löchern, meldete auch ich mich, wurde angenommen und hörte sofort bei Naumann auf. Ich bekam Damenknöpfe zu hobeln, sogenannte Pilze, das sind ganz kleine pilzartig gedrehte Knöpfe. Wir waren da in dem Hobelraum 4 jugendliche Arbeiter und 1 junge, verheiratete Frau. Einer von den vier Burschen war schon einmal auf der »Walze« gewesen und hatte in Mecklenburg als Hofgänger gearbeitet. Dieser führte selbstverständlich immer das große Wort, und wir waren die meiste Zeit mehr in dessen Renommistereien, als in die Arbeit vertieft. Die Folge davon war, daß ich selbst verunglückte. Denn beim Zuhören wollte ich einmal mit der Hand den Treibriemen von der leeren auf die volle Scheibe leiten, als plötzlich mein Unterarm in das im Betrieb befindliche Gangwerk geriet. Der Hobelstahl riß mir dabei das Armfleisch in seiner ganzen Breite auf. Glücklicherweise war es nur ein Stahl zu den kleinen Pilzknöpfen. Aber seine Spuren habe ich heute noch im rechten Arm. Auf den Rat des alten Naundorf, des Vaters des einen Chefs, lief ich sofort nach dem unweit vorbeifließenden Limmitzbach, spülte die Wunde mit reinem fließenden Wasser, was am besten sei, und legte dann Heftpflaster darauf. Zum Arzt wollte ich nicht gehen, denn dieser hätte »genäht«, und davor hatte ich allen Rekord. Allerdings nahm nun auch die Heilung längere Zeit in Anspruch, als im letzteren Falle.

Da waren plötzlich einmal keine »Pilze« mehr zu hobeln und ich kam mit in den Fabriksaal, Vierlochknöpfe mit Ringen zu löchern. Das war wieder ein großer Nachteil für mich, denn ich mußte nun wieder den Generalkalfaktor abgeben. Abschlagen konnte ich es den Arbeitern nicht gut und meine Bereitwilligkeit wurde wieder so ausgenutzt, daß ich jeden Tag 2 Stunden nach Zukostspeisen[108] und Getränken umher lief, ohne irgend welchen Genuß dafür zu haben. Wenn dann die Arbeit nicht klappte – und mit den kleinen schwachen Bohrern hatte man manchen Verdruß –, so war ich Sonnabends beim Lohnauszahlen immer am schlechtesten dran. Einmal hatte ich das Unglück, 7 solcher schwachen Bohrer abzubrechen, was lediglich auf den Umstand zurückzuführen war, daß der Werkführer Schmidt diese zu stark gehärtet hatte. Natürlich wollte er nichts davon hören, und ich erhielt meine Entlassung. Ich bekam glücklicherweise gleich wieder Arbeit in der Regulatorgehäusefabrik von Jähler, und wurde mit Grundpolieren der verschiedenen fournierten und unfournierten Bretter beschäftigt. Auch hier war meines Bleibens nicht lange. Ich erhielt nur 3,50 Mark Lohn, und das konnte nichts sein, da ich zu Hause 3,50 bis 4 Mark Kostgeld bezahlen mußte. Nach 3 Wochen »warf ich daselbst den Sack«. Aber einen kuriosen Zwischenfall muß ich aus dieser »Bude« doch noch erzählen. Es arbeiteten da einige Tischlergesellen im Vorderhause. Diese leimten nur Fourniere auf. Da war ein Österreicher Namens Wolf mit dabei, und unter den übrigen ein gewisser Hugo Schütze. Von letzteren werden wir später noch mehrmals sprechen müssen. Da bekamen eines Tages die Leute keinen Leim zu stande. Schließlich kam Schütze auf den Gedanken, daß dem ein Schabernack zu Grunde liegen müsse und zwar sollte der Österreicher, der die übrigen nicht leiden konnte, weil sie im Akkord mehr wie er verdienten, ein Stück Seife in den Leim geworfen haben. Zum Unglück war es gerade Montag, wo die Köpfe vom Sonntag her noch nicht ganz klar zu sein pflegten. So ging denn auf einmal ein toller Skandal los, daß es im ganzen Betriebe zu hören war. Schließlich kam daraus noch eine solenne Schlägerei zu stande und an dem »Wenzel« wurden mehrere Latten entzwei geschlagen. Die Folge davon war aber, daß Schütze und noch ein anderer »Feierabend erhielten«. In dieser Regulatorgehäusefabrik war übrigens der Dünkel unter den Arbeitern so stark, daß sie unsereinem überhaupt nichts zeigten, sogar die jungen Mädchen rümpften die Nase, wenn sich so ein Junge erkühnte, sie nach irgend etwas, was die Arbeit betraf, zu fragen. Nur der Werkführer[109] Brauer und ein älterer Tischlergeselle Knöbel erklärten mir die Geheimnisse der Holzpolituren genau.

Als ich dort aufgehört hatte, fing ich, und zwar sofort am nächsten Tage, in der Lehmannschen Knopffabrik wieder als Aufleger beim Besenmelierer an. Die verehrlichen Leser werden nach alledem einen schlechten Eindruck von mir empfangen, weil ich gleich im Anfange meiner Laufbahn die Arbeit so häufig wechselte. Das ist aber so, wenn man keinen ständigen Beruf hat und immer nur ein Trinkgeld als Lohn erhält. Man sucht sich zu verbessern, kommt aber oftmals aus dem Regen in die Traufe. Ich habe später aber 6 und 7 Jahre hintereinander in einer und derselben Fabrik gearbeitet.

Die Fabrik von Lehmann hatte außer dem Färber noch 3 Melierer, den Kastenspritzer Thomas, den Mundspritzer Junghanns und den Besenspritzer Hantschel. Jeder von den dreien hatte seine besonderen Aufleger. Ich wurde der Abteilung Hantschels zugeteilt und sollte im Akkord arbeiten. Bei Hantschel waren aber außer mir nur Mädchen als Aufleger beschäftigt und zwar meistens über 20 Jahre alte. Wenn diese auf Arbeit kamen, war es mir das Peinlichste, daß sie sich ganz ohne Scheu vor mir 15jährigen Burschen und dem etwa 30 Jahre alten, noch ledigen Spritzer auszogen, das Korsett ablegten und in die Arbeitskleidung schlüpften. Nun war aber auch ein schwangeres Mädchen darunter, die sich ebenso umkleidete. Ich schaute damals jedesmal weg und zum Fenster hinaus. Das Schlimmste aber war die Unterhaltung, denn bei der Arbeit wurde natürlich den ganzen Tag über erzählt. Ich habe einmal in einem humoristischen Blatte den Satz gelesen: 3 Gänse und 5 Weiber machen einen Jahrmarkt. Hier machten aber diese 4 im Alter von 20–25 Jahren stehenden Mädchen noch mehr als einen Jahrmarkt aus. Hundert und mehr Dinge standen da an einem Tage auf der Tagesordnung. Selbstverständlich wurden auch unsittliche Gespräche in Menge geführt. Ich bekam da Dinge zu hören, die ich nie in meinem Leben gehört hatte, trotzdem ich mich nie an der Unterhaltung beteiligte. Die Schwangere war die Schlimmste darunter. Aber dem Spritzer paßte das, trotzdem er zu[110] jener Zeit schon so kränklich war, daß er auf dem letzten Loche pfiff. Er stammte aus Böhmen und war noch dazu ausgewachsen. Mit dem war ich in der ersten Zeit übrigens ganz gut daran. Denn er war nicht ganz ungebildet. So fragte er mich eines Tages, ob mir die Lebensgeschichte des Nazareners bekannt sei. Ich bejahte natürlich, soweit es auf biblischer Grundlage beruhe. Da erzählte er mir dann von der Essayersekte, die zur Zeit der Geburt Christi in Palästina existierte und auf deren Kosten Jesus in Alexandria in Egypten und in Indien vom 12. bis zum 30. Lebensjahre studiert habe. Die Himmelfahrt sei nur eine Komödie gewesen, an diesem Tage habe starker Nebel geherrscht und Christus wäre auf der anderen Seite wieder den Berg hinunter gelaufen. Von den Essayern sei er in eine unwirtliche Gebirgsgegend am toten Meere gebracht und dort lange Jahre noch als Einsiedler am Leben erhalten worden. Es sei ferner erwiesen, daß die christliche Lehre eine Unmasse Stoff dem Buddhismus entnommen habe. Später habe ich selbst einmal in Schopenhauers »Parerga und Paralipomena« ähnliche Ausführungen gelesen. Soweit also mochte der Spritzer sympathisch erscheinen; wenn man ihm aber widersprach und die Sache besser verstehen wollte, so war er unausstehlich. Er kanzelte mich dann ab, daß es eine Art hatte. Es fehlte nur noch, daß er mir die Farbentöpfe an den Kopf warf.

