Von guter und falscher Erziehung

[27] Die Erziehung macht den Menschen zu dem, was er im späteren Leben vorstellt. Zwar ist unser Leben selbst für jeden der wirksamste Erzieher, aber seine Schule ist hart und am härtesten für den, dem die gute Kinderstube gefehlt hat. Den wenigsten ist es möglich, persönliche Erfahrung in verschiedenen Lebenskreisen von Jugend an zu gewinnen, doch jeden sollte eine gute Kinderstube über die Sitten und Ansprüche aller Gesellschaftskreise soweit unterrichten, daß er gegebenenfalls dort verkehren kann, ohne Anstoß zu erregen. Der Umsturz hat die frühere, strenge Abteilung von Klassen und Ständen vielfach verwischt, die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse einstige Rangordnungen obsolet gemacht. Da sollten die Heraufkommenden besonders darauf achten, dem Nachwuchs eine gute Kinderstube zu geben, die das Fortkommen im praktischen Leben erleichtert.

Unter einer guten Kinderstube versteht man, wörtlich genommen, einen gesunden Raum mit den nötigen hygienischen Einrichtungen für den jungen Erdenbürger, das größtmöglichste Maß an Luft, Licht, Reinlichkeit und gutem Geschmack. Im übertragenen Sinn verlangt sie die sorgsamste Pflege der Charaktereigenschaften und des Benehmens, ein kluges Entfernen oder Verbessern[27] schädlicher Neigungen. Wer ein Kind erzieht, trägt große Verantwortung und muß die ganze Kraft einsetzen, das Werk zu gutem Ende zu führen. Schon von der Geburt an bis zum Beginn der Schulzeit hat es ungeheuer viel zu lernen und legt in dieser Zeit den Grund für das gesamte Lebensgebäude. Weniger durch Denken und Überlegen als durch Beobachten und Nachahmen lernt das Kind in den ersten Jahren; deshalb ist es wichtig, daß es nur beispielkräftige Dinge hört und sieht. Darin liegt ein deutlicher Wink für jeden Erzieher.

So verschieden die Lebenslagen und damit die Anforderungen der einzelnen sich stellen, die Erziehungsgrundregeln gelten für jede Kinderstube.

Die erste Regel heißt Gehorsam! Viel zu viel wird in unserem »Jahrhundert des Kindes« die Individualität der Kleinen hervorgehoben, wenn es gilt, ihre Unarten zu beschönigen. Die Anlagen der Kinder sind verschieden; das wird niemand bestreiten; aber jeder klar denkende Mensch kann nur den einen Schluß daraus ziehen, daß aus jeder dieser Anlagen das möglichst Beste entwickelt werden muß. Wie der Gärtner sorglich die Natur der Pflänzchen studiert und ihre schönste Blüte dadurch erzielt, daß er jedem nach seiner Art Luft, Licht und Nahrung im richtigen Maße zuteilt, so und noch viel mehr sollte der Erzieher die Bedürfnisse der ihm anvertrauten Kinderseelen studieren und erfüllen. Das Kind, der Mensch der Zukunft, [28] soll der Mittelpunkt sein, auf dem sich alles Denken und Fühlen der Eltern vereinigt, aber – es soll nichts davon merken! Die meisten Kinder sind heute viel zu sehr von der Wichtigkeit ihrer kleinen Persönlichkeit durchdrungen, und vorlautes Wesen, Ungehorsam und Unverträglichkeit sind die Folgen.

In einer guten Kinderstube herrschen Frohsinn und unbedingter Gehorsam. Die natürliche Heiterkeit der Kinder darf nicht durch fortwährende Gebote und Verbote getrübt werden. Ein wahrhaft guter Erzieher besitzt die Fähigkeit, unbemerkt zu leiten und abzulenken; er versucht, vorbildlich zu wirken in jeder Bewegung, jedem Wort und jeder Tat, denn er weiß, daß ein Kind alles nachahmt, was es in seiner Umgebung sieht. Überlaut sprechende, heftig gestikulierende Menschen mit hastigen, unschönen Bewegungen oder mürrische, grobe Gesellen verderben die guten Anlagen eines Kindes und erziehen ihresgleichen, auch wenn sie die besten Absichten haben, das Gegenteil zu erzielen.

Ist ein Verbot notwendig, so muß es ohne jede Einrede sofort befolgt werden; der Gedanke, daß Ungehorsam möglich wäre, darf gar nicht aufkommen.

Die größten Fehler werden von vielen Eltern dadurch gemacht, daß sie nicht früh genug mit der Erziehung beginnen und alle kleinen Unarten des Lieblings zuerst bewundernd belachen. Das merkt das kleine Wesen sehr gut, und ein Kind, das zehnmal sein Spielzeug fortwarf,[29] ohne Grund schrie oder sonst irgend eine Unart vollführte, ohne gerügt zu werden, kann unmöglich die Strafe begreifen, die es vielleicht beim elften Male für das gleiche Tun erhält. Eine solche Erziehung ohne Methode ist zwecklos und nur geeignet, Trotz zu erwecken.

Die zweite Erziehungsregel heißt Ordnung.

Ordnung in der Umgebung und im Tun des Kindes hat den Zweck, seinen Sinn für Pflichtbewußtsein zu erwecken und zu pflegen. Ein Kind kann schon in frühem Alter daran gewöhnt werden, sein Spielzeug selbst an den dafür bestimmten Platz zu legen, wenn ein anderes benutzt werden soll. Kleine Pflichten entwickeln das Gewissen; wer nicht in der Jugend lernt, sie ernst zu nehmen, wird später bei den Anforderungen des Lebens versagen.

