Erstes Kapitel.
[173] Weitere Erinnerungen aus den Wanderjahren. – Karl Maria von Weber. – Ludwig Devrient. – Marschner. – Matthisson. – Uhland.

Wie ich im Schlußkapitel des vorigen Teiles alles das zusammengestellt habe, was mir aus der letzten klassischen Zeit Weimars bis zu Goethes Tod bemerkenswert erschien, so will ich hier noch das erwähnen, was mir in meinen Wanderjahren an anderen Orten Bedeutsames begegnet ist. So viele durch Talent, Geist und Schaffenskraft hervorragende Persönlichkeiten haben meinen Weg gekreuzt, daß es unrecht wäre, wenn ich die Erinnerung an sie hier nicht aufbewahren wollte.

Mit am liebsten gedenke ich der Bekanntschaft, die ich bald nach meiner ersten Ankunft in Dresden suchte. Mit meinem Vater zusammen war ich dorthin gefahren und wir hatten pflichtschuldigst zuerst dem Intendanten unsere Aufwartung gemacht. Nachdem er uns aber freundlich entlassen hatte, wandten wir unsere Schritte dem italienischen Dörfchen zu, wo der Mann wohnte, dessen Ruhm später die ganze Welt erfüllen sollte. Karl Maria von Weber war damals noch nicht verheiratet und wohnte in einem kleinen Haus dicht am Zwinger, das mit Wein umrankt und von einem Garten umgeben war. Ich konnte es kaum erwarten,[173] den Mann kennen zu lernen, der, wie mir mein Vater erzählte, schon in seinem achten Jahre in Weimar mit großem Glück bei Hof gespielt und der die »Silvana« und so wunderschöne Lieder geschrieben hatte.

Eine alte Frau führte uns in ein Zimmer von gewiß zwanzig Fuß im Viereck, dessen Höhe aber kaum acht Fuß betragen konnte. Die Einrichtung des Zimmers war einfach; in der Mitte stand ein schöner Flügel, die Wände waren mit Bildern berühmter Männer geschmückt und auf dem Bücherbrett befanden sich die deutschen, englischen und italienischen Klassiker.

Endlich erschien der Ersehnte. Ein kleiner Mann mit langen Armen trat ein und kam uns etwas hinkend entgegen, indem er uns mit großer Freundlichkeit begrüßte, besonders meinen Vater, den er von früherer Zeit her kannte. Nachdem wir auf seine Einladung Platz genommen, sagte er zu mir: »Sie haben Goethe und Ihrem würdigen Vater Ihre dramatische Bildung zu danken und Gesangunterricht bei dem trefflichen Häser gehabt? Das sind Lehrer, bei denen man allerdings was Tüchtiges lernen kann, und hoffentlich werden Sie Ihre Zeit gut angewendet haben. Haben Sie alle die Rollen, die sich auf Ihrem eingesandten Repertoire befinden, schon gesungen?«

»Außer dem Adrian von Ostade, Osmin, Mafferu, Pistofolus und Abbe noch keine,« erwiderte ich.

»Auch den Jakob nicht?«

»Auch diesen nicht.«

»Nun,« bemerkte er mit lächelndem Gesicht, »wir wollen schon durchkommen.« Dann fuhr er fort: »Sie spielen jedenfalls Klavier?«

»Aber nur mittelmäßig.«

»Das tut nichts, bei solcher Jugend kann man vieles nachholen, und wünschenswert ist es allerdings, wenn ein[174] Sänger auch Partituren lesen, noch besser, wenn er sie spielen kann, er braucht dabei eben kein Virtuos zu sein. Ich hatte ein junges Mädchen bei meinem Ensemble in Prag als jugendliche Sängerin, Christine Böhler, der ich getrost meinen Platz in den Klavierproben anvertrauen konnte, so wacker spielte sie Partitur. Darum rate ich Ihnen, junger Mann, recht fleißig auch darin zu sein, man kann sich dadurch sehr nützlich machen, und Ihnen selbst erwächst ein großer Vorteil daraus.«

Diese Worte grub ich in mein Gedächtnis, befolgte sie streng und die guten Früchte blieben später nicht aus. Mit freundlichster Herzlichkeit entließ uns der herrliche Mann.

Nicht ohne Bangen ging ich den andern Tag in die Klavierprobe von »Jakob und seine Söhne«, die auf der Brühlschen Terrasse in einem Salon abgehalten wurde, da in dem alten Theater kein Raum dazu vorhanden war. Als ich in den Saal trat, fand ich Weber allein, am Klavier beschäftigt. Nachdem wir uns gegenseitig begrüßt hatten, sah er nach der Uhr. »So ist's recht, Genast,« sagte er, »immer lieber etwas vor als nach der bestimmten Stunde; Pünktlichkeit ist in allen Lebensverhältnissen gut, bei dem Soldaten- und Schauspielerstande aber ist sie unerläßlich; halten Sie stets darauf, Sie ersparen dadurch sich und anderen Ärger.« Der treffliche Mann war nicht allein ein Vorbild als Künstler, sondern auch als Mensch.