Wie ich schon bemerkte, hatte ich mich im »Älteren Turnverein« der Zöglingsriege angeschlossen und in dieser war der Mundspritzer Junghanns Vorturner. Ich fragte denselben während einer Turnstunde, ob ich nicht mit bei ihm auflegen könne und erzählte ihm auch gleich den Grund. An diesem Tage hatte mich Hantschel wieder einmal gehörig heruntergeputzt, weil ich den Befehl eines der Mädchen nicht ausführen wollte. Junghanns meinte da, »der Kerl sei ja verrückt. Natürlich müsse er auf seine Weibsen halten, denn die besuchen ihn ja früh Morgens in seiner Kammer, wenn er noch im Bett liegt.« Ich redete am Tage darauf mit dem Chef und konnte bei Junghanns antreten. Da verdiente ich auch bedeutend mehr als bei Hantschel. Nach einiger Zeit hatte ich einmal sogar 10 Mark in der Woche verdient. Dieser Betrag war dem[111] Unternehmer aber zu hoch, und er reduzierte den Akkordlohn. Ich hätte deshalb trotzdem dort weiter gearbeitet, wäre nicht etwas anderes dazwischen gekommen. Wir hatten nämlich in jenem Sommer auch 2 Ziegeleiarbeiter mit im Quartier. Beide stammten aus Kayna bei Zeitz und marschierten an jedem Sonnabend nach Hause. Der eine von ihnen war Ziegelstreicher, der andere Lehmmacher. Diese beredeten mich, doch mit in der Ziegelei zu arbeiten: Ich verdiene dort keine Woche unter 12 Mark. Für 12 Mark Wochenlohn garantierten sie mir; wenn ich für sie abtragen würde, könne ich sogar noch mehr verdienen. Obgleich ich nun die Ziegeleiarbeit für die niedrigste Beschäftigung hielt, stachen mir die 12 Mk. als kaum 15jährigen Burschen doch in die Augen, und ich nahm den Vorschlag an. Am ersten Tage mochte die Arbeit sein. Da mußte ich mit 2 böhmischen Mädchen Steine wenden, damit diese auch auf der Seite trocknen konnten. Am 2. Tage kam ich zum Abtragen, da war aber bald »Been ab«. Ich konnte kaum mitkommen: Um 5 Uhr früh war Arbeitsanfang. Um 8 Uhr, zum Frühstück, war ich schon müde zum Umfallen. »Da trink einmal Schnaps,« sagte der Streicher. »Wenn ich während der Arbeit einmal Schnaps trinke, so ist es mir, als trete ich neu ein,« fügte er noch hinzu. Am Mittag war ich ganz zerschlagen. Während sich die Streicher und Lehmzurichter mit den böhmischen Mädchen, gleich spielenden Hunden, im Grase herumbalgten, schlief ich ein. Wie der Nachmittag verschwunden ist, weiß ich gar nicht. Ich glaube aber keine Nacht je vorher schlief ich so fest wie die folgende. Am andern Morgen um 4 Uhr war es mir gar nicht möglich, aufzustehn. Doch erzwang ichs. Wir hatten über 1/2 Stunde nach der Ziegelei zu laufen. Mich fröstelte, als ich an diesem frühen Augustmorgen, dort angekommen, an den Streichtisch trat. Der Streicher hatte schon um 4 Uhr angefangen. Er wollte diese Woche gegen 15000 Stück liefern. Für das Tausend gab es 4,20 oder 4,30 Mark; ich kann es heute nicht mehr genau sagen. Allerdings mußte er davon noch den Lehmzurichter bezahlen. Eine ziemliche Anzahl Steine waren schon fertig. Ich sollte bis Frühstück nachkommen. Als ich die ersten aufhob, schmerzten mir alle Glieder. Doch ich bezwang mich abermals.[112]

Am Mittag war ich gänzlich erschöpft. Da sagte der Streicher selbst zu mir: »Es ist am besten, Du hörst auf, Du bist zu schwach zur Ziegeleiarbeit.« Ich ging zum Ziegelmeister und verlangte meinen Lohn. Für die 2 1/2 Tage Arbeit erhielt ich 6,90 Mark, für mein damaliges Alter gewiß ein ganz annehmbarer Lohn. Aber was nutzte der, wenn ich der Arbeit nicht gewachsen war?

Ohne erst nach Hause zu gehen, erhielt ich gleich in der an der Coßwitzmühle liegenden Knopffabrik »Burkhardt, Naundorf und Co.« als Aufleger Beschäftigung und fing dort sofort an. Wir waren hier nur 4 Aufleger im Ganzen, 2 ältere Mädchen und 2 Burschen. Hier kam ich eigentlich erst mit dem vorerwähnten Mäscher in ganz engen Verkehr, denn das war mein Nebenkollege. Der Färber hieß Leithäuser. Er ging stets elegant gekleidet, trug einen Kneifer und benutzte in seinen Reden sehr viel englische Brocken, um zu beweisen, daß er 2 Jahre in England gearbeitet hatte. Als Spritzer für alle 3 Arten fungierte Jakob, der aber nur 5–6 Jahre älter als wir war. Im Nebenraum befand sich eine Sandspritzerei. Dort werden die Knöpfe in Schablonen gelegt. Auf den freien Raum wird in einem Kasten, der mit Glasfenster versehen ist, durch starken Luftdruck seiner Kiessand gespritzt, wodurch die Politur entfernt wird und der Knopf ein mattes Aussehen erhält. Der Sandspritzer war ein gelernter Bäcker, der erst letzte Ostern ausgelernt hatte und von seinen drei Jahren Lehrzeit gerade soviel fertig gebracht hatte, daß er in die Knopffabrik ging. Der war nicht nur altklug, naseweis und spitzfindisch, sondern auch schlecht. Er hatte rote Haare und stellte den Kontor-, Auflege- und Auslesemädchen und-Frauen nach.

So war eines Tages die Direktrice, eine erst vor kurzem verheiratete Frau aus Kleinstöbnitz, bei den Kontor- und Auslesemädchen in der Färberei. Kaum hatte das der Bäcker gemerkt, als er auch schon zur Stelle war. Er tat nun, als suche er etwas auf dem Fußboden, ließ dabei in der Nähe der Frau einen Knopf fallen, bückte sich dann, ihn aufzuheben und machte die Bewegung, als wollte er der Direktrice mit der Hand unter den Röcken hinausfahren. Diese war eine große stattliche Erscheinung von urgermanischem Typus;[113] sie fackelte nicht lange, sondern hieb ihm kurzer Hand eine runter. Damit aber noch nicht genug, nahm der Färber Leithäuser meinen Urian beim Kragen, drehte ihn um und tauchte ihn mit dem Scheitel in den Blauholzbottich. Dadurch färbte sich sofort der obere Teil des Haupthaares schwarzblau und darum herum stand noch, gewissermaßen als Einfassung, ein Kranz roter Haare. Aber obgleich er so nun ein ganzes Jahr lang herum laufen mußte, scherte das den Burschen keineswegs. Gegen seine Großmäuligkeit war auch darnach nicht aufzukommen. Allgemein nannte man ihn die »Sonne«. Seine Hauptleidenschaft waren, wie gesagt; Weiber und auch die Karten. Sonnabends saß er schon eine Stunde nach Arbeitsschluß beim »Tippen«. Oft wurde da der halbe Wochenlohn verspielt.

