8. In Bezug auf die neunte Wahrnehmung.

[477] Aber hier finde ich kaum nöthig, zu demjenigen, was ich bei dieser Wahrnehmung schon oben angemerkt habe, noch etwas hinzuzufügen. Denn alle einzelnen Uebereinkünfte (Konventionen) der Menschen in Ansehung der Sprache, der Kleidung, der Höflichkeitserweisungen und des ganzen äußerlichen Benehmens, hier der Reihe nach aufzuzählen, würde weder thunlich, noch nützlich sein, weil die Menge derselben unbeschreiblich groß ist, und weil Dinge dieser Art nicht aus Büchern, sondern nur durch Umgang gelernt werden können. Nur folgende allgemeine Grundregeln der Klugheit in Ansehung solcher Dinge, die von dem Gebrauche und der Mode abhängen, mögen der Vollständigkeit wegen hier stehn.


1. Man bilde sich nicht ein, daß die Vernunft und das Beispiel eines einzelnen Menschen mächtig genug sei, die Leute von dem zurückzubringen, was die Mode ihnen einmahl zum Gesetze gemacht hat. Eher würden sie sich alle Grundsätze der Religion und Tugendlehre, als ihre Anhänglichkeit an einmahl eingeführte Gebräuche ausreden lassen. Man spare also die vergebliche Mühe, und überlasse jede Verbesserung[478] dieser Dinge eben der allgewaltigen Gesetzgeberinn, welche sie eingeführt hat, her Mode.


2. Man vermeide also auch, so weit es ohne wesentlichen Nachtheil für die Gesundheit des Leibes und der Seele geschehen kann, in Ansehung dessen, was die Mode heischt, ein Sonderling zu sein, und bequeme sich, ohne Murren, zu dem, was die Verständigsten und Besten unsers Geschlechts und unsers Standes mitzumachen nun einmahl für nöthig erachtet haben.


3. Man hüte sich aber auch auf der andern Seite, in der gar zu pünktlichen Beobachtung der wandelbaren Mode ein Verdienst zu suchen, und thue hierin allemahl lieber etwas zu wenig, als zu viel. Das zu wenig kann höchstens nur ein kleines Lächeln und Spötteln erregen; das zu viel hingegen erregt allemahl etwas viel Schlimmeres, nämlich Eifersucht und Neid. Die Eitelkeit der Schwestern sieht es gar nicht ungern, wenn du, mir ihnen verglichen, in Ansehung der Mode des Tages jedesmahl um einige Wochen zurückbleibest; aber jeden Vorsprung, den du dir in solchen Dingen vor ihnen erlauben wolltest, würden sie dir zuverlässig allemahl zur Todsünde anrechnen, welche hienieden keine Vergebung[479] findet. Der Verständige macht sich daher zur Regel:


4. Nie unter den Ersten, welche eine Mode einführen; aber auch nie der Letzte zu sein, der eine eingeführte Mode annimmt. Der Mittelweg ist auch hier, wie in allen Dingen, der beste. Aber bei aller Unterwerfung, die mir den herrischen Anfoderungen der Mode erweisen, laß uns


5. Doch immer den Muth haben, ihr und dem Tadel der ganzen Welt Trotz zu bieten, so oft sie sich einfallen läßt, etwas vorzuschreiben, was entweder der Ehrbarkeit, oder der Gesundheit nachtheilig ist. Gesundheit des Leibes und der Seele müssen uns, wenn wir vernünftige Menschen sein wollen, über alles, selbst über die Billigung und den Beifall der Menschen gelten, so wenig auch diese an sich uns jemahls gleichgültig sein dürfen. Können wir die Erreichung beider Zwecke, jenes und dieses mit einander vereinigen: gut! Können wir das aber nicht, und muß eine dem andern nothwendig aufgeopfert werden: nun, so müssen wir uns auch keinen Augenblick bedenken, den wichtigeren vorzuziehen, den unwichtigern nachzusetzen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 477-480.
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