Ich war erstaunt über den wunderbaren Klang des Flügels, auf dem er spielte, worauf er bemerkte: »Diese Flügel sind in der Mitte des 16. Jahrhunderts erfunden worden und die Saiten werden durch kleine, in die Zungen der Docken eingeschobene Rabenfedern angeschlagen; zum Einstudieren paßt er gar nicht, da der Ton nicht ausgiebig ist.« Auf der anderen Seite des Saales stand noch ein Flügel, der ein modernes Ansehen hatte, dieser war aber nur zum[175] Gebrauch der Italiener bestimmt. Da man »Jakob und seine Söhne« schon öfters gegeben hatte, wurden nur die Nummern, worin ich beschäftigt war, probiert. Nach dem Terzett nickte mir Weber freundlich zu, was mich so ermutigte, daß mich meine Angst bei der Theaterprobe, bei welcher auch der Intendant gegenwärtig war, ziemlich verlassen hatte. Auch letzterer, wie das mitspielende Personal, sprachen ihre Zufriedenheit aus.

Auch bei meinem Auftreten in der genannten Oper wurde ich von dem Publikum mit großer Freundlichkeit aufgenommen; Weber kam nach der Vorstellung zu mir in die Garderobe und war mit meinem Vortrag, insbesondere aber mit meinem Spiel, zufrieden; er sprach sich dahin aus, daß wir wohl zusammenbleiben würden. Freudig bewegt ging ich am Arm meines geliebten Vaters, der gleiche Gefühle empfand, nach Hause.

In jene Zeit meines ersten Wirkens in Dresden fiel ein Gastspiel der unübertrefflichen Grünbaum, deren Äußeres nichts weniger als blendend war, die aber eine wundervolle Stimme, mit einem Umfang von mehr als zwei Oktaven in einer seltenen Reinheit und Gleichheit und einer Methode besaß, welche die der Catalani ganz in den Hintergrund stellte. Sie trat zuerst am 3. Mai als Prinzessin von Navarra in »Johann von Paris« auf, und ich hatte das Glück, neben ihr den Seneschall zu singen. Auf meines Vaters Wunsch mußte ich den Seneschall als einen in der Etikette ergrauten Hofmann spielen, womit auch Weber sich ganz einverstanden erklärte. Was für ein kleiner musikalischer Teufel die Grünbaum war, davon will ich hier ein Beispiel erzählen.

Wilhelmi, der ein recht netter Schauspieler, aber ein sehr mittelmäßiger Sänger mit einer schwachen Tenorstimme war, mußte aus Not, da Bergmann mit seiner prächtigen Stimme doch als Schauspieler nicht ausreichte, den Johann[176] spielen. Da sich aber seine Stimmlage nur bis zum hohen gis erstreckte, so mußte der Troubadour in E-dur gelegt werden. Dagegen protestierte die Grünbaum gewaltig, und als Weber ihr bemerkte, daß einer doch nicht geben könne, was er von der Natur nicht erhalten habe, sagte sie ganz trocken: »In Gottes Namen! Mögen die beiden Herrschaften ihre Verse aus E-dur singen, ich singe die meinigen aus F-dur.«

»Das müßte eine schöne Musik werden,« erwiderte Weber. »Na, vorläufig wollen wir in E-dur anfangen und in dieser Tonart bleiben; meine liebe Nachtigall wird sich schon finden.«

Nach den ersten Versen setzte sie, zum Grausen aller musikalischen Ohren, statt in h in c ein und sang mit einer beispiellosen Reinheit, während das Orchester in E-dur begleitete, ihre Strophe in F-dur, natürlich höchstens acht Takte, da warf Weber, sich die Ohren zuhaltend, den Taktstock hin und schrie: »Grünbaum, um Gotteswillen, hören's auf oder ich bekomme Krämpfe!« Ein allgemeiner Beifallssturm und Gelächter erfolgte von seiten des Orchesters und der Sänger wegen dieser kolossalen musikalischen Sicherheit; die Grünbaum selbst lachte wie ein kleiner Kobold über Webers Entrüstung.

Weber war sehr streng bei anerkannten Meisterwerken und duldete niemals, daß ein Sänger sich erlaubte, eine Verzierung anzubringen, wo sie nicht am Platze war. Dieses Vergehen ließ ich mir einmal in der Rolle des Jakob, die ich schon öfter gesungen hatte, zu schulden kommen, indem ich im Duett mit Benjamin eine ganz kleine italienische Verzierung anbrachte. Durch meine zwinkernden Augen bemerkte ich den grimmigen Blick, den der Meister mir von seinem Pulte aus zuwarf; hätte es der Anstand erlaubt, ich glaube, er hätte mir den Taktstock an den Kopf geworfen[177] und gar keine Rücksicht auf den gebrechlichen Greis genommen.