In der Burkhardtschen Fabrik hatten die Arbeiter sehr viel Freiheit. Mit dem einen der drei Chefs hatte der »Blaukopf« auch einmal ein komisches Intermezzo, d. h. komisch war es nur für mich, als den einzigen Zuschauer. Wie gewöhnlich wurde von diesem der Lohn in der Zählkammer ausgezahlt. Wir beide erhielten ihn in lauter kleinen Zwanzigpfennigstücken. Da fehlten beim Bäcker 50 Pfennig. Auf seine Frage, wo die 50 Pfennige geblieben seien, meinte der Chef, die seien als Strafe für eine im Laufe der letzten Woche begangene Flegelei abgezogen worden. Letztere bestand darin, daß der edle Arbeitsgenosse einem andern jüngeren Arbeiter einmal geradeweg ins Gesicht gespuckt hatte. »Was? dafür 50 Pfennige Strafe? Da können Sie auch Ihren ganzen gottverdammten Dreck behalten.« Sprachs, nahm die halbe Handvoll 20 Pfennigstücke und warf sie dem Chef vor die Füße. Nun rollten die kleinen Dingerchen unter die Säcke und zwischen die Kästen und Dielenritzen. Der Herr, der von besonders gutmütiger Natur war, lachte nur über diese Unverfrorenheit und die »Sonne« las schließlich das Geld wieder zusammen. Allerdings mit dem Resultat, daß nun 5 bis 6 der kleinen Münzen fehlten, die in die Dielenritzen gekollert waren.

Auch in dieser Fabrik blieb ich nicht lange. Aber ohne meine Schuld. Noch im nämlichen Herbst brach der Konkurs über die[114] Firma herein. Nun war ich wieder arbeitslos. Doch sollte auch das nicht lange wären. Ich sollte einen neuen Beruf kennen lernen. Zu jener Zeit logierten bei uns 2 Zigarrenmacher, der schon erwähnte Bernhard Hühn und ein gewisser Kutscherra. Diese verschafften mir bei ihrem Chef Arbeit und wollten mir das Wickelmachen lernen. Ich muß sagen, daß die Zigarrenbranche eine der gemütlichsten und ruhigsten Arbeitsweisen aller Industrien ist. So viel gemütliche Unterhaltung, die sich stets in anständigen Bahnen bewegte, trotzdem auch hier Männlich und Weiblich zusammen beschäftigt wird, habe ich nirgends gefunden. Aber einen Haken hat auch diese Industrie: sie ist heute eine der schlechtbezahltesten unter allen. Ich wurde zum Beispiel die ersten 14 Tage mit »Abrippen« beschäftigt und erhielt dafür ganze 3 Mark pro Woche bei 11stündiger Arbeitszeit. Später, als ich das Wickelmachen erlernte, wurde es auch nicht mehr. Gehen doch da alte, in der Branche grau gewordene Roller mit 7–9 Mark Wochenlohn nach Hause. Ich habe später in der Lungenheilanstalt allerdings auch Zigarrenmacher getroffen, die 20–24 Mark in der Woche verdient haben wollten. Solche Löhne wurden aber nicht bei Hofmann in Schmölln gefunden. Da war einer vom Lande, den das rechte Bein amputiert worden war, der hatte das Wickel- und Zigarrenmachen gelernt und war froh, wenn er auf 9–10 Mark die Woche kam. Ein Weißenfelser kam ja auch auf 15–16 Mark, aber der machte auch dafür nur die bessern Sorten, wie z. B. Brasil-, Cuba- und Habannadecker, während die übrigen nur Java- und Sumatradeckblatt zu verarbeiten kriegten. Gewöhnlich wurde bei der Arbeit gesungen. Männlich wie Weiblich, alt wie jung summte mit. »An der Saale hellem Strande«, »Schatz, mein Schatz, gehe nicht so weit von hier«, »Auf Hohenzollerns steilen Felsen, wo unverzagt die Eintracht ruht« und »Bei Sedan auf den Höhen, da stand nach blutiger Schlacht, in der letzten Abendstunde ein Sachse auf der Wacht«, »Ein Müller wollte früh aufstehn, seine Felder zu besehen« standen auf dem täglichen Repertoir. Dazwischen erzählten dann die vielgereisten »alten Kunden« ihre »Tippelei« geschichten, und obgleich diese schließlich immer auf die gleichen Erlebnisse herauskamen,[115] waren sie doch mannigfaltig, daß man nie müde wurde, zuzuhören. Wie gesagt, wenn der Lohn besser gewesen wäre, die Arbeit hätte mir gefallen. In den ersten Tagen brachte ich natürlich schöne Gurken von Wickeln fertig; die waren an einer Stelle dünn, an der anderen stark. Ich hatte das zur richtigen Verteilung nötige Gefühl noch nicht in den Fingern. Nun fehlte es so schon immer bei uns zu Hause am Gelde. Wenn ich da der ohnehin ganz abgesorgten Mutter, die sich inzwischen aus Gram und Sorge um den Verlust ihres kleinen Vermögens und die Stelle des Vaters ein Lungenleiden zugezogen hatte, jede Woche einen Fünfziger zum Taschengeld abbetteln sollte, hatte ich selber Ärger und Mißmut, denn ich aß doch mehr als für 3 Mark die Woche hindurch, mußte mich also auf anderer Leute Kosten mit durchschleppen lassen. Da suchte in jenen Tagen der Kommerzienrat Donath Maschinenlöcherer, wie ein bei uns wohnhafter junger Bursche aus dem Mülsengrund, der bei Donath arbeitete, mir mitteilte. Ich frug an, und wurde eingestellt. Niemand war froher als ich, endlich bekam ich wieder einmal ein paar Groschen Geld in die Hände. Es gab freilich nur 1 1/2 Pfennig für 170 Stück Knöpfe zu löchern, aber 8–9 Mark wurden es in der Woche doch immer. Ich arbeitete also nun in der größten von den zu damaliger Zeit bestehenden 26 Knopffabriken Schmöllns. Neben mir hatte ich einen Maurer als Nachbar, der in dem Löchern Winterarbeit gefunden hatte. Dann war noch ein gewisser Cramer in der Nähe, der mit mir konfirmiert worden war. Dieser kochte sich fast zu jedem Frühstück und Vesper Grog. Es wurde da Wasser im Kaffeekrug geholt, ein Eisen in der als Härteapparat dienenden Feldschmiede glühend gemacht und solange ins Wasser gehalten, bis es zum kochen kam, dann wurde Rum und Zucker zugegossen und in 5 Minuten war die Geschichte fertig.

Eines Tages lief ich gerade dem alten Kommerzienrat in den Weg, er hielt mich an und indem er sich den Rücken im Gewände einer Durchgangstüre rieb, fragte er: »Nun, Bromme, was macht denn Dein Herr Vater jetzt?« Als ich ihm lakonisch entgegnete »Holzschuhe«, meinte er: »Na, der hat es nicht anders haben wollen.[116] Der hat wider den Stachel löken wollen und das darf nicht sein!« Ich erwiderte nichts mehr.

Etwa 14 Tage später erkrankte ich so schwer, daß ich einige Wochen das Bett hüten mußte. In dieser langweiligen Zeit hatte ich keine andere Zerstreuung, als ein von Ernst Dietzmann geschenktes Buch über »Amerikanische Jagdgeschichten«, das habe ich eifrig studiert und wohl 3 oder 4 mal durchgelesen. In den Abendstunden las gewöhnlich Paul Bauer aus einem Schundroman vor. Erst kaum Rinaldini dran. Nach Rinaldo wurde die »Waldmühle an der Tschernaja« vorgenommen. Ich bekam die Schandtaten des russischen Prinzen Kasanky, wie er in seinen unterirdischen Verließen die Leibeigenen halb- und ganz tot peitschen und knuten ließ und die ewigen Kämpfe mit den Wölfen mit der Zeit satt; doch konnte ich diese Vorlesungen niemals ausrotten. Unsere Logisleute, ja sogar Vater und Mutter, hatten einmal ihren Narren daran gefressen. Allmählich ließ ich mich dann auch selbst herbei, vorzulesen, denn je länger ich in der Fabrik und je ungebildeter der Verkehr mit den Kollegen war, desto mehr vergaß ich meine gute Schulbildung. Anstatt mich weiter zu bilden, kam ich selbst zum Schundroman und las Abends vor. »Die schwarze Maske« war mein erstes Debüt. Dann kamen die »Totenfelder von Sibirien« an die Reihe. Eine wahre Schauergeschichte, in der das Haus Romanow natürlich nicht gut wegkommt, denn der Held des Romans ist Michael Bakunin, und ein deutscher Edelmann Hugo von Pahlen, der Nihilist war, weil dessen Schwester von einem Großfürsten entehrt wurde. So ging das fort, bis mir eines Tages Lassalles Reden und Schriften in die Hände fielen. Diese las ich nicht nur, nein, ich verschlang sie. Mit einem Male hatte ich den richtigen Weg für meine Lektüre gefunden. Alles andere war seitdem gewesen.

