Siebzehnte Wahrnehmung.

[343] Alle diese Menschen, vorzüglich aber diejenigen unter ihnen, welche bei jeder Gelegenheit das Schild der Uneigennützigkeit, der Dienstbeflissenheit und der Großmuth aushängen, sind nun auch in hohem Grade eigennützig und selbsüchtig. Zwar gibt man sich alle ersinnliche Mühe, diese Triebfeder seiner Handlungen auf das sorgfältigste zu verbergen, und den Schein eines edlen, uneigennützigen und absichtlosen Karakters zu behaupten: aber umsonst! Das Auge des aufmerksamen Beobachters dringt durch diesen Heiligenschein von Großmuth und Selbstvergessenheit leicht hindurch, und entkleidet die kleine selbsüchtige Seele von allen den prächtigen Bewegungsgründen,[343] womit sie sich und ihr Betragen zur Bewunderung der Neulinge so ausnehmend zu schmücken wußte. Da sieht er denn – und er sieht es so oft, daß es ihn nicht weiter befremden kann – daß der Grund, aus dem die glänzendsten Handlungen hervorwachsen, ein Gemisch von Ehrbegierde, Eitelkeit, Habsucht, sinnlicher Wollust, und von jeder andern unedlen Leidenschaft sei, indeß der Handelnde nichts als Menschenliebe, Vaterlandsliebe, Tugend-eifer und die strengste Rechtschaffenheit zu athmen scheint.

Das Sonderbarste dabei ist, daß alle diese uneigennützigen, edlen und großmüthigen Leute Einer dem Andern bis in die verborgenste Falte ihres versteckten Herzens sehen, und daß gleichwol Jeder insbesondere sich mit der Hoffnung schmeichelt, daß es ihm, ihm allein gelingen werde, seine Larve so künstlich anzulegen, daß kein menschliches Auge den Betrug zu entdecken vermöge. Das mag denn auch wol zum Teil die Ursache des Lächelns sein, womit der Eine den Andern, so oft sie sich begegnen, zu begrüßen und anzureden pflegt, weil Jeder aus dem Bewußtsein seiner eigenen Verstellung schließt, was er von der sittlichen Prachtlarve, womit der Andere so gut als er zu prunken weiß, zu halten habe. Einer erkennt in dem Andern den Schauspieler, der die auswendig gelernte Rolle des Biedermanns spielt; aber ungeachtet[344] er selbst in gleicher Absicht neben ihm auf einer und eben derselben Bühne steht: so hat er doch das Herz, zu hoffen, daß der Andere ihn für einen bloßen Zuschauer in natürlichem Karakter nehmen werde, und der Andere hat nicht weniger den Muth, ein Gleiches wiederum von ihm zu erwarten. So täuscht man sich selbst, indem man Andere zu täuschen sucht, und in der Einbildung steht, daß man der Einzige sei, der ungetäuscht davon komme!

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 343-345.
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