Schlußwort über neue Geselligkeit

[175] Unter gutem Ton dürfen wir uns keine schwerfällige oder spitzfindige Affektation vorstellen, wie sie einst vielleicht gebräuchlich war. Wohl mußte der gute Ton zum Rüstzeug verschiedener Zeremonien greifen, um sich wieder einzuführen und gesittetes Dasein wieder aufleben zu lassen nach katastrophaler Verwilderung. Dies ist öfters in der europäischen Geschichte zu ersehen.

Nach der Verwilderung der römischen Bürgerkriege erhebt sich majestätisch siegreich der gute Ton im augusteischen Zeitalter, dann nach der Barbarei der Völkerwanderung und erlebt eine lange Blüte in höflicher Zucht und Sitte, ersteht neu nach dem 30jährigen Krieg, nach den Bürgerkriegen in England und Frankreich, die eine Verrohung der Manieren und dementsprechend des Gemüts nach sich zogen: er rüstet sich mit neuen Zeremonien, um eine veränderte Erscheinung des Kulturmenschen zu gewährleisten.

Das zeremoniöse, mit steifer Höflichkeit in Szene gesetzte Duell wurde zur Kampfansage des guten Tones gegen gemeine, wilde und versoffene Rauferei, gegen Blutrache und Mord. Das zeremoniös bestimmte, galante Benehmen dem Frauenzimmer gegenüber sollte der überhand nehmenden Brutalität einen Riegel vorschieben. Wir sehen, daß viele heute[175] abgebrauchte Konventionen, deren sich der gute Ton unterwerfen mußte, historisch bedingt sind. Im Grunde ist er ja nichts anderes als jenes Kunstgefühl für die »Tugend«, das unsere Klassiker meinten, jenes »Ziemliche«, das von den Lippen edler Frauen immer wieder verkündet wurde, jenes freundlich ernste Gebot der Herzensbildung: »Erlaubt ist, was sich ziemt.«

Der erste Schritt zur Zivilisation ist die Achtung vor dem Schicklichen, der erste Schritt zur Verwilderung, die Abkehr vorm Schicklichen, der Verlust von Erfurcht und Anstandsgefühl. Daran kann keine Zeit etwas ändern.

Was hier in kurzen Abschnitten dem Herrn und der Dame als Leitfaden geboten ist, zeigt, wie man sich benehmen soll, um nicht Anstoß zu erregen; es sind Winke das Leben zu erleichtern, indem unnötige Zweifel beseitigt werden. Das Buch möchte beratend einwirken, ohne schroff zu sagen: so und nicht anders gehört es sich. Da der gute Ton im Verkehr mit dem lieben Nächsten zum Ausdruck kommt, bilde eine kleine Betrachtung über neue Geselligkeit den Abschluß.

In der Entwicklung des geselligen Lebens zeigt sich von Anfang an eine konservative Richtung, die stets zur Herrschaft drängt und mit der Zeit noch aus jedem Umsturz siegreich hervorgegangen ist. So auffallend die äußeren Erscheinungen auch wechseln mögen, ihre tiefste Struktur kann nicht verbogen werden, eher zerbrochen in irgend welcher Katastrophe. Nach solchem[176] Bruch drängt sich aber bald eine naive Sehnsucht nach dem Erprobten zutage.

Schritt für Schritt, zuweilen Sprung für Sprung wird die allgemeine Zeitänderung von den geselligen Gepflogenheiten begleitet, und da kommt Altbewährtes in neuem Gewand.

Wie ist es möglich, im Zeitalter des Boxens, ein gepflegtes Gespräch, die Kunst zu plaudern plötzlich aufleben zu lassen unter Menschen, die deren Technik entbehren? Ein kluges Gespräch zu führen ist nicht so einfach, und es gehört mehr dazu als ein rationell entwickelter Körper.

Vorbei sind die feierlich preziösen italienischen Gesprächsabende, die man »conversazione« nannte, weil sich nichts anderes als Konversation begab. Diese Art der Geselligkeit war für gebildete Menschen so genußreich, daß fromme Zeiten sie den Heiligen zumuteten und Bilder, die jene im Gespräch zeigten »Santa conversazione« nannten.

Heute bildet man sich ein, zu bequem, zu müd, zu abgearbeitet zu sein für dieses Spiel des froh sich tummelnden Geistes. Und doch ist der moderne Mensch lebhaft, empfänglich, gerne angeregt und anregend durch die Fülle seiner Erlebnisse. Er will nur, namentlich wenn er jung ist, nichts wissen von jener strengen äußeren Form, die er umständlich und veraltet nennt. Aber hat es unnötiges Zeremoniengerümpel jemals da gegeben, wo wirklich gute Konversation Geister schied und zusammenführte? Im Dachstübchen einer geistreichen Frau, im kleinen Salon einer großen Dame, am eichenen Tisch[177] berühmter Weinwirtschaften? Der Geist bedarf keinen Zwang, er überwindet die äußere Form weil er die höchsten Formen in sich trägt. Er zeigt sich jedoch nur in engem Kreis unter wenig Menschen, denen Freude am Wort und am Gedanken eigen ist. Die Menge jagt den großen Veranstaltungen nach – denn Gedränge ist Vielen ein Vergnügen. Die großen Empfänge in den Metropolen, besonders der sogenannte »crush« der Londoner Gesellschaft, der diesem Vergnügen dient, weisen einen so starken Prozentsatz ungeladener Gäste auf, daß die Gastgeber ernstlich auf Abhilfe sinnen. Vielleicht bildet es für manchen armen Teufel, der Manieren und einen Gesellschaftsanzug von früher besitzt Lebensunterhalt und Sport, ungebeten zu erscheinen, irgendwelche Beziehungen anzuknüpfen oder sich nur bis zum Eßtisch durchzukämpfen. Jede Zeit hat ihre eigenartigen Parasiten.