Doch ich kehre wieder zu meiner Krankheit zurück. Damals war unser Hauswirt soweit fertig geworden, daß sein Konkurs vor der Türe stand. Sein Bruder übernahm das Geschäft; er selbst kaufte ein kleines Häuschen in der Nachbarschaft, das zur Subhastation stand. Wir zogen mit hinüber, konnten aber dort nur noch 3 Kostgänger behalten. Zu jener Zeit ging bei meinem Vater die Arbeit[117] schlecht. Er mußte jetzt Pantoffeln nageln, weil die Geschäfte mit Holzschuhen gar nicht gingen, und verdiente deshalb wenig. Da hatte nun meine Mutter große Not, um auszukommen. Es reichte weder hinter noch vor, und wegen des elenden Mammons kam es nun zwischen den Eltern oftmals zum erbittertsten Streit. In meiner Ehe ist es ja nicht viel anders geworden. Eines Sonntags Nachmittags, als die Logisleute mit Ausnahme Bauers ausgegangen waren, brach wieder einmal so ein ehelicher Sturm aus, wobei sich die Eltern gegenseitig die schwersten Vorwürfe machten. Die Mutter hielt dem Vater seinen Leichtsinn wegen der Geschichte mit dem Kaufmannsjungen vor. »Hätte er dem Bengel lieber ein paar Schellen gegeben, als dieser ihm mit dem verfluchten Anerbieten nahte. Außerdem hätte er sich nicht öffentlich an der Parteibewegung beteiligen sollen, auch das Amt als Krankenkassenkassierer der Hamburger Tischlerkrankenkasse sei für einen Bahnwärter nicht gerade geeignet gewesen. Kurz und gut, hätte er vorsichtiger gehandelt, wäre es nicht soweit gekommen und man stände sich besser als jetzt. Auch gegen die Hauskaufgeschichte sei meine Mutter gewesen, aber da mußte sich gleich angekauft werden. Hätte er ihr gefolgt und sich aus diesem Dreckneste versetzen lassen, so wäre er zwar in ein andres Drecknest gekommen, aber ihr Geld wäre dann noch da gewesen und der Kummer, die Not und die Sorge ihr erspart geblieben. Nie in ihren Jugendjahren sei ihr einmal der Gedanke gekommen, daß es ihr einst so gehen würde.« So machte sie einmal ihrem Herzen Luft. Aber unterdessen war die Zornesader an der Stirn des Vaters fingerdick angeschwollen. Ich entsetzte mich, als ich ihm ins Gesicht blickte. Er stand auf, stürzte auf die Mutter zu und schlug sie mit der geballten Faust ins Gesicht, daß sie in die Kniee sank. »Was, Du Schlange? Du Kröte? Du willst mir Vorwürfe machen?« Ein neuer Schlag sauste auf den anderen Backen nieder. Ich wollte dazwischen stürzen. Allein hätte ich es gewagt, so hätte mich der Vater in seinem Jähzorn zermalmt. Mein kleiner Bruder Felix wandte sich ab und weinte. Die Mutter aber war außer sich. Sie sprang auf und wollte ins Wasser. »Das sei wohl der Dank für ihr ganzes Leben, ihr jahrelanges Leiden, um meines[118] Vaters willen?« – Aber er war noch nicht beruhigt. »Halte das Maul! Du Drachen! Du mit Deinen ewigen Nörgeleien und Quälereien, mit Deinem Räsonnieren und Quarulieren. Jetzt hab ich es einmal satt! und jetzt ist Ruhe!« Und er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß dieser in allen seinen Fugen krachte. So blieb nichts übrig: wir mußten wieder mehr Aftermieter nehmen, sollte es einigermaßen erträglich sein, 5–6 mußten es sein, sonst war es gar nichts. Ein Glück nur, daß meine Mutter einer Familie entstammte, wo es nicht an Betten fehlte. Wir haben an die 12 Betten gehabt wenn ich nicht irre. Das wußten wir aber nicht zu schätzen. Heute, wo ich 6 Kinder habe und erst seit kurzem 3 Betten, in denen also eine achtköpfige Familie schlafen muß – heute denke ich manchesmal: Hätte doch Dein Vater mehr auf die Betten gehalten, dann könntest Du leicht noch etwas haben, denn mir fehlt jetzt noch eine Decke und dabei sind bei meines Vaters zweiter Verheiratung die Federn weggeworfen worden! Nun konnten wir aber in der damaligen Wohnung nicht mehr Leute betten, deshalb zogen wir bald in das neugebaute Haus des Bäckers Viertel. Dort hatten wir reichlich Platz. Wir hatten das halbe Parterre, in der ersten Etage eine Stube für den aus dem Rheinland zurückgekehrten Syrbe, der jetzt außer seinem Sport, Gedichte zu machen, noch das halbe Zimmer voll Topfpflanzen pfropfte, und auf dem Oberboten hatten wir auch noch 2 Bodenkammern, die »belegt« wurden. Außer Bauer, Müller, Adam und Syrbe waren noch 2 junge Burschen und zwar der ehemalige Hausknecht und der ehemalige Kellnerbursche aus dem Hotel zur Wartburg da, die beide in die Knopffabrik gingen. Denen hatte sich dann bald noch einer angeschlossen, ein Drechsler Namens Roscher aus Rumburg in Böhmen, allgemein der Galizier genannt. Dieser war nun eigentlich nicht mehr unter die Menschen zu rechnen. Ein alter Pennbruder und Alkoholiker, weiter war er nichts. Er wollte verheiratet sein und seine Frau sollte sich im Krankenhaus befinden. Arbeiten aber konnte er tüchtig. 20–23 Mark verdiente er jede Woche; aber das meiste davon wurde in Spiritus umgesetzt. Dabei hatte der Kerl fortwährend Auswurf, der immer gleich in die Stube gespuckt wurde.[119]

»Hallo, wieder ein halber Lungenflügel,« sagten die andern Logisleute. Das rührte den aber nicht, der schmetterte fort. Er konnte besser schnattern wie ein Hökerweib. Wenn wir des Sonntags einmal spazieren gingen und, um nicht hochmütig zu sein, ihn mitnahmen, so schnorrte er auf der Straße die Leute an. »Ich bin Fremder, erst zugereist – noch kein Schlafgeld.« Erhielt er dann etwas, so sagte er höchstens: »Entschuldigen Sie, mein Lieber.«

Am ersten Pfingstfeiertage des Jahres 1888 litt mein Vater an einem Unwohlsein. Es war der Anfang einer langjährigen Krankheit, in deren Verlauf ihn die Ärzte mehrmals aufgegeben hatten, und die meiner Mutter viel Sorgen und viel Kummer verursachte. Am andern Tage wurde der Arzt geholt. Er konstatierte Gelbsucht. Woher kam diese Krankheit? Sie konnte nur vom Holzschuhnageln kommen. Die Pantoffel werden auf dem linken Schenkel genagelt, aber die Holzschuhe klemmt man zwischen die Kniee und stemmt sie gegen den Magen. So hält der Schuh fest und die Arme sind frei zum Nageln. Selbstverständlich bekommt dadurch der ganze Körper eine kauernde Stellung. Mein Vater, der sein ganzes Leben in Gottes freier Natur, in ungezwungener natürlicher Körperhaltung zugebracht hatte, hatte sich durch diese sitzende kauernde Stellung und den fortwährenden Druck auf den Magen dieses tückische Leiden geholt. Eines Abends nach etwa vierwöchentlichem Krankenlager, nahm der Arzt meine Mutter beiseite und flüsterte ihr zu: »Frau Bromme, machen Sie sich auf das schlimmste gefaßt.« Sie weinte trotz allem vorangegangenen Streit. Jetzt, nachdem er uns noch nicht einmal zwei Jahre lang wiedergegeben war, sollte er sterben. – – – Der ärztliche Schluß hatte sich jedoch als falsch erwiesen. Es trat keine Krisis ein, aber die Krankheit zog sich hinaus; die Kunst des Arztes konnte nichts tun. Da lasen wir eines Tages in irgend einer Zeitung, daß ein Spezialist Dr. Mahler in Nymwegen (Holland) brieflich Gelbsucht heilte, wenn ihm die Krankheitsgeschichte eingesandt würde. Ich verfaßte selbige und sandte sie an den Herrn ab. Nach etwa 8 bis 10 Tagen bekamen wir plötzlich eine Vorladung zum Amtsgericht. Auf der Zollabteilung lagere ein Päckchen Medizin. 25 Mark mußten wir Nachnahme inkl. Zoll[120] bezahlen. Fünfundzwanzig Mark – für unsere Verhältnisse nach etwa dreimonatlicher Krankheit meines Vaters eine schier unerschwingliche Summe. Doch was tut man nicht, um das höchste menschliche Gut, die Gesundheit wieder zu erringen? Wir mußten uns einen Teil des Betrages zur Einlösung leihen. Die Medizin bestand in Pulver, das zu einem gewissen Quantum täglich zweimal in heißes Bier geschüttet und mit Zucker aber ohne Milch genossen werden mußte. Und die Wirkung? Selbstverständlich null. Ja, im Gegenteil, das Leiden verschlimmerte sich noch. Wir waren einem Charlatan in die Hände gefallen.