Sobald der Vorhang gefallen war, eilte ich in die Garderobe und riß mir die Kleider vom Leibe, um der Strafpredigt zu entgehen, aber kaum hatte ich Mantel und Gewand abgeworfen und stand nur noch mit Perrücke und Bart da, so trat er ein, und ohne alle Achtung vor meinen weißen Haaren donnerte er alsbald los: »Was machen Sie denn für dummes Zeug? Glauben Sie nicht, daß Mehul, wenn er solchen Schnickschnack hätte haben wollen, es besser gemacht hätte, als Sie? Ich muß mir das inskünftige verbitten! Haben Sie mich verstanden? Gute Nacht, und schlafen Sie Ihren italienischen Rausch aus.«

Da hatte ich's schön weg, und nie fiel es mir ein, unter seiner Leitung auch nur ein Nötchen hinzuzufügen. Er duldete nur Kadenzen, wenn der Komponist eine Fermate vorgeschrieben und dem Sänger absichtlich Freiheit gegeben hatte. Im »Johann von Paris« brachte ich deren eine Masse an, und er hatte nichts dagegen, weil sie da am Platze waren.

Der arme Weber nahm im Anfang als Direktor der deutschen Oper, die von oben herab stiefmütterlich behandelt wurde, eine böse Stellung ein. Nicht einmal unsere Originalwerke, welche vor ihm die Italiener in ihrer Muttersprache aufgeführt hatten, durfte er geben; überall trat ihm die Partei der italienischen Oper, die von den höchsten Kreisen der Gesellschaft sehr begünstigt wurde, hemmend in den Weg. Er mußte fort und fort kämpfen, wenn er sein Ziel, eine würdige deutsche Oper herzustellen, erreichen wollte. Und wie geringe Mittel waren ihm dazu gegeben! Seinem sehr beschränkten Ensemble stand ein vollständiges italienisches Opernpersonal gegenüber. Doch verlor Weber den Mut nicht, und mit unermüdlichem Eifer stand er uns jungen Leuten mit Rat bei. Er war eben ein großer Feldherr, der auch mit mittelmäßigen Truppen Siege zu erringen wußte.[178]

Unter den italienischen Sängern hatte Weber manchen Freund. Der treueste mochte wohl der damalige Regisseur Bassi sein, von dessen Don Juan mir mein Vater so Vortreffliches erzählt und den ich durch diesen nun auch kennen lernen sollte.

Ein gewichtiger Gegner von Weber war der Kapellmeister Morlachi, der ihm zwar stets freundlich entgegen kam, aber den Schaik im Nacken trug. Am gehässigsten jedoch zeigte sich bei allen Unternehmungen ein Fräulein von W., die Harfenspielerin, Dichterin, Malerin, Rezensentin, kurz ein Universalgenie war, als welches der hohe Adel sie auch anerkannte. Weber hatte eben keinen stumpfen Zahn auf dies holdselige Fräulein, denn als ihn einst in einer großen Gesellschaft ein Hofherr um sein Urteil über dies große Talent fragte, brach er in ungeheure Lobeserhebungen aus, sagte aber am Schluß: »Sie hat nur einen Fehler.« – »Und welchen?« fragte das Hofmännchen ganz verwundert. – »Sie kann die Tinte nicht halten.«

Das Publikum feierte und bevorzugte die italienische Oper ungemein, besonders war es damals von Rossinis »Tancred« begeistert. Diese Musik machte auch auf mich in ihrer Originalität einen wunderbaren Eindruck; die süßen, einschmeichelnden Melodien bezauberten mein Ohr. Denken durfte man freilich nicht dabei, denn die Musik schickte sich für die Worte, wie Selotanzen für einen Podagristen. Welchem Vernünftigen könnte eine Oper genügen, die, aller Melodien bar, sich nur auf originelle Rhythmen, Modulationen und Harmonien beschränkte? Gewiß keinem! Die Melodie ist und bleibt die Seele in jedem musikalischen Organismus und alles übrige kann nur als Körper gelten. Aber die Seele eines Kunstwerks soll, dem Kunstzweck entsprechend, schön und bedeutend, im wahren Sinne ideal, nicht leichtfertig, schmeichlerisch und buhlerisch sein. Damals allerdings,[179] als ich zwanzig Jahre war, erfaßte mich der allgemeine Schwindel der Laien auch; aber er dauerte nicht lange, in Webers Nähe schwand er mit jedem Tage mehr. Obgleich Weber, ein großer Verehrer alter klassischer italienischer Musik, auch alles wahrhaft gute Neue anerkannte und selbst Rossini für ein großes Talent erklärte, so stimmte doch jene Oper mit seinen Ansichten von einem Kunstwerk durchaus nicht überein.