Beziehungen in der Gesellschaft geschäftlich auszumünzen, ist in der Gegenwart recht gebräuchlich geworden. Namentlich Damen zeichnen sich aus in diesem einträglichen Sport, preisen Bücher an oder Parfums, tragen eine Modeneuigkeit zur Schau, die von dieser oder jener Gesellschaft aus sich verbreiten soll oder »Lancieren« gegen hohe Vergütung irgend eine neureiche Familie, deren erste Schritte auf dem glatten Parkett sie ein wenig gouvernantenhaft betreuen. Auch hat sich das »shopping« in eleganten [heute sagt man »feudalen«] Läden zu einer neuen Art geselliger Zusammenkünfte entwickelt.[178]

Während öffentliche Feste, oft unter fantastischem Prunk vor sich gehen, gleitet die private Geselligkeit in das Reich behaglicher Anpruchslosigkeit und findet sich ab mit dem neuzeitlichen Platzmangel, sowie mit der modernen Sachlichkeit.

Die Raumverhältnisse moderner Wohnungen gestatten vielfach, in der neuen Welt, wie in der alten, kein eigenes Eßzimmer und im »Salon« oder der Wohnstube würde ein Eßtisch in entsprechendem Ausmaß stören. Da ist man wieder auf den alten Klapptisch gekommen, von dem die französische Redensart »dresser la table« stammt. Der »fliegende Tisch«, wie er jetzt heißt, lehnt für gewöhnlich in der Küche und wird nach dem Essen sofort abgeräumt, zusammengeklappt und hinausgetragen. Dazu helfen die Gäste. Dann wird je nach Stimmung in der Kaminecke zum Kaffee geplaudert oder das Grammophon tritt in sein Recht und lockt zum Tanz. So beginnt in bescheidenem Raum anspruchslose Geselligkeit; »praktische Sozialisierung des mondänen Lebens« hat es eine Zeitung genannt.

Der Heroismus des Humors ist die kriegerische Aufrüstung des guten Tones und läßt sich gut mit dem wackeren Schild vergleichen, in dessen Schutz wir Hieb und Stich des Schicksals füglichst ertragen.

Bekanntlich sind humorvolle, unentwegt heitere Menchen die gesuchtesten und beliebtesten Gesellschafter. Sie dürfen jedoch nicht zum beruflichem Witzbold herabsinken, nicht zum gehänselten oder hänselnden Dorfdeppen werden[179] und nicht die Rolle des antiken Parasiten spielen, der seinen Platz an der Tafel mit beweglicher Zunge erkaufte. Er darf nie gewohnheitsmäßig auslachen und sich ermächtigt fühlen die Pritsche des Hofnarren zu schwingen.

Leise Belustigung über eigene Fehler kann amüsant wirken, Übertreibung solcher Scherze kann verhängnisvoll werden, weil der andere nicht recht weiß, wie er sich dabei verhalten soll. Übelnehmen und eigensinniges Verharren darin ist der schlimmste Schädling des Verkehrs.

Richtige Anrede und Anschrift, rechtzeitige Einladung, beziehungsweise Absage sind darum wichtig, aber leider so mühsam, besonders für den Gelehrten und den von Geschäften in Anspruch genommenen, daß gerade die »interessanten Menschen« am liebsten auf Geselligkeit verzichten. Sie brauchen und finden auch eine Art Impressario, der allen Kleinkram für sie besorgt.

Zum Beherrschen des guten Tons gehört auch, sein Gedächtnis zu üben. Wir sind erfreut und geschmeichelt über Glückwünsche und sonstige Kundgebungen der Sympathie. Es erfordert jedochanstrengende Übung, um kränkende Zerstreutheiten und Vergeßlichkeiten zu vermeiden. Deshalb waren einst Kinder und junge Leute angehalten, Höflichkeiten zu erweisen, ältere Leute ihres Kreises bei jeder Gelegenheit anzufeiern, Respektspersonen langweiliger Art geduldig zu ertragen. Fürstlichkeiten bekamen besonderen Unterricht in Höflichkeiten, um beim »Cercle« usw. den richtigen Ton zu treffen. Leider ist es nicht genügend Gepflogenheit geworden, im Verkehr mit hohen und höchstgestellten[180] Personen den guten Ton restlos zu treffen, er schwankte vielfach zwischen abgeschmackter Unterwürfigkeit und eitler Familiarität.

Moderne Geselligkeit kann aufbauend wirken und zur Trägerin einer Neukultur werden, wenn sie sich im wahrsten Sinn des Wortes ausgetanzt hat und vom Rhythmus des rein Körperlichen wieder zu einem Rhythmus des Geistigen hinüberfindet, der nicht lärmbetäubend sondern melodisch weiterklingend die Freude am geselligen Umgang von Mensch zu Mensch vertieft. In solchem Verkehr können die Lebensalter freundlich aufeinander einwirken, können die Grenzen der Geschlechter, die im öffentlichen wie im geschäftlichen Leben sich allzusehr verwischen, liebenswürdig betont werden, ohne die moderne Kameradschaftlichkeit zu stören und wird sich altes Kulturgut harmonisch mit neuem verschmelzen. Ohne feine Geselligkeit kein guter Ton, aber auch ohne guten Ton keine Geselligkeit.


Alexander von Gleichen-Rußwurm[181]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 175-182.
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