Inzwischen hatte ich mich bei dem vielgeliebten Kommerzienrat wieder »dünne gemacht« und als Polierer Arbeit bei Friesleben und Lange angenommen. Dort traf ich auch wieder mit der »Sonne« zusammen, ließ mich aber gar nicht mit ihm ein. Neben unseren Arbeitsbänken liefen die Löchermaschinen, die von Mädchen und Frauen bedient wurden. Hinter mir saß ein Gößnitzer. Er war 2 Jahre älter als ich und auf dem Georgen-Marienstift und Rettungshaus Schnauderhainichen bei Meuselwitz erzogen worden. Dieser rauchte den ganzen Tag von früh bis Abends Zigarren, das war in den Schmöllner Knopffabriken erlaubt. In jeder Fabrik handelten 1 oder 2 Mann mit Zigarren. Die Woche über pumpen sie den Leuten, und Sonnabends wurde bezahlt. So machten es auch die Budiker mit Wurst, Schnaps, Bier und Käse; denn vor jeder Fabrik war auch ein Kramladen anzutreffen. Damals existierte in Schmölln das »Blaumachen« in schrecklicher Weise. Montags waren die Fabriken immer halb leer, die Kneipen aber voll. Vor jeder Fabrik saß nämlich auch noch eine Kneipe. Es kam dann vor, daß der Werkführer, wenn er einem »Blaumacher« besonders mißgesinnt war, diesem den Treibriemen für seine Maschine wegnahm. Kam dann der Betreffende an seinen Arbeitsplatz, so konnte er nicht arbeiten, und mußte in den meisten Fällen überhaupt aufhören. Dabei fällt mir gleich ein recht drastischer Fall aus der Frieslebenschen Fabrik ein. Ein alter »Abschneider« Wagner machte dort Montags auch stets blau. Zum Frühstück begab er sich dann in die Langesche Restauration und kam vormittags selten wieder[121] heraus. Erst nach 12 Uhr ging er gewöhnlich wieder an seinen Platz, um wenigstens seinen Rock fürs Mittagsessen zu holen. Da hatte nun ein gewisser Kurze eine größere Kohlrübe mit in die Fabrik gebracht. In diese schnitt er ein Gesicht, packte einige Kästen und Kasten auf den Schemel Wagners, setzte die Kohlrübe darauf, und hing seinen Rock um die ganze Figur herum. Auf die Rübe wurde ein alter Hut gestülpt, die Rockärmel ausgestopft und entsprechend gelegt. Von hinten sah das Ganze aus, als ob ein Mann in voller Arbeit begriffen dort säße. Nun mußte ein Junge nach der Langeschen Restauration springen und dem Wagner ins Ohr flüstern: »Franz, Deine Bank ist besetzt.« Da konnte man dann etwas sehen. Wie ein Wütender kam der Alte angestürzt. Hinter der Figur blieb er stehen und schrie sie an: »Weg von meiner Bank.« Als aber dem Befehl keine Folge gegeben wurde, gab er der Gestalt einen Stoß in die Seite und die ganze Herrlichkeit stürzte in sich zusammen. Die ganze Fabrik aber wälzte sich vor Lachen.

Allzulange war ich aber auch in dieser Fabrik nicht beschäftigt. Der Weg war zu weit, und ich bekam Arbeit gleich gegenüber unserer Wohnung angeboten, und zwar in meiner ersten Arbeitsstelle bei Schramm und Co. Allerdings nicht mehr bei dem Färber Heinrich, der war längst nicht mehr da, sondern ich mußte hobeln, polieren und rändieren. Das gefiel mir auch ganz gut. Ich hatte zwei gute Nachbarn. Der eine war Ernst Naumann, der im Herbst zur Artillerie eintreffen sollte, ein starker stämmiger Bursche, der als Bäcker gelernt hatte. Schon als Lehrling beim Mehlabladen trug er 2 volle Säcke 2 Treppen hinauf und in den Turnstunden des älteren Turnvereins warf er die schwersten Hanteln wie Spielzeug umher. Im Umgang war es eine Seele von einem Menschen. Wollte ich etwas wissen, so erklärte er mir alles. Leider ist dem armen Kerl im selben Jahre sehr schweres Unheil passiert. Es war am Sedantag, der unglücklicherweise auf einen Montag fiel. Naumann hatte mit einigen Freunden blau gemacht und Abends einen Ball in der »Wartburg« besucht. Auf dem Nachhauseweg hatte er einen vollgepropften alten Revolver in der Tasche; denn es war allgemein üblich, daß an diesem Tage mit Schlüsselbüchsen, Revolvern[122] und allem Möglichen geknallt wurde. Als der »schwarze Steg« passiert war, hatte er sich mit einem der Burschen herumgeschuppst und plötzlich ist der Revolver losgegangen und hat dem Naumann das Kinn und die Zunge gespalten. Am andern Tage hat man noch Zähne an der Unfallstelle gefunden. Ein Beweis von den starken Nerven des Burschen ist, daß er noch etwa 450 Meter weit nach Hause lief, seine Mutter herauspochte und den Arzt holen ließ. Er hat lange, wohl 2 Jahre, zugebracht und dann konnte er nicht mehr sprechen, nur murmeln. Auch mit dem Militär hatte er deshalb noch Schererei; denn weil er mit einem Mädchen bereits 3 Kinder hatte, glaubte die Militärbehörde, er habe sich durch die Verstümmelung vom Dienst befreien wollen. Doch war dieser Verdacht ganz haltlos. Er hätte wirklich gern gedient. Schließlich gab sich die Behörde auch zufrieden.

Der andre Nachbar hieß Conath. Der war etwa 30 Jahre alt und schon längst verheiratet. Er redete mir stets zu, recht fleißig zu arbeiten und mich nicht um andere Leute zu kümmern. »Wer Faxen machen will, den lasse welche machen, Dich brauchen sie nicht dabei.« Dann nahm er mich auch einmal beiseite und sagte, daß er in dieser Fabrik die jungen Burschen schon mehrmals bei der Selbstbefleckung angetroffen habe. Mehrere Male habe er welche in der Bedürfnisanstalt und mehrmals auch oben hinter den Säcken oder hinter dem Kessel im Maschinenhaus beobachtet. Gewöhne Dir das ja nicht an, mein Junge, sagte er, das hindert das ganze menschliche Wachstum und wenn Ihr dann einmal 29–30 Jahre alt und verheiratet seid, so habt Ihr die Schwindsucht, müßt sterben und laßt unermeßliches Elend in Euren Witwen und Euren unschuldigen Waisen auf der Welt zurück. Ich habe später oftmals mit Dank an den Mann gedacht, und mir gesagt, wenn alle so dächten, würde es ältere und gesündere Leute auf der Welt geben.