Er blieb aber unermüdlich in seinen Anstrengungen, die Oper vorwärts zu bringen, und brachte endlich ein Meisterwerk von Cherubini, »Lodoiska«, zur Aufführung. Er war ein großer Verehrer dieses unvergleichlichen Komponisten, und in einem eigenen Aufsatz, worin er das Publikum auf den bevorstehenden Genuß aufmerksam machte, sagt er unter anderem von ihm: »Einer der wenigen Kunstheroen unserer Zeit, der als klassischer Meister und Schöpfer eigener Bahnen ewig in der Geschichte der Kunst hell erglänzen wird. Die Tendenz seiner Geisteskraft gehört, gleich der Mozarts und Beethovens – obwohl jeder auf seine ihm eigentümliche Weise – dem in unserer Zeit Vorherrschenden, dem Romantischen, an.«

Solche Andeutungen, von welchem Standpunkt aus das Publikum das Werk zu betrachten habe, schickte Weber allen Opern, die er neu einstudiert hatte, voraus. Auch hierin trat ihm Böswilligkeit entgegen: er wolle das Publikum bevormunden, sein Benehmen sei anmaßend usw. Obgleich jeder Unparteiische sein künstlerisches Urteil mit Dank empfing und es als maßgebend betrachtete, so stellte er dennoch nach kurzer Zeit diese Berichte wieder ein und entzog dadurch der Mit- und Nachwelt seine klare und geistvolle Ansicht über solche Werke.

Wer Cherubinis Opernpartituren kennt und seine vollendete Stimmenführung in vokaler und instrumentaler Hinsicht[180] studiert hat, wird keinen Augenblick zweifeln, daß dieser große Meister in allem, was charakteristisch-musikalische Färbung anlangt, das Vorbild Webers war. In melodiöser und deklamatorischer Hinsicht aber übertrifft Weber sein Vorbild. So groß Cherubini in seinen vier Hauptopern »Lodoiska«, »Medea«, »Wasserträger« und »Faniska« dasteht, so erreichen diese Werke in Melodie und deklamatorischer Bedeutung Webers Meisterwerk »Euryanthe« nicht. Man könnte eigentlich Mozart und Cherubini Webers musikalische Eltern und Gluck seinen Großvater nennen, denn ohne diese hätte er wahrscheinlich solche künstlerische Größe nicht erreicht, wie wiederum ohne ihn und Beethoven uns weder ein Marschner noch ein Wagner erstanden wäre, denn beide sind in die Fußstapfen jener großen Meister getreten.

Weber war auch im geselligen Leben ein höchst liebenswürdiger Mensch. Wollte er sich einmal eine Erholungsstunde gönnen, so wurden von ihm, Hofrat Heun (Clauren) und Theodor Hell (Winkler) Land- und Wasserpartien unternommen und stets ein Teil des Theaterpersonals dazu aufgefordert. Fuhr man des Abends auf der Elbe zur Stadt zurück, so wurden drei- und vierstimmige Lieder auswendig gesungen, denn von Erleuchtung des Kahns war keine Rede, oder es wurden kleine Novellen von Weber und Clauren aus dem Stegreif erzählt. Der erstere wählte meist ein Thema witzigen, sarkastischen und launigen Inhalts. Der letztere gab Gespenstergeschichten zum besten, die er alle selbst erlebt hatte, und wußte das Grausen der Damen bis auf den Kulminationspunkt zu steigern, bis er, wie Ännchen im »Freischütz«, mit einem Kettenhund schloß.

Weber hat mir sein Wohlwollen auch später, nachdem ich schon längst von Dresden geschieden war, stets bewahrt. Als ich einmal von Leipzig aus dort gastierte, bewies er mir das in herzlichster Weise und bedauerte nur, nachdem[181] ich den Don Juan und Kaspar unter seiner Leitung gesungen, daß wir nicht für immer zusammen wirken könnten. Eines Tages erhielt ich folgendes Billett von ihm: »Wenn Ihr lieben Freunde morgen nichts Besseres zu tun habt, so bringt den ganzen Tag bei uns auf dem Lande zu. Wir wollen die herrliche Gegend genießen, an einem frugalen Mittagsmahl und an der lieben Vergangenheit zehren.« Er hatte unweit Pillnitz in einem Dorf ein Bauernhaus gemietet, worin er den Sommer zubrachte. Wir verlebten einen herrlichen Tag mit ihm und seiner Familie. Während die Frauen in den Vormittagsstunden sich mit den Kindern im Garten herumtummelten, saßen Weber und ich in einer einfach geweißten Stube am Klavier, wo er mich mit seinem unsterblichen Meisterwerk »Euryanthe« bekannt machte, das in kurzem auch in Leipzig zur Aufführung kommen sollte. Außer dem Genuß, der mir dabei ward, wurde ich auch mit den Tempi, wie er sie genommen haben wollte, vertraut, und manche Nüance, die er in der Partitur nicht angegeben, weil er, wie er sagte, mißverstanden werden könnte, bat er mich unserem Musikdirektor und den Darstellern der Hauptpartien bekannt zu machen. Weber besaß eine ganz hübsche Stimme, verstand zu singen, und nicht allein seine herrliche Komposition, sondern auch sein charakteristischer Vertrag entzückte mich.

