Mein Familienleben

[351] Wer dieses Kapitel über mein Familienleben durchgelesen hat, wird mit Recht der Meinung sein, daß ich weder ein Mustergatte, noch Mustervater bin, noch daß meine Ehe und mein Haushalt irgendwie ein Muster ist. Ich habe eben, wie alle nicht ganz indifferenten Menschen auch meine Eigenheiten. Man gewöhnt sich mit der Zeit vollständig an ein Leben von der Hand in den Mund, wird sozusagen zum Sanguiniker und läßt schließlich fünf gerade sein. Währenddem ich aber wenigstens immer auf ein paar Groschen Geld halte, so daß ich niemals ganz blank bin, ist bei meiner Frau das Gegenteil der Fall. Oft hat sie schon am Sonntag kaum noch 2 Mark zum Leben für die ganze Woche gehabt von den 13–14 Mark Kostgeld, die ich ihr geben kann. Bei einer 8köpfigen Familie ist dies ja auch kein Wunder. Wenn ich aber in solchem Falle trotzdem die Hände über den Kopf schlage und räsonniere, daß sie auch mit 20 Mark nicht auskommen würde, wenn ich ihr soviel geben könnte, dann läßt sie sich herbei, mir einmal etwas vorzurechnen: »Soviel habe ich für kleinere Wirtschaftsbedürfnisse ausgegeben, 2 Brote stehen draußen, 2 Stück gute Butter und 1 Stück Margarine.« Ich will nämlich hier gleich bemerken, daß ich nicht zum Margarineessen zu bewegen bin. Ich esse Kuhbutter, die Frau mit den Kindern Margarine. Manchmal hat sie mich dennoch beschummelt. Ich schmeckte es aber sofort. »Weiter 60 Pfennige für Petroleum, 1,50 Mark für Milch, 2,50 Mark hatte ich von der Mutter geborgt und mußte es zurückzahlen, dem Schuster habe ich 2 Mark bezahlt, 1 Mark dort, 1 Mark da, 1,50 Mark für Fleisch, 50 Pfennige für Wurst, 20[351] Pfennige für Käse.« Ja, dann mußte ich ihr freilich Recht geben, wenn sie mir barsch entgegnete: »Ich habe es nicht verfressen.« Meine Frau fuhr manchmal die Kinder an: »Ihr freßt uns noch die Haare vom Kopfe herunter.« Aber Kinder haben stets einen gesunden Appetit. Ich selbst ließ mir von ihr auch durchaus nicht mehr abfordern; nur in der höchsten Not gab ich noch ein oder zwei Mark von dem weggelegten Mietzins heraus. Trotzdem ich auch einmal mit einer »Schmalzstulle« oder einer »Butterbemme« zufrieden war, wollte es bei der Arbeit doch nicht so recht rutschen Solange ich aber in der Holzschuhfabrik arbeitete, konnte ich mir höchst selten einmal für einen Groschen Wurst leisten, doch bei Wesselmanns in Gera mußte mindestens ein Käse oder für 5 Pfennige Sardinen oder ein Bückling werden; zum Frühstück trank ich Kaffee, den man sich von zu Hause mitnahm, zum Vesper aber mußte ich auch noch ein Glas Bier haben und wenn man ankreiden ließ. Während manche Kollegen bei Wesselmanns für 3 Mark die Woche über »Latte machten«, waren mir schon 50 Pfennige viel. Sonnabends, wenn es Geld gab, leistete ich mir auch manchmal kulinarische Genüsse, für 20 Pfennige gekochten Schinken oder für 20 Pfennige Roquefortkäse, oder eine Büchse Ölsardinen für 38–45 Pfennige, oder ein paar Frankfurter Brühwürstchen. Einmal sogar verstieg ich mich zu einem Viertelpfund Lachs. Da hatte ich 25 Mark verdient, der höchste Lohn, den ich in meinem Leben, leider auch nur das eine Mal, erreicht habe. Allerdings, wenn einzelne der lieben Verwandten erfahren, daß man sich zu solchen Leckenbissen versteigt, so wird einem Verschwendung nachgesagt. Dann heißt es: »Die mögen erst ihre Schulden bezahlen, oder ihren Kindern ein paar ordentliche Schuhe kaufen, ehe sie solche Sachen essen.« Diese Dinge sollen eben nur für die oberen Zehntausend da sein und wahrlich, man wendet doch nie mehr als 50 Pfennige dafür an. Dann verteilt man es noch mit an die Kinder, und so kommt für jeden Kopf nur ein Brocken; denn mein Grundsatz ist der: ich mag haben was ich will, da kriegen auch die Kinder davon. Ich mache es nicht wie manche Leute, die Leckereien essen, wenn ihre Kinder zu Bette sind.[352]

Wenn auch einmal ein scharfes oder grobes Schimpfwort zwischen mir und meiner Frau fällt, so liebe ich doch meine Familie unaussprechlich. Ebenso ist mir auch ein Kind so lieb als das andere, keins wird bevorzugt, leider muß ich aber zugeben, daß ich nicht streng genug gegen sie bin. So durften z. B. wir Kinder zu Hause beim Essen am Tische keinen Mucks tun, während meine Sprößlinge den Schnabel nicht halten können. Vielleicht werde ich es später einmal zu bereuen haben, Natürlich ist es nicht möglich, daß, wenn die Frau zu Hause noch durch Arbeit zum Lebensunterhalt beitragen muß, die Kinder so aufgepäppelt werden können, wie das sonst geschehen könnte. Am meisten muß sich die Mutter mit ihrer Fürsorge dem jüngsten Kinde zuwenden. An körperliche Wartung kann bei den Frühergeborenen wenig gedacht werden. Am wenigsten da, wo noch Hausarbeit verrichtet wird. Ich habe schon oft mit Groll die schweren Webstücke betrachtet, die in meiner Stube liegen und den Platz wegnehmen. Bei jedem Zuge, den meine Frau an ihnen tut, wirbelt eine Unmenge Staub auf, und so ist es kein Wunder, wenn der Organismus meiner Kinder schon frühzeitig mit Bakterien und Bazillen infiziert wird. Es ist traurig, aber was läßt sich dagegen tun? Die paar Groschen, welche die Frau damit verdient, werden so nötig zum Leben gebraucht. Selbstverständlich geht dadurch auch die ganze Wirtschaft zurück, weil sie nicht sorgfältig genug behandelt werden kann. Es verstaubt und verdreckt alles in kaum 2 Tagen und meine Frau hat dann wieder einmal bis nach Mitternacht hinein zu wischen und zu reinigen; denn sie ist ziemlich reinlich. Wo Dreck und Unordnung ist, gefällt es ihr nicht. Deshalb hat sie auch oft ihren Ärger über die Kinder, die ihre Ordnung oft in kürzester Frist wieder in Unordnung machen, wenn sie hinaus auf die Straße laufen und in 5 Minuten wiederkommen, wodurch sie natürlich Schmutz hereintragen. Dann schimpft die Mutter: »Nun hat man die halbe Nacht Schlaf geopfert und sich geplagt, rein für umsonst, jetzt könnte ich schon wieder mit Wischen und Reinemachen anfangen!«

Im Anfang unserer Ehe hatten wir öfter Zwiste; damals war ich auch viel leichter erregbar als jetzt. Einen besonders heftigen[353] Strauß hatte ich im zweiten Jahre nach meiner Verheiratung, der mich seelisch so aufregte, daß ich schon einmal am Rande des Baderteiches stand. Nur um meiner Kinder willen bin ich damals nicht hineingegangen. Und dabei war die Ursache zu diesem unseligen Konflikt der reine Klatsch! Ich saß eines Sonnabends Abends im Restaurant »zum Schwan«, als sich ein Anstreicher an mich heran machte, dessen Frau mit der meinigen zusammenarbeitete. Er flüsterte mir zu, daß ich ihm dauere. Auf meine erstaunte Frage nach dem Warum meinte er, meine Frau stehe stark im Verdacht, mit dem Buchhalter der Fabrik Liebelei zu treiben. Seine Frau wolle sie vor kurzem nach Arbeitszeit mit ihm zusammen nach meiner Wohnung gehen gesehen haben. Ich stürzte wie ein Besessener nach Hause und fuhr meine Frau an, ging auf sie los und frug, wie sie mich hintergehen könne. Jetzt war natürlich das Erstaunen an ihr. Als ich ihr die Sachlage klar legte, wies sie natürlich diese Unterschiebe als grobe Verleumdung zurück. Sie leugnete nicht, daß sie mit dem Manne einmal von der Arbeit ein Stück Wegs zusammengegangen sei, aber nur eine harmlose Unterhaltung gepflogen habe. Sie sei doch kein Stock, daß sie nicht mit den Leuten reden solle. Das war mir natürlich Aufklärung genug, und seitdem ist in dieser Beziehung zwischen uns beiden Gatten auch nichts wieder vorgefallen. Im Gegenteil, wir haben, abgesehen von den vom Mammon hervorgerufenen Uneinigkeiten stets glücklich zusammen gelebt. Ich hatte auch meiner Frau solche Gemeinheit nicht zugetraut, muß aber gleich hier bemerken, daß in den Webereien solche »Eheirrungen« schon öfters vorgekommen sind, und gerade dieser Buchhalter wurde zwei Jahre später von einem hintergangenen Ehemann schwer ausgehauen – aber nicht in Stein.