Der Werkführer Ernst Rohloff war mein nächster Vorgesetzter. Er war gewiß nicht grob und brutal, doch hatte auch er seine Mucken. Und er hat mich schließlich auch aus der Arbeit gebracht. Nach ungefähr einem viertel Jahre versetzte er mich an die Stanze. Dort arbeiten in andern Fabriken immer nur erwachsene und verheiratete[123] Männer. Hier kam nun ich an diese Arbeit, mußte dieselbe Arbeit leisten wie Erwachsene, bekam aber natürlich weniger für jedes Gros Knöpfe, als diese. Das war ja wohl auch der Zweck der Versetzung gewesen. Wo andre mit 5 Pfennigen entlohnt wurden, bekam ich nur 3 Pfennige. Ich habe trotzdem in diesem Jahre mehr verdient als wie vor- und auch lange Zeit nachher. Allerdings mußte ich dabei auch sehr oft des Sonntags bis Nachmittags 4 Uhr arbeiten, obgleich ich damals und bis auf den heutigen Tag ein Feind aller Überstunden gewesen bin. Wenn ich dann Sonntags arbeitete, war ich ganz allein in der Fabrik. Ich bekam den Schlüssel, weichte mir in der Färberei meine Knöpfe ein und arbeitete dann darauf los. Manchmal, wenn ich es satt hatte, ging ich nach Hause und holte den Paul Bauer; dann stanzte der einmal eine Stunde lang, obgleich er gar nicht in die Fabrik gehörte. Die Stanze stand wieder in der Maschinen-Löcherei. Wir waren 5 bis 6 Mädchen und Frauen und ich Bürschchen. Das jüngste Mädchen war 19 Jahre und die war auch noch schwanger. Auch diese Mädchen zogen sich ganz ungeniert vor mir aus und legten das Korsett ab. Die Schwangere stellte sich oft zu mir und schwatzte mit mir. Sie stemmte dabei gewöhnlich das eine Bein auf den Schemel, hob den Rock und machte sich das Strumpfband fest. Es war ein großes, starkes Ding, die ein paar Beine wie ein paar Wasserkannen hatte und ich wunderte mich über sie, daß sie das alles so ungeniert machte. Einmal hörte ich die andern Mädels unter sich von ihr erzählen, daß sie in der vergangenen Woche einen erst aus der Schule entlassenen Burschen mit im Bett gehabt habe. Da verachtete ich sie, wußte aber auch, warum sie immer mit mir anbandelte. Ich sollte schon oft des Abends einmal hinter den Hainanger kommen, wo sie logierte.

Auch zum Vesper begab ich mich gewöhnlich nach Hause, weil wir ja gleich gegenüber wohnten. Da war eines Tages eine rheinländische Handelsfrau mit Trikotwäsche und Regenschirmen da. Diese schwatzte und quälte, ich solle doch nur etwas kaufen. Immer entgegnete ich, daß ich kein Geld hätte; da sagte sie, ich bekäme gegen eine Anzahlung von 1 Mark soviel ich wolle. Ich ließ mich[124] auch betören, nahm einen Regenschirm, bisher hatte ich noch keinen besessen, drei Normalhemden und ein Sommertrikot zum Turnen. Als ich wieder bei der Arbeit saß, war mir gar nicht wohl zu Mute. Ich hatte die ersten Schulden gemacht. Ich überlegte weiter und war überzeugt, daß ich viel zu teuer gekauft hatte. Hätte ich bares Geld gehabt, das gerade auf einen neuen Anzug drauf gegangen war, hätte ich höchstens ein Hemd gekauft; denn mit Geld bin ich immer etwas zäh gewesen. Es nutzte aber nun alles Nachdenken nichts mehr. Jetzt hieß es eben tüchtig schuften, und wenn jetzt einer kam und wollte sich mit mir unterhalten, da lag mir nichts dran. Frug er, was ich mache, so entgegnete ich: »Immer noch runde«. Als aber gar die Schwangere kam und lieb tun wollte, während ich wie toll an der Maschine loslegte, frug auch sie schließlich: »Was machste denn?«, da sagte ich: »Andere, wenn die fertig sind.« Am Sonnabend darauf bekam ich denn auch 14,96 Mark ausgezahlt. Da schmunzelte ich Bürschchen und der Chef, Herr Örtel, sagte: »Ja, da lacht der Bromme, das macht Spaß!« Und unser neuer Logismann, der Pantoffelmacher Rodewald, meinte: »Junge, da kannst Du Dir aber Speck kaufen, der fehlt Dir überhaupt. Du bist so schwach. Du mußt tüchtig Speck essen.«

Mittlerweile war meines Vaters Krankheit wenigstens soweit behoben, daß er wieder anfangen konnte, zu arbeiten; aber verschwunden war sie noch lange nicht. Er hat sich auch noch Jahre lang damit schleppen und ganz diät leben müssen. Drei Jahre lang aß er nur Grahambrot und trank anstatt Schnaps oder Bier mit Wasser verdünnten Rotwein. Das hat ihn schließlich doch wieder hergestellt. Damals glich er nur noch einem Schatten seines einstigen Ichs, als er zum ersten Male wieder arbeitete; aber die Unterhaltung mit den Kollegen – Schröder Karl und der alte Sachsen Hermann arbeiteten mit ihm zusammen – brachte doch wieder Lebensmut in ihn hinein. Und gerade damals war zum Glück eine sehr humoristisch angelegte Kolonne in seiner Fabrik. Einmal haben sie gar ein Hundediner veranstaltet. Herr Pohle, der Chef, hatte nämlich einen schönen fetten Foxterrier. Ein zutrauliches Tier, das aber die kleinen Kinder immer beleckte. Deshalb sollte der Hund[125] fort. Eines Montags, als ich zum Frühstück von der Arbeit nach Hause kam, war die ganze Pantoffelmachergesellschaft von Pohlens bei uns im Hofe versammelt. Es war ein Gerichtssitzung arrangiert worden und der Hund wurde in aller Form vom Karl Schröder zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Ich konnte es nicht mit ansehen. Der Kopf des Hundes wurde in unserem Holzschuppen auf den Hackstock gelegt. Zwei Mann hielten ihn fest und nachdem ihn ein gewisser Katsch betäubt hatte, wurde mit dem Beile der Kopf vom Rumpfe getrennt. Herr Pohle selbst wollte die Prozedur nicht in seinem Hause haben, weil der Hund allen lieb gewesen war. Meine Mutter wollte zwar auch von der ganzen Sache nichts wissen, aber es wurde ihr bezahlt und sie sollte nur die Klöße machen, den Hundebraten machten ein paar Pantoffelmacher selbst fertig. Selbstverständlich war auch ein Viertel Bier zur Stelle geschafft worden. Dieses Mittagsessen vergeß ich mein Lebtag nicht. Meine Eltern und Syrbe aßen nicht mit. Meine Geschwister aber legten tüchtig mit los; ich selbst kostete nur. Ein ansprechender Handwerksbursche bekam auch einen Teller »Schöpsbraten mit Klos«. Der wunderte sich nicht schlecht und hat den Teller fast ausgeleckt. Gegen 1 Uhr war das wunderliche Diner zu Ende. Meine Mutter aber hatte mit dem Aufwaschen noch ein großes Stück Arbeit extra.