Nach Tische machten wir einen Spaziergang in eine der dortigen Weinbergschluchten, wie der Meister es täglich gewohnt war. Auf einer Anhöhe, von wo aus man einen schönen Blick ins Elbtal und auf die Gebirge hatte, blieb er stehen und sagte uns: »Nun Kinder, staunt mit mir Gottes Natur an; ist das nicht erhebend? Das ist die Schule, zu der ich täglich meine Schritte lenke, in ihr studiere ich Melodie und Harmonie, in ihr schöpfe ich neue Gedanken und suche sie nach besten Kräften zu verkörpern.« Beethoven soll einst in einem Walde ähnliche Worte gesprochen haben.[182]

Auf den Bergen entwickelten sich Webers Gedanken und am Klavier führte er sie aus. Mancher damalige alte Zopf schrie Zeter, daß Weber das Klavier bei seinen Kompositionen zuweilen benutze; hätten nur mehrere alte Meister dieser Methode gedient, wir könnten jetzt in ihren Werken, außer den Rechenexempeln mit diamantenen Zahlen, auch ganz ungeahnte Modulationen bewundern. Ähnliche zopfige Vorwürfe waren Weber auch bei seinem »Freischütz« gemacht worden. Es ging das Gerücht, daß Weber, noch ehe er die Oper an den Grafen Brühl nach Berlin eingesendet, sie an Rochlitz in Leipzig zur Ansicht geschickt habe, der als größte kritische Autorität damals allgemein bekannt war. Dieser habe sie an Weber mit dem Bemerken zurückgesendet, er könne ihm durchaus nicht raten, dieses Werk aufführen zu lassen, da es nur teilweise den Anforderungen einer guten Oper entspräche und das Finale des zweiten Aktes alle Grenzen der Schönheit überschritte! Rochlitz war ein Mann, der ein wirklich gediegenes musikalisches Urteil besaß, der aber an der althergebrachten Form wie an einer eisernen Kette hing.

Als im Jahre 1826 die Nachricht sich in Leipzig verbreitete, daß Karl Maria von Weber in London am 5. Juni gestorben sei, konnte und wollte ich an diesen unersetzlichen Verlust nicht glauben; aber leider wurde mir nach kurzer Zeit von meinem Freunde, dem trefflichen Flötisten Fürstenau, der Webers Begleiter auf dieser Reise gewesen war, die Wahrheit bestätigt. So ging er denn dahin, zu einer Zeit, als sein Ruhm in Europa schon fest begründet stand und selbst über die Meere hinüber den Weg gefunden hatte, zu einer Zeit, als die Neider und Krittler gegen ihn verstummten, das deutsche Volk aber den Meister immer mehr bewunderte und liebte und in seinen Werken das deutsche Wesen im schönsten und echtesten Ausdruck erkannte. Seinen Schwanengesang »Oberon« brachte von allen Direktoren Hofrat Küstner[183] in Leipzig am 26. Dezember 1826 zuerst zur Aufführung und ging auch hier wieder den anderen Bühnen mit dem besten Beispiel voran. Mit fürstlicher Pracht in Dekorationen und Kostümen wurde das Werk ausgestattet und aufs sinnigste in Szene gesetzt. Er beschäftigte darin alle seine ersten Kräfte, und um dies zu bewirken, ließ er mehrere Partien alternieren. Den Elfenkönig Oberon mußte ich selbst, drolligerweise, mit einer kräftigen, langen Gestalt spielen; später erhielt ich einen Stellvertreter in einem Herrn Voigt. Aus dem Puck hatte Küstner zwei dienende Geister gemacht und nannte den zweiten Droll. Die zu rezitierenden Rollen waren durch die ersten Schauspieler besetzt. Es war in der Tat eine durchaus gelungene Darstellung zu nennen, und sie wurde mit unbeschreiblichem Beifall aufgenommen.

Ehe noch die Oper zum Einstudieren vorlag, begegnete ich dem alten zopfigen Musikdirektor S., der den eben erschienenen Klavierauszug des »Oberon« unterm Arm hatte. »Es war Zeit für Webers Ruhm,« sagte der gute Mann, »daß er gestorben ist! Sehen Sie einmal die Tanzmelodien in der Ouvertüre und Rezias Arie an; wie kann ein Mann, der einen »Freischütz« geschrieben hat, so trivial werden!« Von der »Euryanthe« und »Preciosa« sprach er nicht. »Mein Bester,« erwiderte ich, »lassen Sie die Toten ruhen! Weber wird, wie Schiller, im Herzen aller Deutschen fortleben. Guten Morgen!« – und damit ging ich meiner Wege.