Als mein zweites Kind angekommen, war es, wie ich früher schon erwähnte, auch mit der Fabrikarbeit meiner Frau zu Ende. Dafür fing aber natürlich zu Hause Stückenausnähen an. Ich habe manchmal geschimpft, denn es kam öfters sogar 2 Mal in der Woche vor, daß ich früh gegen 3 oder 4 Uhr aufwachte, und meine Frau saß immer noch in der Stube und nähte Faden- oder Schlußbrüche[354] in der Ware aus. Für 4–6 Mark zwei Nächte Schlaf ohne die Tagesarbeit opfern, – das reibt doch auch die stärkste Natur auf. Und nun muß man bedenken: bei gewöhnlichstem Petroleumlampenlicht die feinen Webmaschen eine nach der anderen mit der Nadel durchziehen, – der Laie sieht die fehlerhaften Stellen ja gar nicht, – greift das die Augen an! Mitunter waren die Stücken so voller Fehler, daß sie die ganze Woche für 2 Mark arbeiten mußte, dann kamen auf die Stunde manchmal 2–3 Pfennige. Sie weinte manchmal darüber. Wieviele Flüche in die Stoffe von den Lippen meiner Frau mit eingenäht worden sind, ist nicht zu zählen. Wenn aber die Roben bei Herzog in Berlin oder auf Ballfesten und in Gesellschaften reden könnten, ihre Trägerinnen würden sie vor Entsetzen ausziehen müssen. Der Bissen würde ihnen an der reichbesetzten Tafel im Munde aufquellen. Wer ermißt diese Qual, am Tage und in der Nacht immer und ewig zu kratzen, zu nähen und zu sticheln, extra die häuslichen Arbeiten und die Kinder zu besorgen, um dann am Sonnabend einige Hungergroschen in die Hand gedrückt zu erhalten? Da ist es dann auch kein Wunder, wenn die Kinder manchmal zerrissene Unterkleider tragen müssen. Da ist es auch kein Wunder, wenn oft erst die Betten Abends kurz vor dem Schlafengehen gemacht werden, obwohl ich oft erregt darüber geschimpft habe. Unzählige Male habe ich angeordnet, daß die Betten gleich früh gemacht werden sollen. Und doch geschah es oft nicht, und nur wegen der geschilderten Umstände. Die Frau wurde darob mißmutig, ließ ihren Ärger und ihre Wut an den Kindern aus und stets erfolgte dann eine Kollision zwischen uns. Aber sie behielt dabei immer das Oberwasser. »Ich muß arbeiten, daß ich durchkomme, die Kinder brauchen wieder alle Kleider und Schuhe, das Bett ist noch zu bezahlen, auch der Sofatisch, auch das und jenes. Sonntags kommen die Leute gelaufen und wollen Geld haben, Du bekümmerst Dich nicht drum, die ersten Jahre mußte ich sogar noch für den Hauszins sorgen. Du läufst die Woche 3, 4 und 5 Abende in Partei-, Verbands- oder Konsumvereinssitzungen, und alles kostet Geld; mir machst Du nichts weis. Wenn ich mir da andere Männer[355] bedenke. Die helfen ihrer Frau viel mehr als Du, sehr selten bekommt man von Dir einen Eimer Wasser geholt. Da kommst Du Abends heim, redest nicht mit mir, gibst kurze grobe Antworten, schreibst, liest, bis Du einschläfst und mir dann die halbe Nacht hindurch wieder eine Kugel voll Öl verbrannt hast. Das nennst Du Ehe. Die Partei und Deine guten Freunde, denen doch meist die Falschheit aus den Augen schaut, die gehen vor. Sogar die Schuhe muß ich Dir noch putzen, wenn ich nicht haben will, daß Du ungewichst gehst. Dafür wird man kurz und grob behandelt.« Solche Gardinenpredigten (ich habe freilich gar keine Gardinen, sondern nur Vitragen) mußte ich öfters anhören. Wenn es mir dann gar zu bunt wurde, gab es Krach. Manchmal zeterte sie auch über die Kinder: »Solche miserablen Bälge hat im ganzen Orte niemand, aber sie können ja auch machen, was sie wollen, ihr Vater läßt ja alles zu,« hieß es dann. Wenn ich mich dann einmal aus Ärger an den Kindern vergriff und sie durchbläute, so fuhr die Mutter wieder dazwischen und schrie mich an: »Du willst sie wohl zuschanden schlagen und sie zum Krüppel machen?« Doch dann kochte ich vor Wut, warf ihr nicht gerade liebenswürdige Ausdrücke an den Kopf und fraß schließlich meinen Ärger in mich hinein, der mich noch nervöser machte. Einige Tage mied man sich dann, danach war wieder alles vergessen. Freilich so dumm wie ein Nachbar war ich nicht. Dieser, ein bayrischer Handarbeiter, hat mehrmals seine ganze Wirtschaft in der Wut und im Suff demoliert. Das gab es bei mir nicht, ich trank auch nie mehr als ich vertragen konnte.

Auch in finanzieller Beziehung, d. h. in Schuldenmachen konnte mir meine Frau nichts nachsagen, da ich stets meine Pflichten so gut es geht erfülle. Nur einmal traf uns doch ein Schlag, an dem ich die Schuld trug. Noch in meinen ledigen Jahren hatte ich einmal von einem Ronneburger Kleiderhändler nacheinander zwei Anzüge und den ersten Winterüberzieher bezogen. Als ich diese fast ganz abgezahlt hatte, nahm ich mir noch einen Anzug für 32 Mark, auf den ich 12 Mark bezahlt hatte, als der Konkurs bei dem Manne ausbrach. Ich bekam dann die Aufforderung, an[356] den Konkursverwalter den Rest zu entrichten. Einige Mark bezahlte ich auch, dann wurde ich nachlässig. So kam der Schlußtermin heran, als plötzlich die Frau des Kleiderhändlers eines Tages bei mir erschien und erklärte, daß sie die noch außenstehenden Forderungen angekauft hätte, und mich aufforderte, an sie weiter zu bezahlen. Ich hielt das für eine Lüge, bis ich plötzlich eine Klage zugestellt bekam. Ein Freund, dem ich die Geschichte offenbarte, riet mir, nicht zu bezahlen, da der Bankrotteur genug Leute betrogen hätte. Aber ich wurde natürlich zur Zahlung verurteilt. Ich zahlte trotzdem nicht, weil ich nun verheiratet war und wenig verdiente. Auch wollte ich meiner Frau nichts davon sagen. Es sollte mich bitter gereuen und meiner Frau schweres Herzeleid bringen. Es war gerade um die Zeit der ersten Dividendenzahlung im Konsumverein, also kurz vor Weihnachten 1901. Da ließ mir die Frau die Dividende von 39 Mark mit Beschlag belegen. Ich eilte zu ihr und versprach ihr von nun an eine weitere reelle Abzahlung. Sie verweigerte das. Ich bat sie fast fußfällig, meiner Frau und meinen Kindern das Weihnachtsfest nicht zu vergällen; umsonst, sie blieb hart. Um mir nun wenigstens die Schande vor den Konsumvereins-Verwaltungsmitgliedern zu sparen, lieh ich mir von meinem Vater das Geld. Ich bezahlte außerdem noch 22 Mark Kosten zu der Forderung; und als ich die Dividende im Konsumverein abhob, trug ich sie sofort zu meinem Vater, der das Geld auch nötig brauchte. Es war ein Glück, daß ich noch 20 Mark im Sparverein gespart hatte. So konnte ich doch wenigstens den fälligen Mietzins an den Schwiegervater entrichten. Diese traurigen Weihnachten vergesse ich nicht. Meine Frau weinte bitterlich. Mir wollte das Herz darüber brechen. Jetzt war weder an Weihnachtsbraten noch an Stollenbacken zu denken. Ich mußte froh sein, daß mir die Schwiegermutter, die übrigens von der ganzen Angelegenheit nichts erfahren durfte, einen Stallkarnickel schenkte. So hatte ich wenigstens einen Braten für die Kinder. Von dem letzten Wochengeld buk meine Frau am heiligen Abend noch ein paar Kartoffelkuchen, daß es wenigstens aussah wie Weihnachten. Den Christbaum brachte mir ebenfalls der[357] Schwiegervater aus dem Forst mit. Und wenn es auch nur eine Fichte war, die Kinder freuten sich dennoch darüber.