In jenem Jahre besuchte ich auch die Tanzstunde. Paul Bauer hatte mich dazu überredet. Ich allein hätte mich nicht dazu entschließen können. In der ersten Stunde wurde der Tanzstundenvorstand gewählt. Als Vorsitzender wurde Paul Bauer, als Kassierer August Keller, und als Schriftführer ein gewisser Mohlhorn bestimmt. Diese drei Personen hatten alles Nötige mit dem Tanzlehrer Müller zu bereden. Die Hälfte des Honorars, das drei Mark betrug, war sofort zu erlegen. Zuerst wurden nur die Verbeugungen gegen die Damen und Schritte geübt. Dann kamen Polka und Tyrolienne dran. Während ich diese leicht begriff, bereitete mir der Walzer Schwierigkeiten. Anfangs wurde im Saale des »Deutschen Kaisers«, am Ende in der »Wartburg« geübt. Merkwürdigerweise habe ich in dieser Tanzstunde, als deren Eleve, den ersten Streik in[126] meinem Leben mitgemacht. Wir bekamen Differenzen mit dem Tanzlehrer Müller, weil er uns nicht anständig behandelte. Namentlich wenn ein Mädchen sitzen blieb, brüllte er die Herren an: »Warum engagieren Sie sie nicht?« Er schnauzte dann alle an und entschuldigte sich kaum. Wir aber meinten auch schon, daß wir uns nicht Schafköpfe titulieren zu lassen brauchten; denn hier waren wir die, die ihn leben ließen. Hier brauchten wir uns also nicht zu ducken wie in der Fabrik, sondern konnten uns gewissermaßen in die Brust werfen und sagen: »Du lebst von uns, also wollen wir auch höflich von dir behandelt sein.« Als er sich also nicht änderte, sondern einfach die Tanzstunde beendete, wenn einer einmal nicht tanzte, erklärten wir durch den Vorstand den Streik. Schon nach einer Woche hatte der Mann auch klein beigegeben, und die Sache nahm ihren Fortgang. Der abschließende Prüfungsball wurde zu einem prächtigen Feste. An dem Abend leistete ich mir auch eine Portion Entenbraten, das einzige Mal in meinem Leben, daß ich Ente gegessen habe. Bei der Vertilgung derselben erklang plötzlich eine weibliche Stimme hinter mir: »Nun, Herr Bromme, lassen Sie es sich nur gut schmecken.« Ich blickte mich neugierig nach dem Störenfried um, und siehe da, es war meine Mutter, die ihre Stimme verstellt hatte. Seit ich denken konnte, war sie nicht zu irgend einem Vergnügen gewesen, und hier war sie, ohne mir vorher etwas gesagt zu haben, erschienen. Sie wollte jedenfalls ihren Erstgeborenen und den ihr gleichfalls wie ein Kind ans Herz gewachsenen Paul Bauer einmal tanzen sehen.

Mittlerweile hatte unser Hauswirt seine Bäckerei verkauft. Ein junger, eben erst verheirateter Bäcker Namens Reisemann aus Stöbnitz hatte sie erstanden. Bei diesem arbeitete ein gewisser Lorenz, mit dem ich schon im Jünglingsverein zusammen gewesen war. Dort hatte er einmal einen Vortrag über die Schlacht von Saarbrücken gehalten. Saarbrücken war seine Heimatstadt. Auch dem Posaunenkorps des Jünglingsvereins gehörte er als Pistonbläser an. Mit diesem kam ich nun jeden Mittag und oft auch Abends zusammen. Es war ein frommer, ja schon mehr bigotter Mensch, der geradezu blind gegen alles war, was nicht mit der[127] Kirche zusammenhing. Nur eine Schwäche hatte er, die Mädchen. Da lief er einer gewissen Ring nach, der er Zuckerdüten oft für eine Mark und mehr kaufte; dennoch hielt sie ihn zum Narren. Einem Handwerksburschen aber gab er fast nie etwas, namentlich gegen »alte Kunden« war er fromm bis zur Gefühllosigkeit. Eines Sonntags Vormittags sprachen wir über die Bibel und da zitierte ich ihm das 13. Kapitel des Buches Jesus Sirach und vor allem den 5. Vers: »So lange du dem Reichen nütze bist, braucht er dich und er tut schön mit dir und lächelt dich an, aber wenn du nicht mehr kannst, läßt er dich fahren.« Und als er mir vom Himmel erzählte, daß dort eitel Freude und Wohlgefallen sein solle, da zitierte ich das Evangelium Johannis, Kapitel 3, Vers 13: »Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist.« Das hatte ich vom alten Schuhmacher Schlenzig gehört, der die »Arbeiterchronik«, das damalige Parteiblatt, allwöchentlich zu uns brachte. Da wandte sich Lorenz von mir ab und sagte: »Bromme, Du bist ein Sozialdemokrat, hebe Dich weg von mir.« Das war das erste Mal, daß mir ein Mensch den Sozialdemokraten aufs Gesicht zusagte. Ich zählte damals rund 16 Jahre. Fünf Minuten später blies der Bäcker einen Choral auf seinem Piston. Er wollte sich offenbar von den Worten des Zweiflers reinigen. Wie ich späwr hörte, hat er es noch weit gebracht. Er ist von der Missionsgesellschaft ausgebildet worden und entweder nach Afrika oder nach Tranckebar in Ostindien als Missionar gegangen. Seine Frömmigkeit war in meinen Augen nur schlaue Berechnung. Hoffentlich hat er wenigstens recht vielen Heiden das wahre Evangelium Christi verkündet.

In jenem Sommer – es war der von 1889 – hatten wir auch einen Stammtisch zum »Frohsinn« gebildet. Der Namen »Lausejungenverein« hätte freilich besser gepaßt; denn er wurde rein zur Geldausbeutung für uns. Der Zweck des Vereins war, es sollte Theater gespielt werden. Dazu wurden extra Titel verliehen. Franz Öttler, der auf der Mundharmonika und der Guitarre ein wirklicher Virtuose war, bekam den Titel »erster Gesangskomiker«. Arno Göthe wurde »erster Dramatiker, Charakterspieler und Sänger«,[128] Paul Bauer »erster Liebhaber und Charakterkomiker«, W. Bromme »Regisseur und Bonivant«, O. Diener »Komiker«, Mehlhorn »Souffleur«. Erster Vorstand war Franz Öttler, zweiter Paul Bauer, Kassierer: M. Mehlhorn und Schriftführer A. Göthe. Vereinsdiener Markert. Die erste Abendunterhaltung wurde am dritten November 1889 im Restaurant »Zur grünen Aue« veranstaltet. Auf dem Programm standen 1. »Was man auch hört, was man auch sieht« vorgetragen von A. Göthe. 2. »Die Unschuld vom Lande«, Kouplet von P. Bauer. 3. »Der Jude und sein Exerziermeister« von P. Bauer und W. Bromme. 4. »Die Handwerksburschen«. 5. »Die Ruinen von Liebenstein«. Komisches Intermezzo. 6. »Der zerstreute Professor« von F. Ötller. 7. »Hirsch als Handelsmann« von Göthe. 8. »Der Schwerhörige«. Zu diesem Kohl waren auch einige alte Männer anwesend. Was die über die Jungens gedacht haben werden, ist mir indes nicht bekannt geworden. Es kostete uns schweres Geld und Montags hatten wir kaum noch 10 Pfennige im Besitz.

Inzwischen war ich bei Schramm als Stanzer entlassen worden und hatte wieder als Polierer bei Valentin Donath angefangen. Der Besitzer selbst, der uns als Kegeljungen immer beschenkte, war jedoch verstorben. Hier war ich aber recht in die Traufe gekommen. Jetzt mußte ich wieder, nun noch mehr als früher, Schnaps und Bier holen, denn um mich herum arbeiteten meist 17 bis 20jährige Burschen, die alle viel Geld verdienten. Da mußte ich immer auf der Achse sein. Montags und Sonnabends namentlich kam ich selten an meine Bank. Was ich verdiente, erarbeitete ich mir immer in 4 Tagen. Das war infolgedessen auch bedeutend weniger als bei Schramms. Es schwankte zwischen 6 und 9 Mark. Bald kam der eine Montags und wollte eine saure Gurke haben, der andere für 5 Pfennige Sardinen, der dritte für 5 Pfennige rohes Sauerkraut, dann wieder einer für 7 Pfennige Nordhäuser mit Himbeer oder Nordhäuser mit Rum oder Kümmel mit Rum, auch Bier usw. Von jedem mußte ich dann einmal mittrinken. Das war eines Sonnabends so viel gewesen, daß ich einen totalen Branntweinrausch hatte, als ich nach Hause kam. An dem bin ich bald gestorben.[129] Ich habe mich den ganzen Abend und noch am andern Sonntag vor Schmerzen gekrümmt wie ein Wurm. Ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt, so wäre diese Alkoholvergiftung tödlich verlaufen. Nun muß man bedenken, daß wir in unsrer Familie während unserer ganzen Kindheit niemals Schnaps und fast gar kein Bier zu trinken bekommen hatten, daß ich also in dieser Beziehung gar nichts gewöhnt war, und erst in dieser Spelunke wurde man, noch dazu von solchen Lausejungen, denen es zu wohl wird, förmlich vergiftet.

Dann kam das Jahr 1890. Man schrieb den 17. Februar. Da ging gegen 3 Uhr Nachmittags im Fabriksaale das Gerücht um, heute Abend spreche Bebel in Meerane über die am Donnerstag stattfindende Reichstagswahl. Als das auch mir zu Ohren kam, hatte ich nichts eiligeres zu tun, als meinen Rock anzuziehen und in die Pantoffelfabrik von Pohle zu springen, wo mein Vater arbeitete. Der Leser wird sich wundern, daß man damals so ohne Weiteres die Arbeit verlassen konnte. Ich habe mich später selbst darüber gewundert, wir aber nahmen diese Freiheiten als ganz selbstverständlich in Anspruch. Halb vier Uhr war ich bei den Pantoffelmachern und kurz nach 4 Uhr erfolgte auch schon unser Abmarsch nach Meerane. Fast alle Leute von Pohle nahmen daran teil. Wir wollten Bebel reden hören. Als wir eine halbe Stunde gelaufen und bis zur Nitzschkaer Brücke gekommen war, blieb mein noch immer leidender Vater stehen und klagte über Unwohlsein. Er war zu schwach und konnte nicht mit und mußte wieder umkehren. Er hatte Bebel schon 1867 in Zwickau reden hören. Gegen 7 Uhr, als wir den letzten altenburgischen Flecken Ponitz hinter uns hatten, begegneten uns die aus Meerane heimkehrenden Arbeiter. Wir fragten nach dem Versammlungslokal und erhielten zur Antwort: »Im Kaiserhof, aber Bebel spricht nicht, er konnte nicht kommen, Auer ist dafür da.« Obwohl wir nun etwas darüber enttäuscht waren, dünkte es uns doch auch der Mühe wert, einmal Auer zu hören. Wir frugen uns nun durch die Stadt nach dem Kaiserhofe. Als wir aber dorthin kamen, standen schon die Menschen bis auf die Straße hinaus. Im Hausflur kommandierten die Ordner: »Auf[130] der Galerie ist noch Platz. Aber Leute seht Euch vor, nehmt Euch in Acht, daß kein Unglück passiert.« In dem Saal selbst ging kein Apfel mehr zur Erde, viel weniger noch ein Mensch hinein. Tisch und Stühle waren alle herausbefördert worden. So kamen wir denn auf die Galerie. Wie, weiß ich selbst nicht, wir wurden mehr getragen als daß wir liefen. Wenn man atmete, so war es, als ob man vor einem heißen Ofen stehe und in dessen offenstehende Röhre den Kopf halte. Da meinte Schröder Karl zu mir: »Siehe mal zu, daß Du ein Glas Bier bekommst.« Er gab mir 15 Pfennige, ich drängelte mich zur Gaststube und erhielt dort ein Glas Bier. Ach, hätte ich doch auch eins haben können. Aber mein Portemonnaie war leer. Ich hatte nur noch 2 Pfennige. Und wie das volle Glas hinaufbringen durch die auf der Treppe postierte Menschenmasse hindurch? Herab war ich leichter gekommen als hinaus. Da machte mich die Not oder vielmehr der Durst zum Lügner. Ich trank das Glas ziemlich bis zur Hälfte leer, dann versuchte ich den Aufstieg. Nach etwa 15 Minuten war ich oben. Schröder Karl meinte: »Na ja, bei der Menschenmasse ist das ja leicht erklärlich, daß Du das Glas nicht ganzbeinig herausbringen würdest.« Nun lauschten wir der 2 1/2stündigen Rede Auers. Ich habe nicht viel davon vernehmen können. Auf dem linken Ohr hörte ich schon damals schlecht und ich stand in den letzten Reihen der hintersten Galerie. Manches aber hatte ich trotzdem aufgefangen. Gegen 1/4 12 Uhr war er zu Ende. Seine letzten Ausführungen geißelten die Kriegs-Schwindelmanöver bei den 1887er Wahlen. Er forderte die Wähler zur Entfaltung rührigster Tätigkeit auf, und der Wahlkreis wurde denn auch damals von Auer wieder erobert. Beim Verlassen des Kaiserhofes erfuhren wir, daß aus Schmölln im Ganzen über 60 Mann da waren, aber auch aus Gößnitz, Altenburg, Glauchau und Krimmitschau waren Viele erschienen, die alle Bebel hatten hören wollen. Nun traten wir den Heimweg an. In der Schenke zu Guteborn bei Meerane, durch deren Gaststube die altenburgisch-sächsische Grenze laufen soll, wurde eingekehrt. In dieser Kneipe wurde zunächst natürlich über die Versammlung, dann über die Wahl im Allgemeinen gesprochen und endlich trug einer freie,[131] politische Lieder vor. Ich habe nur ein paar Verse gemerkt von den vielen, die der Mann sang. Ein Lied begann: »Ich bin Soldat, doch bin ich es nicht gerne, – als man mich nahm, hat man mich nicht gefragt, – man schleppt mich fort, hinein in die Kaserne, – gefangen werd ich, wie ein Wild gejagt. – Ja, von der Heimat, von des Liebchens Herzen – mußt ich hinweg und von der Freunde Kreis, – denk ich daran, fühl' ich der Wehmut Schmerzen, – fühl in der Brust des Zornes Glut so heiß.« Auch der letzte Vers davon ist mir halb im Gedächtnis haften geblieben: »Ihr Brüder all' ob Deutsche, ob Franzosen, – ob Ungarn, Dänen, Ruß- und Niederland, –– ob grün, ob rot, ob blau ob weiß die Hosen, – reicht Euch statt Blei zum Gruß die Bruderhand.« – Dann wurde noch nach der Melodie von Andreas Hofer gesungen »Wer schafft das Gold zu Tage, wer hämmert Erz und Stein?« Auch dieses hörte ich hier zum ersten Male und im Kreise dieser ernsten und doch zur Heiterkeit aufgelegten Männer gefiel es mir viel besser als in dem Saufklub »Stammtisch Frohsinn«. Einer, Tismer mit Namen, gab noch extra 1/4 Tonne Bier zum besten. Auch das behagte mir, denn nun konnte ich doch endlich meinen Riesendurst löschen, der mich den ganzen Abend gequält und der sich in der rauchdurchschwängerten Gaststube noch verschärft hatte. Gegen 1/2 3 Uhr Morgens rückten wir endlich ab. In einem Gehölz wurde eine lange Stange los gemacht und mehrere rote Taschentücher daran befestigt. Wilhelm Tismer wurde von 2 Mann untergefaßt, denn er war lahm und müde auf den verkrüppelten Beinen geworden. Auf dem ganzen Wege wurden Lieder gesungen, aber das waren nicht lauter revolutionäre, denn eins war dabei, das ich nicht wieder gehört habe, das aber sehr patriotisch klang. »An der Weichsel fern im Osten, – stand ein Ulan auf seinem Posten, – ei sieh da kam ein schönes Mädchen, – brachte Blumen aus dem Städtchen, – ei sieh da kam usw. usw.« Als wir in Schmölln einzogen, war es gegen 6 Uhr. Die Arbeiter gingen wieder zur Fabrik, wir aber tranken zu Hause erst Kaffee und taten dann das gleiche. Schlafen gab es nicht!

Nur zwei Tage später, am Mittwoch, hatte ich wiederum Gelegenheit,[132] eine sozialdemokratische Wählerversammlung zu besuchen. Allerdings, nur Wähler hatten Zutritt. Ich war aber mit meinen 16 1/2 Jahren doch mit darunter und es hat mich niemand angehalten. Das waren meine ersten politischen Versammlungen, an denen ich teilnahm.[133]

1

Vgl. meinen Artikel »Die Steinnußknopffabrikation« »Neue Welt« Jahrg. 1904.

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 91-134.
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Papa Hamlet

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1889 erscheint unter dem Pseudonym Bjarne F. Holmsen diese erste gemeinsame Arbeit der beiden Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf, die 1888 gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Der Titelerzählung sind die kürzeren Texte »Der erste Schultag«, der den Schrecken eines Schulanfängers vor seinem gewalttätigen Lehrer beschreibt, und »Ein Tod«, der die letze Nacht eines Duellanten schildert, vorangestellt. »Papa Hamlet«, die mit Abstand wirkungsmächtigste Erzählung, beschreibt das Schiksal eines tobsüchtigen Schmierenschauspielers, der sein Kind tötet während er volltrunken in Hamletzitaten seine Jämmerlichkeit beklagt. Die Erzählung gilt als bahnbrechendes Paradebeispiel naturalistischer Dichtung.

90 Seiten, 5.80 Euro

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