Einleitung.
1.

[2] Viele Menschen scheinen artig zu seyn; bey einer näheren Prüfung aber findet man daß sie es nicht sind, daß sie wenigstens den strengeren Forderungen nicht Gnüge leisten. Ueberhaupt ist man zu verschwenderisch mit dem Ausdruck artig, Artigkeit. Man nimmt zu oft nur eine einzelne Eigenschaft des Artigen für das Ganze.

Man nennt Cleon einen artigen Mann, weil der Anstand seiner Figur in die Augen fällt; weil sein Blick immer freundlich, sein Betragen zuvorkommend ist, weil er nie der Höflichkeit und der Convention etwas vergiebt; weil[3] er einer der ersten ist, der alle neue Moden mitmacht, und in der Wahl seiner Moden Geschmack zeigt.

Man nennt Ariston artig, weil er auf eine jede Frage in der gesellschaftlichen Unterhaltung eine angenehme, gewünschte Antwort ertheilt; witzige Einfälle hat, u.s.w.

Man nennt Philinten artig, weil er außerordentlich bescheiden ist, ein reines Wohlwollen gegen Jedermann hegt; alles, was er beginnt, nur zur Zufriedenheit Anderer unternimmt, und dabey nicht selten sein eigenes Interesse vergißt.

Kurz man hält alle drey für sehr artige Männer. Aber bald hört man ein andres Urtheil über sie.

Cleon, sagt man, behauptet sich nur eine kurze Zeit. Ist man öfterer in seiner Gesellschaft, so vermißt man etwas an ihm, worauf man vorher nicht Rücksicht genommen hatte. Er zeigt eine schöne Figur; was er spricht, interessirt nur ein, höchstens zweymal, und[4] wird langweilig, weil er der Unterhaltung kein Leben zu geben weiß. Sein Geschmack schränkt sich einzig nur auf seine Art sich zu kleiden ein. Verlangt man Urtheile von ihm über wichtigere Gegenstände, als was ihm etwann die neuesten Modejournale zum Opfer gebracht haben, so geräth er in Verlegenheit, schlüpft, wenn er sich am besten benimmt, in unbestimmten Ausdrücken hindurch, und hält man ihn fester, so verräth er durchweg einen seichten Kopf. Also mit dem Eindruck, den seine Figur in den ersten Augenblicken macht, gewinnt er und verliert er auch alles.

Nicht besser geht es Ariston. Er ist ein witziger Kopf, das ist nicht zu läugnen; man könnte ihn unerschöpflich nennen, denn er ist immer neu, nie wird man einen Einfall von ihm zweymal hören; nie wird er Andere plündern; und bedient er sich fremden Witzes, so weiß er ihn durch seine Originalität so anzukleiden und herauszuputzen, daß man nicht weiß, ob man dem Kleide, das er ihm umhängt, oder[5] der Sache selbst den Vorzug zugestehen soll. Nicht nur ein fliegender Witz, nein, Genie und Geist, und ein reichliches Magazin von Kenntnissen sogar, sind ebenfalls sein Eigenthum – und doch gefällt er nur auf eine kurze Zeit, und man höret auf, ihn zu achten; denn alles dieses wendet er nicht zum Besten an. Sein Witz macht nicht selten die Unschuld lächerlich; sein Spott trifft nicht selten Gegenstände, die aller gutmüthigen Menschen Achtung verdienen; er opfert alles, alles auf, und sein Witz ist ihm gleichsam zur Sucht geworden, die ihn unaufhörlich befällt. Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit verletzt er ganz dreust, wenn sein Witz dadurch die Oberhand gewinnen kann. In der erstern Bekanntschaft überrascht er zu sehr, weiß er zu sehr unsere Augen zu blenden, als daß es uns einfallen könnte, seine Verdienste strenger zu würdigen; auch ist er noch zurückhaltend, noch etwas sparsamer; aber sobald man mit ihm vertrauter wird, sobald erlaubt er sich alles, und nun erscheint[6] er ganz, wie und was er ist. Ihm geht also die Güte des Herzens ab, und er weiß nichts von dem allgemeinen Wohlwollen, das wir erst selbst gegen unsere Mitmenschen zeigen müssen, ehe wir auf ihr Wohlwollen Anspruch machen dürfen. Was widerfährt ihm also? – Man flieht ihn, und wenn man ihn ja einen artigen Mann nennt, so vergißt man nicht hinzuzufügen, daß er auch ein eben so boshafter Mann sey.


Wird sich wohl Philint behaupten? Schwerlich! Man nennt ihn nun lieber einen gefälligen Mann und findet, daß ihm noch vieles fehle, was zum wahrhaft artigen Mann gehört. Seine Bescheidenheit scheint in einem längern Umgange nichts als Einfalt zu seyn, die sich leicht mißbrauchen läßt; seine Aufopferung des eigenen Interesse, um fremdes gewinnen zu lassen, ist Schüchternheit, mehr Sache des Temperaments, als seiner Grundsätze, seiner Ueberzeugung. Endlich ruft man[7] aus: Philint ist ein ehrlicher guter Mann, aber auch nichts weiter.

Jeder dieser drey Herren hat eine Eigenschaft eines artigen Mannes; damit langt er aber nicht aus, wenn er auf den dauernden Beyfall, auf die Liebe, auf das allgemeine Wohlwollen rechnen will. Es ist schwerer, ein artiger Mann zu seyn, als sich Viele es vorstellen mögen.

Quelle:
Claudius, G[eorg] C[arl]: Kurze Anweisung zur wahren feinen Lebensart. Leipzig 1800, S. 2-8.
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