Der größte Ärger meiner Frau ist mein spätes Nachhausekommen an den Sonnabend-Abenden. Aller 14 Tage Sonnabends gehe ich nämlich aus und zwar in die Sitzungen des Holzarbeiterverbandes, dessen Kassierer ich seit der Gründung bin, und die ich also wirklich nicht versäumen darf. Aber auch darüber nörgelte manchmal die Ehehälfte: »Wenn Du wenigstens nach Versammlungsschluß nach Hause kämst, ließe ich es mir noch gefallen, aber um 2 oder 3 Uhr wird es ja sicher wieder. Da wette ich drauf.« Ich entgegne dann: »Ach Unsinn, um 1/2 12 Uhr bin ich spätestens zurück.« Aber meine Frau behält gewöhnlich Recht. Bis 1/2 12, manchmal um 12 Uhr dauern die Sitzungen, weil sie vor 1/2 10 Uhr selten beginnen. Danach wissen die Kollegen schon Themata anzuschneiden, die mich fesseln. So vergesse ich mich oft und ärgere mich dann gewaltig, wenn meine Gattin mir Vorwürfe macht, daß ich nicht gescheit würde und in meine Gesundheit hinein stürme. Oftmals nahm ich mir schon vor, diese Sonnabendskneiperei sein zu lassen und meiner Frau zu folgen, aber bald sind alle guten Vorsätze wieder vergessen. Man denkt, morgen ist ja Sonntag, da kann man ausschlafen. Wenn ich aber von meiner dritten Kur nach Hause zurückgekehrt sein werde, dann will ich gewiß vernünftig werden.

