Was ist guter Ton und zu welchem Zweck bedient man sich seiner

In unserem Zeitalter, das der Technik entsprossen, durchaus dem Reich der Technik angehört, könnte man den guten Ton vielleicht am besten als vollendete Technik des gesellschaftlichen Umgangs bezeichnen und damit auch in den Horizont jener rücken, die allzu gern das Traditionelle abwerfen, um sich vollauf dem Gebot der Stunde hinzugeben. Und eben diese Stunde verlangt von uns guten Ton, welchem Beruf wir angehören, welches Geschlecht und Lebensalter uns eignet.

Alles ist nur in uns, aber alles wirkt von uns aus auf die Menschen und Dinge, mit denen uns tausend Fäden verknüpfen. Und diese wirken wiederum auf uns. Wellen umspülen und durchrieseln uns wie die anderen. Das Spielen dieser Wellen ist reizvoll und ergibt das eigene Leben. Diesem Wellenspiel zuzusehen, sich tragen lassen, aber auch schwimmen können, mit dem Strom, jedoch manchmal auch gegen den Strom, nicht mit anderen Schwimmern zusammen zu stoßen, sondern immer Rücksicht zu üben, ohne das eigene Ziel außer acht zu lassen, das Beherrschen der Form und niemals ihr Sklave sein, das gibt dem guten Ton Unterbau und Hintergrund, zeigt sich als dessen ABC und soll den Inhalt dieses Büchleins bilden.[9]

Kann eine Schrift, in der dies ABC der gesellschaftlichen Technik angedeutet wird, dazu führen, sie zu erringen? Kann einer den Anderen überhaupt derlei lehren? Jedenfalls kann er den Weg zeigen und den Wanderer durch eine freundliche Landschaft führen in kultivierter Gegend, die von zivilisierten Menschen bevölkert ist. Die erste Erkenntnis, die schon vor der Wanderung erlebt werden sollte, besteht in der Einsicht, daß die Welt erst da beginnt, wo der Einzelne in Beziehungen zu den Anderen tritt, gezwungen, sich richtig und korrekt in die Umwelt einzustellen. Philosophisch hat Mach dies in der naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre ausgedrückt: »Die materielle Welt besteht eben in der Verknüpfung der Reaktionen der Elemente, wovon die Verknüpfung der menschlichen Empfindungen nur ein Teil ist.«

Dieser Teil besteht hauptsächlich in der Voraussetzung, daß jeder, der sich wahrhaft guten Tones befleißigt, die Maxime befolgt: Leben und leben lassen.[10]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 7-11.
Lizenz:
Kategorien: