Anreden und Vorstellen

[161] Man ist weniger förmlich in diesen Dingen geworden, aber ebenso korrekt geblieben, wenn man gewohnt ist, sich des guten Tones zu befleißigen. Wie es im Ausland [England, Frankreich, Italien] niemals dem vornehmen Gebrauch entsprach, sich selbst überall vorzustellen und seinen Namen wahllos und unaufgefordert zu nennen, so hat sich auch bei uns eine gewisse wohltuende Reserve eingebürgert. Man kann auf der Eisenbahn, im Gesellschaftsauto, am Gasthaustisch ohne weiteres ein Gespräch beginnen und, wenn der Versuch freundlich aufgenommen wird, die Unterhaltung fortsetzen, ohne daß eine Vorstellung erfolgt. Natürlich verlangt der gute Ton bei solchen Gelegenheits-Unterhaltungen eine gewisse Vorsicht, man erzählt weder vertrauliche Dinge aus dem eigenen Leben oder von seinen Bekannten, berührt womöglich keine religiöse Fragen und ist zurückhaltend mit seiner politischen Meinung; man kann trotzdem recht interessante Stunden verleben.

In vornehmen Clubs gelten die Anwesenden für »einander vorgestellt«. Bei großen Empfängen genügt es, bisher Unbekannte nur dann kennen zu lernen, wenn man zufällig in ihre Nähe zu sitzen kommt. Dann bittet man einen gemeinsamen Bekannten, wenn der Gastgeber anderweitig beschäftigt ist, die Vorstellung zu betätigen.[161] Bei großen Diners genügt es ebenfalls, mit den Nächstsitzenden bekannt zu sein. Besteht der Wunsch, irgend jemand kennen zu lernen, so bittet man den Hausherrn oder die Hausfrau. Titel werden nur genannt, soweit es nötig ist der richtigen Anrede wegen, oder innerhalb eines bestimmten Beamtenkreises, wo es auf den Titel ankommt. Besonderen Wert darauf zu legen ist spießbürgerlich und entspricht keineswegs dem Ton der vornehmen Welt, denn es sieht dann leicht so aus, als sei der Betreffende oder die Betreffende nicht ihrer Persönlichkeit wegen, sondern nur um des Titels willen eingeladen. Wie man sich in jedem einzelnen Fall zu verhalten hat, ist Sache des Taktes. Man stellt die Herren den Damen, die Jüngeren den Älteren, die Menschen mit niedrigerem offiziellen Rang jenen mit höherem Rang vor. Ist kein offizieller Rang vorhanden oder stehen die Betreffenden einander gleich, so berücksichtigt man das ungefähre Alter. Genau weiß man es ja meistens nicht. Die umständlichen Formen von Vorstellung und Anrede, die Jahrhunderte lang das gesellschaftliche Leben beherrschten, haben sich im freieren und ausgedehnten Verkehr der neuen Zeit verloren. Wir brauchen dies Korsett des guten Tones nicht mehr, denn wir sind durch den weiteren Horizont unseres Daseins sicherer im Verkehr und wissen uns auch ohne Titulaturen anständig zu benehmen.[162]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 161-163.
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