Öfters, wenn ich von der Arbeit kam, traf ich meine Lebensgefährtin schon weinend an. Wenn es himmlische Mächte geben sollte, so muß sie sie kennen gelernt haben; denn sie hat ihr Brot oft schon mit Tränen gegessen und mehr als einmal in kummervollen Nächten weinend in ihrem Bette gesessen, wenn sie z. B. die liebe lange Nacht hindurch wegen Kindergeschreies nicht schlafen konnte. So ein Konzert wirkt, wenn es Nächte durch stundenlang anhält, geradezu nervenzerrüttend. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn der Gummilutscher ständig als Beruhigungsmittel dient. Alles ruht auf den Schultern der Mutter: »Mama, ich muß mal trinken,« »Mama, ich muß mal raus,« so geht es weiter. Früh soll die Frau dann ausgeschlafen haben. So verzweifelt[358] sie manchmal und schreit dann die Kinder an wie ein Feldwebel die Rekruten. Aber auch wenn sie Nachts still sind, hat die Frau doch keine rechte Nachtruhe. Denn es schlafen zwar 3 Kinder in einem Bett, ein Knabe schläft mit mir, aber die zwei kleinsten mit der Mutter, selbst wenn diese hochschwanger ist. Es ist einmal nicht anders möglich. Man schafft nicht früher ein Bett an, bis die allerhöchste Not da ist. Denn bar bezahlen kann man es doch nicht. Dabei sind meine Betten nicht etwa zweischläfrige, sondern sie sind nur 90 Zentimeter breit. Und selbst das Stroh dafür ist heute ziemlich teuer geworden, denn leider habe ich es auch noch nicht zu Matratzen gebracht, obwohl durch Stroh viel mehr Schmutz und Staub entsteht. Auch meine wollene Decke, die ich in der Heilanstalt benutzte, kommt als Zudecke sehr zu statten. Im Winter kommt mein alter Überzieher noch drauf. So ist das Elend beim Schlafen besonders groß. In dem einen Bett schlafen, wie schon gesagt, die 3 Mädchen im Alter von 10, 7 und 5 Jahren. Solange ich in der Heilstätte bin, haben sie es freilich besser, da brauchen sie nur zu zweien zu schlafen. Wie oft hat es mich aufs tiefste geschmerzt, daß meine Frau stets und ständig bei den Kindern zu Hause sitzen muß und sich gar nichts bieten kann. Andere gehen Sonntags Nachmittags spazieren, sie muß in ihrem Loche bleiben. Oft schon hat sie gejammert: »Ich lebe schlechter wie ein Zuchthäusler oder wie ein alter Hund.« Wenn die Spaziergänger vorbeiziehen, dann schaut sie wehmütig durchs Fenster. »Die hat schon wieder ein neues Kleid; unsereins kann sich nicht rechtschaffen einen Rock zulegen!« Wenn ich sie auffordere, einmal mit zu irgend einer Parteiveranstaltung zu kommen, dann heißt es wieder: »Ich hab nichts anzuziehen; in der Fahne, wo ich schon 50 Mal gelaufen bin, gehe ich nicht und laß mich anklotzen, wie ein aus dem Käfig entflohenes Tier.« Tatsächlich hat sich meine Frau während den 10 Jahren unserer Ehe, abgesehen von einem Rock und 2 bis 3 Blusen, noch kein neues Kleid schaffen können. Ich selbst war natürlich auch nicht in der Lage, ihr eins zu kaufen. Bei mir ist das bequemer; wenn ich einen Anzug abgezahlt habe, was natürlich auch bald zwei Jahre dauert, dann nehme ich mir[359] einen neuen, wiederum natürlich auf Kredit. Auch mit dem Schuhwerk müssen wir uns selbstverständlich auf das Notdürftigste einschränken. Die Kinder schlachten auch davon viel nieder. Wie lange reichen ein paar Stiefelsohlen? Kaum 4 Wochen! Man hat fast allwöchentlich 2 Mark dem Schuhmacher zu bezahlen. Dann brauchen die Kinder auch wieder einmal ein Kleidchen oder einen Anzug, und trotzdem das nicht aller Vierteljahre vorkommt, so fällt es anzuschaffen doch unsäglich schwer. Dazu kommt die Miete mit 96 Mark jährlich, die Steuern, das Schulgeld. Es wird einem Angst und Bange, wenn man bei Tische die sechs Sprößlinge einhauen sieht. Und doch, bei geregeltem Verdienst mag es immer noch gehen. Man fühlt sich nach der schweren Tagesarbeit wohl und angenehm erschlafft, namentlich Sonnabends, wenn man den Wochenlohn in der Tasche trägt, ist man so wohl und frei gestimmt, daß man bei einer guten Zahlung die ganze Welt umarmen möchte. Ich habe es freilich nie gemacht wie manche Arbeiter, die nach Arbeitsschluß erst eine Kneipe aufsuchen und bis in die Nacht sitzen, sondern bin stets nach Hause gegangen; denn die Frau wartet mit Schmerzen auf ihr Wochengeld, damit sie etwas zu essen kaufen kann. Die letzten 2 Tage in der Woche ist ja stets Schmalhans Küchenmeister. Aber wehe, wenn man arbeitslos oder krank wird! Ersteres ist noch schlimmer als das letztere, wenn auch der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter bis zu 6 Wochen eine Unterstützung von 6 bis 10 Mark bezieht. Wenn man aber nicht mal organisiert ist, dann zieht unaussprechliches Elend in die armen Familien ein. Man muß bei dem Krämer und überall pumpen, und doch sind Hunger und Not die täglichen Gäste. Verdient man daneben ein paar Pfennige durch Gelegenheitsarbeiten, dann werden sie gewöhnlich, wer nicht einen ganz festen Charakter besitzt, in Schnaps umgesetzt, um für einige Stunden das erbärmliche Dasein zu vergessen. Ich habe tieftraurige Fälle in solchen Zeiten gesehen, über die ich allein ein kleines Buch schreiben könnte. Wie glücklich ist dagegen der Proletarier, der ein Interesse für Politik, für Kunst und für Wissenschaft hat. Leider wird er von den versumpften Lumpenproletariern gewöhnlich[360] verachtet und verspottet. Deshalb ist auch eine tiefe Kluft in dem Proletariat vorhanden: auf der einen Seite steht die gebildete, nach den höchsten Gütern der Menschheit und nach der Gleichberechtigung mit den herrschenden Klassen strebende Arbeiterschaft, auf der anderen das in Schnaps, Unwissenheit, Not und Elend verkommende Lumpenproletariat, die Hefe der menschlichen Gesellschaft, die nur stumpfe, tierische Instinkte kennt und ohne jede geistige Beschäftigung dahinlebt. Am meisten dauern mich die Kinder solcher Armen. Sie müssen schon vom ersten Tage ihres Lebens an unter unsäglichen Entbehrungen leiden, obwohl auch in ihrem Innern ein Menschenherz schlägt.

Schlimm aber auch, selbst für den Arbeiter, der nach dem Höchsten strebt, sind Zeiten der Krankheit. Man soll da noch besser leben wie sonst, sich stärkende Nahrungsmittel kaufen: und das Krankengeld beträgt gewöhnlich nur die Hälfte des Arbeitsverdienstes! Es kommen dann Stunden, in denen der Verstand vollständig versagt. Mir haben in solcher Lage schon manchmal Leute geraten: »Wenden Sie sich doch einmal recht innig an den lieben Gott. Er wird schon helfen, wenn sich keine menschliche Hilfe zeigt. Früher, als ich noch im Ungewissen dahinlebte, habe ich es mitunter auch versucht und recht herzlich gebetet, wenn ich Abends auf meinem armseligen Lager lag, daß er mich und die Meinen nicht mehr Not leiden lassen solle; aber geholfen hat er mir nie. Ich habe wenigstens nichts davon gespürt; ich mußte mir immer wieder selbst helfen. So habe ich mir mit der Zeit denn auch ein eignes Glaubensbekenntnis geformt. An einen Gott im Sinne der Kirche kann ich nicht glauben. Ich sehe einen Gott in der ewig zeugenden Kraft der Natur, in ihren wunderbaren, herrlichen Gebilden und Geschöpfen, in ihren landschaftlichen Schönheiten, von denen ich freilich leider so wenig bis jetzt gesehen habe. Ebensowenig glaube ich an ein Wiedersehen oder ein Weiterleben nach dem Tode. Die Unsterblichkeit des Menschen kann ich höchstens in dem Fortleben seiner Kinder und Kindeskinder erblicken. Die Seele des Menschen ist ja doch nur das Leben, und wenn dieses ausgehaucht ist, kann selbstredend auch die Seele nicht mehr sein. Diese meine[361] Überzeugung ist heute in mir ganz festgewurzelt. Aber ich beneide gleichwohl die gläubigen Christen, denen der Tod nicht so schrecklich vorkommt, weil sie an ein Weiterleben in einem erträumten Jenseits glauben, wo sie keine Sorge und keine Not mehr haben. Mich überläuft noch heute stets ein grauenhaftes Gefühl, wenn ich an den Tod denke. Und doch kann sich eigentlich auch der Atheist und der Ungläubige in dieser Beziehung beruhigen. Er zollt ja nur der Natur seinen Tribut. Während der Verwesung leben noch die auf seinem Grabe wachsenden Pflanzen von ihm. Trotzdem kommt mir das Begraben- oder Verbranntwerden so schrecklich vor. Woran das liegen mag? Im Gegensatz zu mir hat mein Vater, der auch wirklich nicht ganz ungebildet ist, oft schon geäußert: »Meinetwegen können sie mich nach meinem Tode hinwerfen oder hinschleifen, wohin sie Luft haben.« Meine Frau redet überhaupt nicht darüber. Nach Andeutungen von ihr zu schließen, betrachtet sie den Tod nur als Erlösung von ihren vielen Sorgen und Qualen. Ich aber klammere mich so fest an das bißchen Leben!

