Zwölfte Wahrnehmung.

[323] Alle, welche das Unglück hatten, durch Erziehung und Umgang zu den Künsten, Beschäftigungsarten, Zerstreuungen und Vergnügungen der feinen[323] und üppigen Lebensart eingeweiht zu werden, sind mehr oder weniger entnervt an Leib und Seele. Wie könnte es auch anders sein, da bei jener Erziehung und bei dieser Lebensart fast alles auf ein unnatürliches Verdrehen, Spannen und Hinausschrauben unserer geistigen Kräfte, fast alles auf einen unaufhörlichen Kitzel unserer Nerven und auf ein beständiges Reiben an unserm ganzen Wesen, um ihm Glätte und Glanz zu geben, angesehen ist? Fast alles, was der Zögling der verfeinerten Ueppigkeit täglich sieht, hört, schmeckt, fühlt und thut, das allermeiste von dem, was seine Beschäftigung und Ergetzlichkeiten ausmacht, nagt, wie ein Wurm, an der Wurzel seiner Kräfte, macht sie schlaff durch Ueberspannung, und lähmt sie durch übertriebenes Geschmeidigmachen. Daher die körperliche und geistige Kraftlosigkeit, Schlaffheit, Weichlichkeit und Hinfälligkeit, welche bei dieser Menschenklasse mit jedem Jahre ausgebreiteter, größer und auffallender werden! Daher ihr Mangel an Muth und Geradheit, an Innigkeit des Gefühls und an Vollkraft (Energie) des Geistes! Daher ihr auffallendes Unvermögen zu allen Geschäften, welche Anstrengung und ausdauernde Geduld erfodern! Daher die Nervenschauer, Krämpfe und Zuckungen der Damen dieser Klasse, nebst allen den seltsamen und traurigen Erscheinungen, welche ein zur Ungebühr verfeinertes[324] und dadurch zerrüttetes Nervengebäude zu veranlassen pflegt!

Ich glaube nicht nöthig zu haben, bei dieser unglücklichen Folge der gemächlichen, weichlichen, üppigen – mit Einem Worte, der vornehmen Lebensart, länger zu verweilen, weil die erläuternden und beweisenden Beispiele davon so häufig sind, daß es nur eines Blicks in die große Welt bedarf, um sie bei Dutzenden wahrzunehmen. Nur dieses Einzige will ich noch hinzufügen, daß die seltenen Ausnahmen, die es freilich auch hier gibt, ihr Glück, der allgemeinen Entnervung und Schwächung entronnen zu sein, entweder einem vorzüglich glücklichen Körperbau und einem unerschöpflichen Vorrathe angeborner Naturkräfte, oder einer angebornen Kälte und Unempfindlichkeit, oder auch einer weisen Mäßigung im Genuß der üppigen Vergnügungen jeder Art und der eben so weisen Sorgfalt verdanken, den Körper durch tägliche Bewegung in freier Lust jedesmahl wieder abzuhärten und von neuen zu stärken.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 323-325.
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