Achte Wahrnehmung.

[306] Alle Menschen haben ihre Launen, der Eine mehr, der Andere weniger. Dis will so viel sagen: man findet Keinen, der zu jeder Zeit und unter allen Umständen völlig einerlei Gemütsstimmung – einerlei Grad von Ruhe, Heiterkeit und Fröhlichkeit – einerlei Gesinnungen über Personen und Sachen, einerlei Wärme und Herzlichkeit in der Freundschaft äußerte; sondern diese Gemüthszustände sind, wie der Stand des Quecksilbers im Wetterglase, einem abwechselnden Steigen und Fallen unterworfen. Wie könnte dis auch anders sein, da die jedsmahlige Stimmung unserer Seele theils von der Beschaffenheit unsers, so mancher Veränderung unterworfenen Körpers, theils von den jedmahligen Vorstellungen abhängt, die unsere Seele nicht immer nach Belieben wählen kann, sondern die sie nur gar zu oft nehmen muß, wie sie sich ihr, ohne ihr Zuthun, von allen Seiten zudrängen? Indessen gehen die Menschen auch in Ansehung dieses allgemeinen Karakterzuges doch noch immer gar sehr von einander ab. Eine von Natur glücklich gebildete, mit mäßigen Trieben begabte, des Glücks einer fröhlich verlebten Jugend theilhaftig gewordene, und in einfachen Verhältnissen unter glücklichen Umständen lebende Personen, sind der Ebbe und Fluth der Empfindungen, den Stürmen und Windstillen der Leidenschaften so selten, oder in so geringem Grade[307] unterworfen, daß man sie von allen Launen frei zu sprechen pflegt, weil man fast gar keine an ihnen bemerken kann. Andere hingegen von minder glücklichem Körperbau, von empfindlicheren Nerven, von stärkern Trieben und Leidenschaften, welche daneben die Jahre der Kindheit und Jugend unter harten Bedrückungen und Mißhandlungen durchseufzen mußten, und sowol hiedurch, als auch durch häufige Kränkungen und Verdrießlichkeiten, denen sie bei dem Fortgange ihres Lebens ausgesetzt waren, eine gar große Empfänglichkeit für unangenehme Eindrücke jeder Art erhielten, sind den plötzlichsten Abwechselungen oft ganz entgegengesetzter Gemüthszustände so sehr unterworfen, daß man nie mit Sicherheit darauf rechnen kann, sie in der folgenden Stunde noch eben so gestimmt zu finden, als man sie in der gegenwärtigen traf. Zwischen diesem und jenem Aeußersten stehen die meisten andern Menschen in der Mitte; zwar alle mit Launen versehn, nur nicht alle in gleichem Grade.

Und willst du wissen, welche Arten von Menschen, meiner Beobachtung nach, diesem Uebel, unter sonst gleichen Umständen, am meisten ausgesetzt zu sein pflegen? Zuvörderst die Eiteln beiderlei Geschlechts; dann die Empfindsamen; hienächst die Gelehrten, besonders diejenigen, welche Schriftsteller von Handwerk sind; endlich, und zwar vorzüglich, die [308] Kunst- und Kraftmänner (Virtuosen und Genies) jeder Art. Die Gründe, woraus diese Beobachtung sich erklären läßt, bieten sich von selbst dar. Alle diese Menschen stellen den unangenehmen Eindrücken, die ihre Gemüthsruhe stören können, eine weit größere Fläche, als Andere, entgegen; sie müssen also auch öfter davon getroffen werden. Der Eitele, welcher alles, was er sieht und hört, stets in Beziehung auf sein wichtiges Ich betrachtet, kann durch hundert Kleinigkeiten verstimmt oder beleidiget werden, die ein Anderer kaum seiner Bemerkung würdig findet. Der Empfindsame hat sein ganzes Nervengebäude durch unnatürliche Ueberspannungen so empfindlich gemacht, daß es gleichfalls nothwendig öfteren Verstimmungen unterworfen sein muß. Der Schriftsteller endlich und der Kunstmann, die, indem sie sich öffentlich darstellen, sich zum Gegenstande der Bemerkung und der Beurtheilung für eine große Menge Menschen machen, sind theils gleichfalls öfter, als Andere, in einem Zustande der Ueberspannung, theils häufigerem Tadel, häufigeren Neckereien und – bei dem bekannten Unfuge, der in unserer gesetzlosen Gelehrtenwelt Sitte ist – häufigeren Mißhandlungen ausgesetzt. Dis und die gewöhnliche Folge des Stillsitzens und der gelehrten Kopf-arbeiten – die leidige Milzsucht (Hypochonorie) – machen es denn, wo nicht verzeihlich, doch begreiflich, wenn wir Leute dieser Art bei aller ihrer Weisheit[309] und sonstigen Geistesstärke, der Herrschaft der Laune mehr, als Andere, unterworfen sehn.

Es verdient hier aber noch besonders angemerkt zu werden, daß die menschlichen Launen nicht bloß in dem öftern und schnellen Wechsel angenehmer und unangenehmer Empfindungen und in dem Uebergange von Wohlwollen und Liebe zu Unwillen und Abneigung bestehn, sondern daß sie auch sehr stark und merklich in unsere Urtheile über die Dinge und in die Bestimmung unserer Handlungsarten einfließen. Was der launige Mensch in der einen Stunde wahr, schön und gut findet, das kommt ihm in der andern unwahr, häßlich und böse vor; und was er heute für thunlich, schicklich und nützlich hielt, das scheint ihm morgen schon unthunlich, unschicklich und unnütz zu sein. Man kann daher auf die Dauer seiner Ueberzeugung und seiner Entschließungen nie mit einiger Gewißheit rechnen, sondern man muß sich häufiger und plötzlicher Umwälzungen derselben gewärtigen. Von den Regeln der Klugheit, die wir in Ansehung dieser menschlichen Schwachheit befolgen müssen, nachher.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 306-310.
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