Schule und Haus

[41] Das wichtigste Erziehungsmittel für das Kind während der Schulzeit besteht darin, ihm einen festen Glauben an die Autorität des Lehrenden einzuflößen und zu erhalten. Das Kind fängt in dieser Zeit an, seine Umgebung denkend zubeobachten, und nichts ist verderblicher für das junge Gemüt als Enttäuschungen, die ihm durch Wdersprüche zwischen Worten und Handlungen oder gar durch unwürdiges Verhalten derer bereitet werden, die es liebt und denen gegenüber es Ehrfurcht empfinden soll. Eltern, Lehrer und große Persönlichkeiten der Gegenwart und Vergangenheit seien dem heranwachsenden Kinde leuchtende Vorbilder, denen nachzustreben es aus eigenem Antriebe seine ganze Willenskraft einsetzt.

Verständige Eltern achten darauf, daß die guten Gewohnheiten der Kinderstube befestigt und schlechte Neigungen energisch bekämpft werden. Die Schule bringt das Kind mit fremden, oft ungünstig wirkenden Elementen zusammen und bisher ungekannte Unmanieren, Unverträglichkeit und Tadelsucht oder Besserwissen sind die Folgen davon. Es gibt zwölf- bis vierzehnjährige Kinder, die sich Urteile über alle möglichen Vorkommnisse des Lebens anmaßen und leider viele Eltern, die in diesen unreifen Urteilen ein Zeichen besonderer Intelligenz ihrer[41] Sprößlinge erblicken. Sie vergessen, daß vielseitige Erfahrung die erste Bedingung zu einem richtigen Urteil ist und daß daher Kindern, denen naturgemäß jede Erfahrung fehlt, abfällige Kritiken nicht zu gestatten sind.

Alle Eltern sollten bedenken, daß die Schulzeit eine nie wiederkehrende Lehrzeit ihres Kindes ist, die im Hause wie in der Schule voll ausgenutzt werden muß. Aber das Haus trägt die größte Verantwortung für diesen Lebensabschnitt des zukünftigen Menschen! Das Haus bildet das Wesen und Denken des einzelnen, während die Schule ihren Hauptwert auf das fortschreitende Wissen aller Schüler legen muß und nur in Ausnahmefällen die persönlichen Anlagen und Bedürfnisse einzelner berücksichtigen kann.

Die Kinderstube und die Schulzeit legen den Keim, aus dem später nicht nur der gute oder schlechte Ton, sondern oft das Glück oder Unglück des Menschen erwächst. Ein unbekannter Dichter formte den Vers:


»Unmerklich leise prägt das Haus

Mit seinem Wesen, seinem Geiste

Sich in der Kindesseele aus.

Aus diesem Boden nimmt das Meiste

Ein jeder mit ins fern're Leben,

Und wenn ihn allezeit umgeben

Nur Wahrheit, edle Sitte, Güte

Dann wurzeln fest sie im Gemüte

Als Keim, der reiche Frucht wird geben.«
[42]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 41-43.
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