Am 19. März 1827 fand bei uns in Leipzig eine Gedächtnisfeier für Weber statt. Es wurde der »Freischütz« gegeben und diesem folgte die Feier, die, auf die sinnigste Weise von Küstner angeordnet, in mehreren lebenden Bildern aus Webers Werken bestand, wozu Heinrich Stieglitz ein erklärendes Gedicht geschrieben hatte. Die Einnahme des Abends betrug über 600 Taler und wurde von unserem trefflichen Direktor den Hinterlassenen Webers zugesandt. Er[184] ging auch hierin wieder mancher Hoftheaterintendanz mit gutem Beispiel voran. Das Ganze hatte übrigens das Publikum so angesprochen, daß vier Wiederholungen stattfanden. –

Bei Gelegenheit eines Gastspiels, das ich von Leipzig aus in Berlin unternahm, sollte ich auch Ludwig Devrient, den größten deutschen dramatischen Darsteller, nicht allein als Künstler, sondern auch als Menschen kennen lernen. Mein Freund Rebenstein, den ich schon von Weimar her kannte, nahm mich mit in die bekannte Weinstube von Lutter und Wegner. Wir setzten uns an einen Tisch, wo bereits außer zwei anderen Herren ein kleiner hagerer Mann mit spitzer Nase und spitzem Kinn, um dessen scharf geschnittenen Mund ein sarkastisches Lächeln spielte, Platz genommen hatte: der Kammergerichtsrat E. Th. A. Hoffmann. Devrient wurde erwartet.

Ein Mann von mittlerer Statur mit vollem, schwarzgelocktem Haar, Adlernase und schwarzen großen Augen trat herein und rief dem Kellner zu: »Karl, ein Glas Sekt, ich habe heute noch keinen Tropfen getrunken!« Das mußte Ludwig Devrient sein und kein anderer, und er war's. Ein elektrischer Schlag zuckte durch alle meine Glieder und meine Augen hafteten fort und fort auf dieser interessanten Persönlichkeit. »Ich habe einen weiten Spaziergang durch den Tiergarten gemacht,« sagte er zu den drei Herren. »Karl, bestellen Sie mir ein Huhn mit Reis, ich muß etwas essen.« Nachdem Devrient eingetreten, füllte sich das Zimmer mehr und mehr mit Gästen, und alles war nur Ohr für die geistreiche und interessante Unterhaltung, die nun an unserem Tisch begann. Endlich nahm Rebenstein Gelegenheit, mich Devrient als jungen Kollegen vorzustellen. Er begrüßte mich mit vielem Wohlwollen, indem er sich sogleich nach meinem Vater erkundigte, den er im Jahre 1807 in Leipzig hatte kennen lernen. Er sprach über seinen Kapuziner in »Wallensteins Lager«.[185] »Ich kann Ihnen versichern, meine Herren,« wandte er sich zu seinen Nachbarn, »ich habe in dieser Branche nicht leicht so etwas wiedergesehen.«

Von einem Fortgehen war nun natürlich keine Rede, und ich ließ meinem Vater ins Hotel sagen: er möge nicht auf mich warten, da mich Devrient aufgefordert habe, ihn ins Theater zu begleiten. Bis dahin wurde gezecht und die lustigsten Anekdoten wurden erzählt, worin Devrient ebenfalls Meister war. Endlich erinnerte ich ihn, daß es wohl Zeit sein möchte, zu gehen. »Na, so komm, mein Junge,« sagte er, »und begleite mich ins Theater.« Als wir auf die Straße kamen, erfaßte mich eine namenlose Angst, denn jetzt erst bemerkte ich, daß er einen tüchtigen Spitz hatte. In seiner Garderobe im Opernhaus angelangt, mußte ich ihm, während er sich ankleiden ließ, die Rolle des Falstaff überhören. »Du brauchst mir nur anzuschlagen, mein Junge,« bemerkte er. Dieses vertrauliche du gebrauchte er stets bei jungen Schauspielern, denen er wohlwollte. Ja, du lieber Gott! was half mir das Anschlägen? Ich mußte ihm die ganze Rolle soufflieren, denn er wußte kein Wort. Du mein Himmel, dachte ich, wie wird das werden! und ging mit großer Besorgnis in den Zuschauerraum, wo ich meinen Vater auf seinem Platz fand. Gleich bei seinem Erscheinen wurde Devrient vom Publikum mit einem Beifallssturm begrüßt, der sich bis zum Schluß seiner Darstellung zum endlosen Jubel steigerte. Welchen Eindruck das Spiel dieses unerreichbaren Meisters auf mich machte, kann ich mit Worten nicht beschreiben, aber unauslöschlich lebt es in meiner Seele fort, wie es jedem gehen wird, der das Glück hatte, ihn in dieser Rolle zu sehen. Das war ja ein ganz anderer Mensch als der, dem ich in der Garderobe die Rolle überhört hatte. Hier war alles die größte Sicherheit, und die Worte sprudelten nur so hervor. Dabei wußte er sein glückliches Nachahmungstalent[186] aufs köstlichste zu gebrauchen. In der Szene in der Schenke nach dem Raube, in welcher Falstaff zuerst den König vorstellt, sprach er, als ob man Matausch (der an diesem Abende den König spielte) hörte, und wie alsdann der Prinz, den Krüger gab, den Stuhl einnahm und Falstaff den Platz des Prinzen vertrat, glaubte man ein und dieselbe Person zu hören, denn täuschend kopierte er das dumpfe, hohle Organ des letzteren. Leider hatte ich zu jener Zeit nur Gelegenheit, den Meister in dieser Rolle zu bewundern, und offen muß ich gestehen, daß ich dieselbe nie wieder in solcher Vollendung gesehen habe; alle übrigen Darsteller waren Pygmäen gegen ihn. Ich hatte während meines Aufenthalts noch mehrere Male das Glück, seine Gesellschaft zu genießen, und gewann den Menschen trotz seiner Schwäche ebenso lieb wie den Künstler. Wie entsetzlich er aber auf seine Gesundheit loswütete, davon sollte ich mich an dem erwähnten Abend überzeugen. Nach jedem Akt ging ich in seine Garderobe, um ihm mein Entzücken mitzuteilen; da bemerkte ich, wie er aus einer Flasche, ehe er die Bühne betrat, lange Züge tat; ich fragte den Garderobier, ob das Wein wäre, und zu meinem Entsetzen hörte ich, daß es Rum sei. Die große Flasche war noch vor Ende des Stücks geleert.