Viel habe ich über meine Häuslichkeit nun nicht mehr zu sagen. Nun noch eins: wie in den Klassen des Mittelstandes so ist auch beim Arbeiter der Waschtag ein kritischer Tag im Hause. Meine Frau litt auch hier wieder darunter, während der Werktage diese Arbeit nicht verrichten zu können, um jede freie Minute der Erwerbsarbeit widmen zu können. Alle 14 Tage, spätestens drei Wochen wird deshalb ein Sonntag dazu benutzt. Sonnabend Abend fängt die arme Frau schon mit der Sache an und wäscht bis Mitternacht. Früh um 4 Uhr, spätestens 1/2 5 Uhr steht sie dann schon wieder am Bottich, um noch etwas fertigzubringen, bevor die Kinder erwachen. Will eins derselben trotzdem zeitig heraus, so wird die Mutter böse, weil sie dann von der Arbeit weglaufen muß. Geschieht es dennoch, so müssen sie wenigstens, nur mit dem allernotdürftigsten bekleidet, auf der Küchenbank sitzen bleiben, bis alle zur Stelle sind; dann wird schnell Kaffee getrunken, die Kinder werden gewaschen und angezogen, und nun gehts wieder über die Wäsche her. Mit einer kurzen Unterbrechung zur Bereitung[362] der Mittagsmahlzeit, ist dann meine Frau unausgesetzt bis zum Abend tätig, um endlich totmüde ihr Lager aufzusuchen. Wenn ich an solchen Sonntagen Versammlung habe, zieht gewöhnlich schlecht Wetter am ehelichen Himmel herauf, ebenso schlechtes wie bei der Erörterung von Finanzfragen.

Ich will nun noch über meine Kinder berichten. Was mich am meisten schmerzt, so oft ich sie sehe, ist, daß ich die schlimmsten Befürchtungen wegen der Vererbung meiner Krankheit für sie hege. Die älteste, Hedwig, ist gegenwärtig zehn Jahre alt. Sie ist ziemlich intelligent, schreibt eine vorzügliche Handschrift, lernt sehr leicht und hat eine besondere Vorliebe für Bücher. Sie ist sehr ruhig und gesetzt. In der Schule wurde sie jedes Jahr glatt versetzt.

Von ziemlich entgegengesetztem Charakter ist meine zweite Tochter Erna. Nach dem Impfen war sie schwerkrank. Für Schularbeiten zeigt sie lange nicht das Interesse wie ihre ältere Schwester. Sie tummelt sich am liebsten im Freien und bringt es während der Ferienzeit fertig, nur zu den Hauptmahlzeiten nach Hause zu kommen. Alle Ermahnungen, Bitten, Schläge nützen dagegen rein gar nicht. Sie hat auch eine ausgesprochene Vorliebe für Tändelei. So nimmt sie häufig mein zweites Söhnchen her, schleppt es in die Kammer und putzt es in kuriosester Weise an. Sie weiß aus den einfachsten, harmlosesten Kleidungs- und Wäschestücken wahrhaft kunstvolle Maskenkostüme zusammenzustellen und das kleine Brüderchen damit herauszustaffieren. In der Minute darauf steht sie dann, selbst im Winter, vor dem offenen Kammerfenster und macht ihre Schularbeiten. Kaum aber sind die Utensilien wieder in den Tornister versenkt, so tollt sie auch schon wieder auf der Straße umher. Sie klettert auf 2 Meter hohe Palisaden, schlüpft durch lebendige Zäune, um das Obst in den Gärten aufzulesen, turnt an der Bahnbarrière herum, bändelt sogar mit Schuljungen an, und wehe diesen, wenn sie ihr etwas auswischen; sie zahlt es ihnen doppelt und dreifach heim. Ich habe schon beobachtet, wie sie einige Zeit später sich ganz harmlos dem Missetäter nähert, gar nicht tut, als ob sie sich um ihn kümmere, ihm dann aber[363] plötzlich eins versetzt und mit katzenartiger Geschwindigkeit von dannen eilt. Es ist freilich nicht gut, so ein wildes Kind gewähren zu lassen; aber was laßt sich tun, zumal die Mutter mit zum Lebensunterhalt beitragen muß? Sie ist sicherlich schon streng genug gegen sie. Öfter frägt meine Frau seufzend: »Ich möchte nur wissen, nach wem die geraten wäre.« Ich entgegne natürlich: »Auf keinen Fall nach mir.« Füge ich dann hinzu: »Vielleicht nach Dir,« so wendet sie sich stets entrüstet ab. Aber von ihren Schwestern habe ich gehört, daß sie als Kind gerade so wild gewesen ist, daß sie sich auch an den im schnellsten Traben vorbeisausenden Wagen gehängt hat, ein Stück mitfuhr und mitten im schnellsten Fahren wieder absprang. Die Not und die Sorgen haben sie seit dem freilich längst sanft und kirre gemacht.

Der dritte Sprößling meiner Ehe ist der älteste Sohn Ernst. Ich glaube, er ist zum Dulden geboren worden. Wie ich schon mehrmals erwähnte, hat er allein bis zum 7, Lebensjahr fünfmal die Lungenentzündung gehabt. Er spricht stark durch die Nase, hat also meinen chronischen Nasenkatarrh, der bei mir durch das Ohrenleiden entstand, auch mit geerbt. Mein Arzt riet mir, ihm die Drüsen auskratzen oder ausschneiden zu lassen, allein das kostet 25 Mark, und woher sollen die genommen werden? Überdies ist das Kerlchen jetzt schon ziemlich nervös. Meinen Hang zu Schule und Büchern scheint er nicht zu haben, er müßte sich noch ändern. Auch ihm haben wir vielleicht zu viel Willen gelassen. So hat er vor einiger Zeit aus Wut, weil ihm sein Wunsch nicht erfüllt wurde, mit der Hand eine große Fensterscheibe für 2 Mark eingeschlagen, und sich dabei erheblich an der Hand verletzt. Das Fell ist ihm darauf gründlich gegerbt worden, aber der jähzornige Charakter meines Vaters bleibt ja trotzdem vorhanden. Schon als ganz kleines Kind wälzte er sich auf den Stubendielen umher, wenn ihm sein Wille nicht erfüllt wurde. Er zog dann gewöhnlich auch noch die Strümpfe aus und warf sie von sich, lediglich um uns zu ärgern, weil wir nicht wollten, daß er bei seiner Kränklichkeit barfuß oder bloß in Strümpfen lief. Ich hatte erwartet, daß er schon im ersten Schuljahre sitzen bleiben[364] würde. Er ist aber doch versetzt worden, worüber ich mich allerdings freue. Bei ihm sind es sicher krankhafte Zustände, die sein exzentrisches Wesen hervorrufen. Könnte ich ihm eine Luftkur ermöglichen, vielleicht würde auch er noch einst zu einem gesunden Mann werden.

Jetzt folgt wieder ein Mädchen, Elisabeth, kurzweg »Liesel« genannt. Auch sie ist wieder ganz anders im Wesen, noch ruhiger als die Älteste. Sie spricht sehr selten ein Wort, ist mit allem zufrieden, was ihr gereicht wird und widerspricht nie. Wenn ihr etwas nicht paßt, so weint sie. Sie kann sich mit dem primitivsten Spielzeuge, das sie sich sogar selbst herstellt, stundenlang die Zeit vertreiben. Auf der Straße hält sie sich entfernt von ihren Altersgenossinnen. Sie meidet jeden Verkehr und steht gewöhnlich abseits von den andern, diese lediglich bei ihren Spielen beobachtend; selbst tut sie nicht mit. Höchstens mit dem gleichaltrigen Mädchen meines Schwagers, der die jüngste Schwester meiner Frau geheiratet hat, gibt sie sich ab und spielt mit ihr, eventuell auch mit meinem vorletzten Sohne Walter tummelt sie sich herum, aber weiter geht sie nicht. So ruhig ist sie in jeder Beziehung. Nie ließe sie sich herbei, einen fremden Menschen ohne weiteres zu begrüßen, wie das die Erna tut, vielmehr verkriecht sie sich vor jedem in irgend eine Ecke. Selbst wenn ihr von der fremden Person ein Geschenk gereicht wird, mag es nun eine Spielsache oder Leckerei sein, ist sie höchstselten zu einem Dankeschön zu bewegen. Meine Frau wütet zwar darüber und behauptet, das muß gehen, allein es geht trotz aller Schläge nicht. »Den Himmel stürmen wir nicht,« sagt der alte Horaz. Meine Frau möchte aber die Kinder im Handumdrehen zu anderen Charakteren bilden, anstatt daß sie eine allmählich wirkende Methode anwendet, die sicher von Erfolg gekrönt sein würde. Es tut mir leid, daß man der Kindererziehung infolge des mühseligen Kampfes ums Dasein so wenig Zeit widmen kann.

Wieder von viel sanfterem Charakter, im Gegensatz zu seinem älteren Bruder ist mein fünftes Kind und zweiter Sohn Walter. Er scheint endlich mir auf ein Haar zu gleichen, ist von ruhigem,[365] aber nicht zurückhaltendem Wesen und interessiert sich schon jetzt, kaum vier Jahre alt, für meine Leidenschaften: Schreiben und Bücher. Er macht schon seine ersten Versuche im Schreiben und stellt sich sehr geschickt an. Aus Spielsachen macht er sich überhaupt nichts, wenn man ihm ja einmal etwas schenken kann, so fesselt es ihn nur kürzeste Zeit, dann bittet er Mama oder Papa um einen Bleistift und Papier, womit er sich stundenlang unterhält und die kuriosesten Hieroglyphen zu Papier bringt. Manchmal bittet er sogar seine älteren Geschwister, ihm Buchstaben vorzuschreiben, die er dann so gut als möglich nachzubilden sich bemüht. Ich muß sagen, daß ich ihn und die älteste Tochter ein ganz klein wenig mehr liebe, als die andren. Um aber jedes Mißverständnis auszuschließen, muß ich auch wiederholen, daß dies nie zur Geltung kommt, und daß im Umgange mir ein Kind so lieb als das andere ist.