Das Tagewerk des Kindes ist das Spiel, das in seiner vollen Wichtigkeit erkannt und geleitet werden muß. Die Wahl der Spielsachen nützt oder schadet viel mehr, als der oberflächliche Beobachter denkt.

Wie häufig hört man die Klage, daß Kinder eine wahre Zerstörungswut an den Tag legen, daß alles, was ihnen in die Hände kommt, zerbrochen und zerschlagen würde. Das Kind will aber nicht zerstören, sondern aufbauen – es will seine Umwelt im Kleinen so nachbilden, wie seine unentwickelten Sinne sie im Großen sehen. Der rechte Erzieher wird diesem Wunsch durch Lieferung des geeigneten Materials entgegenkommen.[30] Das gesunde Kind will sich betätigen; die fertige, auf Schienen laufende Eisenbahn, die seine Schlafpuppe, der zierliche Springbrunnen usw. sind Dinge, die dem Kinde unverständlich sind, mit denen es nichts anderes anzufangen weiß, als sie – zu ihrem Schaden – von allen Seiten immer wieder zu untersuchen, um sie schließlich achtlos auf die Seite zu werfen.

Das Spielzeug des Kindes sollte einfach und leicht zu verändern sein, damit das Kind selbst diese Veränderungen vornehmen und seine Phantasie zu immer neuen Taten anregen kann. Stäbchen und Bausteine, Häuser, Bäume und Tiere in einfachster Form genügen vollständig, um der Traumwelt des Kindes ein immer neues Paradies zu schaffen. Das kleine Mädchen liebt das einfachste Puppenkind oder gar das in ein Tuch gehüllte Klötzchen meist inniger als die fein gekleidete Puppe; und dem Glück des kleinen Buben tut es durchaus keinen Abbruch, wenn seine Eisenbahn – aus einigen zusammengestellten Stühlen besteht.

Und niemals ist ein Kind zu jung, um auf die Schönheit der Natur hingewiesen zu werden! Die rücksichtslosen Abrupfer und Zerstörer alles Blühenden, die Ärmsten, die trotz gesunder Augen und Ohren blind und taub durch Wälder und Auen schreiten, hatten keine gute Kinderstube. Niemand lehrte sie, Pflanzen und Tiere zu lieben, und wenn sie später den Zusammenhang alles Existierenden durch die Wissenschaft kennen lernen, so nehmen sie damit nur ein[31] totes Bücherwissen in sich auf, das auf ihr eigentliches Leben keinen Einfluß übt.

Die dritte Erziehungsregel ist Verträglichkeit.

Das Kind muß frühzeitig lernen sich anderen anzupassen, Rücksichten zu nehmen. Es soll daran gewöhnt werden, jedem Menschen freundlich zu begegnen, mit anderen Kindern ohne Streit zu spielen, sein Spielzeug nicht zu verweigern, ruhig zu sein, wenn Brüderchen schläft, und dergleichen mehr.

Höflichkeit gegen Erwachsene, wie gegen Geschwister und Spielgenossen muß als etwas ganz Selbstverständliches gefordert und geübt sein. Bitte und Dank dürfen niemals vergessen werden; der kindliche Frohsinn soll nicht in ungezügeltes Toben und Schreien ausarten. Kinder können ihre Jugendlust voll und ganz ausleben, ohne denen, die in Hör- und Sehweite sind, das Dasein unerträglich zu machen. Allerdings liegt in solchem Fall die Schuld mehr an den Hütern als an den Kleinen, die die Wirkung ihrer Spiele auf die Umgebung noch nicht beurteilen. Aber aus rücksichtslosen Kindern werden Menschen, deren vielleicht im späteren Alter erworbene Gesellschaftshöflichkeit im engen Kreise des Hauses sehr schnell versagt. Dann kommen die schlechten Angewohnheiten der Kinderstube zum Vorschein, die das Glück und den Frieden mancher Familie vernichten.[32]

Von dem Tage an, der das Kind an einen richtigen Eßtisch führt und wo es die Mahlzeiten mit den Erwachsenen zusammen einnimmt, muß es angehalten werden appetitlich zu essen, ruhig am Tisch zu sitzen, keine Speisen zu verschütten, nicht fortwährend zu plaudern, sondern seine Aufmerksamkeit dem richtigen Benehmen zuzuwenden. Die Art, in der das Kind die Nahrung zu sich nimmt, hängt natürlich von dem Beispiel ab, das ihm seine Umgebung bietet. Deshalb sollten sich Eltern und Erzieher stets befleißigen, ein gutes Beispiel zu geben, was ihnen leicht fällt, wenn sie selbst eine gute Kinderstube gehabt haben. Unendlich viele Einzelheiten der Erziehung lassen sich nur von Fall zu Fall entscheiden – aber Ehrfurcht vor dem Alter und vor der Arbeit, Selbstvertrauen und frühzeitig eine gewisse Selbständigkeit zu erwecken, ist auf alle Fälle und in jeder äußeren Lebenslage geboten. Jede Familie versuche die Kinder soweit heranzubilden, daß sie von Jugend an dem Ideal eines Edelmenschen nachstreben.[33]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 27-34.
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