Von den Krankheiten.

[205] Wenn in einem Hause, in welches man eingeführt ist, der Familienvater, die Hausfrau, oder eines der erwachsenen Familienglieder erkrankt, – Kinder, welche noch nicht in die Gesellschaft eingeführt sind, pflegen in der Regel nur den intimeren Freunden des Hauses bekannt zu sein, – so erfordert die Artigkeit, sich von Zeit zu Zeit nach dem Befinden derselben zu erkundigen, und zwar um so häufiger, je gefährlicher die Krankheit ist.

Bei diesen Erkundigungen läßt man sich indeß nicht zur Visite melden, denn es läßt sich annehmen, daß die Familienmitglieder mit der Pflege des Kranken beschäftigt oder auch sonst nicht in der Laune sind, Besuche zu empfangen.[205]

Man erkundigt sich daher nur bei den Dienstboten, giebt aber bei der Gelegenheit eine Visitenkarte ab. Man hat aber nur da, wo man eine besondere Aufmerksamkeit erweisen will, nöthig, die Nachfrage persönlich zu machen. Es genügt, zu diesem Zwecke einen Bedienten zu schicken.

In vielen vornehmeren Häusern ist es bei schwereren Krankheitsfällen üblich, in das Vorzimmer einen Tisch mit einem Bogen Papier und Schreibgeräth zu stellen, damit Alle, welche nachfragen oder nachfragen lassen, ihre Namen eintragen können. Neben der Liste steht dann ein Körbchen zur Aufnahme der Visitenkarten Solcher, die entweder selbst kommen, oder die sich nicht durch ihre Dienstboten in die Liste eintragen lassen wollen.

Es ist sehr üblich, daß die Angehörigen des Kranken, oder auch wohl dieser selbst, jeden Tag die Visitenkarten und die Liste durchsehen, und sie würden es dann mit Recht als eine kränkende Vernachlässigung betrachten, wenn sie dabei den Namen des Einen oder des Andern vermißten, dessen Pflicht es wäre, diesen Beweis der Aufmerksamkeit nicht zu unterlassen. Dagegen werden häufigere und besonders persönliche Nachfragen als ein Beweis lebhafterer Theilnahme betrachtet, und deßhalb gewöhnlich sehr hoch aufgenommen. Wer daher einen Gönner zu gewinnen wünscht, dem ist durch die geringe Mühe, welche dergleichen Nachfragen verursachen, dazu ein ebenso bequemes als wirksames Mittel geboten.

Läßt die Krankheit nach, so werden in demselben Grade die Erkundigungen seltener, bis sie endlich ganz aufhören, sobald die aufgelegte Liste aus dem Vorzimmer verschwindet, oder der Bediente, bei dem man sich erkundigt, die Antwort giebt: Genesen!

Geschieht dieß, so hat man noch zu fragen, ob der Genesene bereits wieder Besuche empfängt, und ist dieß der Fall, dann macht man zum Schluß noch eine Visite, um zu der erfolgten Wiederherstellung seinen Glückwunsch abzustatten.[206]

Ist die Krankheit der Art, daß der Patient nicht nur Besuche empfangen kann, sondern daß ihm dieselben sogar des Zeitvertreibes wegen willkommen sein würden, so kann man sich bei demselben sehr beliebt dadurch machen, wenn man ihm einen großen Theil seiner Zeit widmet. Müßte man dazu ein Opfer bringen, indem man z.B. auf Vergnügungen verzichtete, oder auf andere Art, so wäre das um so besser und vortheilhafter.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 205-207.
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