Soll ich auch noch über mein Nesthäkchen, den 6 Monate alten Kurt, einige Worte sagen? Ich hätte ihm eigentlich lieber den polnischen Namen Bonislaw, d. h. Schmerzensreich geben müssen. Denn er ist zu unserem Schmerze geboren. Schon vorher war jeder neue Familienzuwachs mit »gemischten Gefühlen« begrüßt worden, wieviel mehr dieser, der offenbar wurde, als ich mich in der Lungenheilanstalt befand. Meine Frau schrieb mir damals: »Ich bin ganz untröstlich und der Verzweiflung nahe; man hat schon so in einemfort zu würgen und zu patschen, daß man das bißchen Leben hinbringt und soll noch mehr Kinder bekommen. Ich bin wirklich zum Unglück geboren. Während andere gar keine Kinder haben, oder gleich wieder durch den Tod von ihnen befreit wer. den, bin ich dazu verdammt, das Menschenmöglichste in Kummer und Sorgen zu ertragen und auf jedes harmlose Vergnügen zu verzichten. Was ich mich über die »lieben Kinder« ärgern muß, das schafft auch mir noch die Schwindsucht an den Hals.« Mich erfreuten natürlich solche Briefe nicht, sondern im Gegenteil versetzten sie mich in die gedrückteste Stimmung. Sonst war ich stets froh, daß ich ein gesundes und kräftiges Weib besaß, und nun wurde ich von ihr mit solchen Jeremiaden bedacht! Die Kinder[366] machen sie auch körperlich gar nicht elend, sonst würde sie nicht, nach sieben Geburten, noch ein Körpergewicht von 75 Kilogramm haben bei einer Länge von 168 Zentimeter! Dabei ißt sie im Verhältnis zu mir sehr wenig und nicht annähernd so gut und kräftig. Trotzdem war sie mir, was Leibesfülle anbelangt, stets bedeutend überlegen. Erst nach meinen Mastkuren in der Heilanstalt näherte ich mich zeitweise ihrem Gewicht, konnte es aber niemals ganz erreichen. In letzter Zeit freilich haben sich leider auch bei ihr krankhafte Symptome in der Herztätigkeit, wie Kopfschwindel, Haarausfall und starke Erregbarkeit gezeigt. Sie schilt, wenn ich in vielen Dingen gleichgültig bin. Ich glaube aber, damit auf dem richtigen Wege zu sein, wenn man sich nicht über jeden Klatsch, über jede Unart der Kinder, über jedes trübe Wölkchen am ehelichen Himmel und über jede trübe Aussicht auf die Zukunft lange vorher Gedanken macht. Im Gegenteil – kommt Zeit, kommt Rat. Und wieviele Stiche ins Herz hat sie mir schon versetzt, wenn sie in der Zeitung von Kindersterben las, und dann laut ausrief: »Dem oder jenem ist das Kindchen schon wieder gestorben! Diese Menschen haben ein Glück! Die hätten nun auch sechs und so haben sie nur das eine, während unsereins im Übermaße geplagt ist. Uns stirbt kein solcher Balg weg.« Das hören nun auch meine Kinder an; – was für Gedanken mögen die sich bei solchen Äußerungen ihrer Mutter machen? Und trotz dieser hart klingenden Worte liebt auch sie ihre Kinder wie jede Mutter. Doch ich wollte ja von meinem jüngsten Söhnchen reden. Mir ist das kleine Kerlchen unaussprechlich ans Herz gewachsen. Wie oft schaut er sich nach mir um, daß ich ihn umher tragen soll, und wieviele Male lacht er mich an. Leider hat er auch schon den Husten und zeigt den charakteristischen breiten Nasenrücken wie sein ältester Bruder.

Das ist meine Familie und mein Familienleben – dasjenige einer Proletarierfamilie im wahrsten Sinne des Wortes! Wer mit innerem Anteile das Vorstehende liest, kann manches daraus lernen.

Eins noch zum Schlusse: Nie habe ich meine Frau geschlagen, obwohl ich, namentlich früher, leicht erregbar war. Nur im ersten[367] Jahre unsrer Ehe – auch das will ich hier und ihr zuliebe beichten – war ich einmal nahe daran.

Was nun weiter aus uns, aus mir werden soll? Noch weiß ich es nicht. Gegenwärtig, im Sommer 1905, beschäftige ich mich mit der Gründung einer Produktivgenossenschaft für Holzschuh- und Pantoffelfabrikation. Ich habe mich deshalb auch mit der Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine in Hamburg in Verbindung gesetzt und diese hat mir auch bei Leistungsfähigkeit Abnahme unserer Produkte zugesagt. Zehn in der Branche großgewordene Kollegen sind als Genossenschafter zusammengetreten. Unter für uns ungeheuerlichen Mühen ist das Geld zusammengebracht, allerdings die Anteile so niedrig als irgend möglich bemessen. Und ob trotzdem die Sache klappen wird? Wer weiß das? Wer weiß, ob ich nicht abermals in einer Fabrik Arbeit suchen muß, wenn aus unserer Genossenschaft trotz aller Anstrengungen nichts wird? Wieder aber in den dumpfen, staubigen Fabriksaal hinein – das bedeutet für mich, dem sicheren Tode entgegenzugehen. Nach 3 bis 4 Jahren wird dann gewiß der heimtückische Bazillus sein Zerstörungswerk vollendet haben, und es wird eine Witwe mit sechs Waisen mehr in der Welt geben. Ein trauriges Los, so ein Proletarierleben.....

Gleichwohl betrachte ich mich durchaus nicht als einen Märtyrer besonderer Art. Ich weiß genau, daß ich hunderttausende von Leidensgenossen habe, denen es ebenso schlecht geht als mir, und das es aberhunderttausend gibt, die noch schlimmer und schwerer mit dem Dasein zu kämpfen haben als ich.[368]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 351-369.
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