Wie sehr sein Organismus bei diesem Leben litt, erfuhr ich bei einem Gastspiel, das er in Leipzig gab. Als König Lear bekam er einen Krampfanfall, daß er nicht ausspielen konnte und etwas anderes rasch eingeschoben werden mußte. Devrients Unwohlsein hielt ein paar Tage an, dann trat er in zwei kleinen Stücken auf; endlich fand die Vorstellung des »Lear« von neuem statt. Das Haus war ebenso zum Brechen voll wie das erstemal. Als ich im Anfang in seiner Garderobe saß, sagte er zu mir: »Junge, du glaubst nicht, was ich für eine Angst habe! Wenn ich nur erst über den zweiten Akt weg bin, dann ist alles gut, aber dieser ist's,[187] der mein Gemüt so furchtbar angreift; alles, was folgt, ist mir Spielerei, aber in ihm kommen meine Nerven in solche Aufregung, daß ich ihrer nicht Herr werden kann.« Ich bat ihn, zu Anfang seine Kraft mehr zu schonen als beim ersten Male. Er tat es auch bis zu der Stelle: »Höre mich, Natur!« Da brach er die Fesseln seiner Zurückhaltung, und wie ein tobender Sturm brausten die Gefühle eines verratenen Vaters und Königs, markerschütternd und herzdurchdringend, daher. Das Zirpen eines Heimchens hätte man hören können, solche Stille herrschte im ganzen Haus, selbst uns Schauspielern stockte der Atem; aber nach den Worten: »O Gott, ich werde wahnsinnig,« brach ein Beifallssturm los, wie ich ihn noch nie gehört, und der gar nicht enden wollte. Ich stürzte in seine Garderobe und küßte ihm seine arme verkrüppelte Hand. »Nun, Junge,« rief er mir mit freudestrahlendem Gesicht zu, »was sagst du? Siehst du, nun bin ich über den Berg und werde dem Publikum zeigen, daß ich meine Aufgabe zu lösen weiß.« Er hielt Wort und stand dem Dichter des Riesenwerks ebenbürtig zur Seite. Sein Auftreten im dritten Akt glich im An- und Abschwellen der Empfindungen einem sturmgepeitschten Meere; der Kulminationspunkt seiner Darstellung aber war der psychologische Übergang zum Wahnsinn. Ich stand in der ersten Kulisse, um sein Spiel aufs aufmerksamste zu verfolgen; alle meine Glieder bebten, als er sich die Kleider abriß, fast um einen Kopf größer wurde und seine Augen den Ausdruck eines Irren annahmen. Von da ab war er ein ganz anderer: aus dem wütenden, verzweifelten Greis war nicht allein in seiner Haltung, sondern auch in seiner Sprache wieder ein gebietender König geworden. Die Begeisterung des Publikums über diese Meisterleistung hatte den höchsten Gipfel erreicht; man wußte nicht, was für Ehren man ihm, dem Einzigen, antun sollte.

Bald nachdem ich nach Weimar zurückgekehrt war, kam[188] er auch zum Gastspiel dorthin, und wir führten mit ihm ein sehr bewegtes Leben; jeden Morgen ging es im Verein mit Laroche, Durand und einigen jüngeren Mitgliedern in die besten Weinstuben. Da der Oberhofmarschall Devrients Leidenschaft kannte, stand jeden Abend in seiner Garderobe eine Flasche seiner Rotwein und eine Flasche Champagner zu seiner Disposition; aber das genügte leider meinem Devrient nicht, denn er war gewohnt, während der Vorstellung Rum zu trinken. Dieser wurde jedoch auf Befehl des Oberhofmarschalls unter keiner Bedingung verabreicht. Durand und Laroche als Regisseure hatten darüber zu wachen. In der Vorstellung der »Drillinge« trat ich in seine Garderobe und fand ihn ganz exaltiert; er stürzte auf mich zu und rief: »Die da, Laroche und Durand, wollen mir keinen Rum geben.« – »Aber, lieber Onkel,« erwiderte ich, »der Oberhofmarschall hat es ihnen streng verboten.« – »Junge,« schrie er, »du kennst meine Natur. Wenn du mir nicht ein Glas Rum verschaffst, bin ich verloren und kann nicht weiter spielen.« Ich setzte mich demnach über alle Bedenklichkeiten hinweg, holte ihm auf eigene Gefahr das Verlangte, und er spielte seinen Ferdinand vortrefflich zu Ende. Leider war er schon so entnervt, daß er solcher Reizmittel bedurfte, um sich auf der Höhe zu halten. Wieviel er in den vier Jahren, daß ich ihn nicht gesehen, an Kraft verloren hatte, trat besonders in der Darstellung des Lear hervor. Daß er trotzdem noch der große Devrient war und ungeheures Furore in all seinen Darstellungen machte, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. – –

Während meiner Tätigkeit in Leipzig wurde mir eine besondere Freude und Auszeichnung dadurch zuteil, daß Heinrich Marschner die Titelrolle in seinem »Vampyr« für mich schrieb; infolgedessen mußte ich ihm über alle Nummern, bei denen ich beschäftigt war, meine Ansicht aussprechen. Er verstand sich zu einigen Abänderungen, wodurch das[189] Ganze im Vortrag wirksamer wurde. Das große Rezitativ des »Vampyr« machte einen gewaltigen Eindruck auf mich, aber ich hatte nicht geringe Angst davor und konnte mich nicht enthalten, meinem Freunde Marschner zu sagen, daß von dem Vortrage dieser unvergleichlichen Nummer das Schicksal der Oper abhinge; gelänge es mir, hierin das ganze grause Bild dem Publikum recht ergreifend vor Augen zu führen, dann hätten wir beide gewonnenes Spiel. Die Oper wurde in Leipzig zum ersten Male gegeben und fünfmal bei dem enormsten Beifall und stets gefülltem Hause wiederholt. – –

Sehr interessant war es mir, bei einem Aufenthalt in Stuttgart auch einen Blick in den dortigen Künstler- und Dichterkreis zu tun. Alle die Familien, an die wir von Leipzig aus empfohlen waren, nahmen uns mit echt schwäbischer Herzlichkeit auf. Vor allen war es Matthisson, der sich mit wahrer Freundschaft an uns anschloß, und diese innige Zuneigung bewahrte er uns bis zu seinem Tode. Jeden Morgen, ehe er auf die Bibliothek ging, sprach er bei uns vor; und wie anmutig und anregend war die Unterhaltung dieses greifen Dichters! Allen Vorkommnissen des Lebens wußte er eine poetische Seite abzugewinnen. In der Lebendigkeit seiner Augen hatte er viel Ähnlichkeit mit Goethe. Nicht minder liebenswürdig und trefflich war seine Gattin; es gereichte mir zu wahrer Freude zu sehen, wie herzlich sie sich der meinigen anschloß.

Eine zweite interessante Persönlichkeit war uns Terese Huber, Redaktrice des »Morgenblattes«. Sie war sehr kurzsichtig und betrachtete selbst jemanden, der dicht neben ihr saß, durch die Lorgnette. Eine solche Beweglichkeit des Körpers und Geläufigkeit der Zunge war mir bei einer so bejahrten Frau noch nie vorgekommen, es konnte einem dabei fast schwindelnd werden. Bei ihr war es, wo wir in einem Abendzirkel[190] alle literarischen Berühmtheiten Stuttgarts kennen lernen sollten: Uhland, Gustav Schwab, Reinbeck, Schorn, Haugk, den Freiherrn von Thumb usw. Besonders war ich seit langer Zeit schon auf den großen Dichter Uhland gespannt, denn meine Phantasie hatte sich auch von seinem Äußeren ein hochideales Bild entworfen. Als Matthisson mich ihm vorstellte und ich einen Mann mir gegenüber stehen sah, von mittlerer Gestalt, schlicht anliegendem, die Stirn zum Teil bedeckendem blondem Haar und kräftigen Gesichtszügen, da war ich etwas befremdet, denn es paßte nichts davon zu meinem schwärmerischen Phantasiebilde, als die wunderbar schönen, geist- und gemütvollen blauen Augen. »Ich hab' Ihre Bekanntschaft schon auf dem Theater gemacht,« sprach er mich an. »Sie habe mir als Jakob sehr gefalle, Sie habe den alten Mann net vergesse und den Patriarche' recht wacker zur Anschauung gebracht.« Auch der schwäbische Dialekt kam mir aus seinem Munde unerwartet. Aber wie vergaß ich das alles so vollständig und wie fühlte ich mich immer mehr zu Liebe und Bewunderung hingerissen, als die Unterhaltung allgemein wurde und die geistige Größe des herrlichen Mannes sich immer bedeutender offenbarte!

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 173-191.
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