Johannes Brahms

[84] Wann und wo ich Johannes Brahms kennen lernte, ist genau zu sagen mir heute schwer, doch dürfte es kaum später als 1860-61 und allerwahrscheinlichst im damaligen Café Čech im Trattnerhof am Graben gewesen sein; denn dort trafen wir uns lange Zeit. Mit dem Aufgeben des Carl-Theaters hatte ich auch die Geige vollständig aufgegeben, das heißt ich zog mich im Quartettspiel auf die Bratsche zurück. Wir – vier junge Leute – hatten ein gutes Quartett und spielten viel Quartettmusik. Diesem Quartett übergab Brahms sein neues, später mehrfach umgearbeitetes Streichquintett zur ersten Probe. Bekanntlich hatten seine ersten Werke in Wien einen ziemlich schweren Stand. Die tiefe und oft herbe Art, wenigstens für die damalige Zeit, fand nur kühle Aufnahme. Bei einer Probe eines seiner Klavierquartette machte der Sekondgeiger Durst des HellmesbergerQuartetts eine etwas abfällige Bemerkung, worauf Brahms[84] zornig erwiderte: »Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gefragt.« Auch in einer philharmonischen Probe einer seiner Serenaden unter Direktion Dessoffs benahm sich das Orchester in sichtbarer Unruhe, die dem Werke galt, etwas unfreundlich. Brahms trat ans Dirigentenpult und sagte: »Meine Herren! Ich weiß, ich bin nicht Beethoven, aber ich bin Johannes Brahms.« Dieses sich schon früh äußernde Selbstbewußtsein imponierte und machte – dies wohl nicht allein – die einflußreichsten Kritiker ihm vollständig ergeben. Allmählich kam man dahinter, oder vermutete doch, was da los sei, sie glaubten an ihn, Jurare in verba magistri, auch wenn sie ihn nicht ganz verstanden. Sein intimes Verhältnis zu Hanslick, der ganz in seinem Banne stand – ohne ihn ganz zu verstehen – ist bekannt. Aber auch Ludwig Speidel war sein Bannerträger, bis eine brüske Bemerkung Brahms' diesen zum unversöhnlichsten Feinde machte. Übrigens ist folgende verbürgte Tatsache sowohl für Speidel als auch für den Herausgeber der »Neuen Freien Presse« charakteristisch. Letzterem mißfiel die ewige starke Verhimmelung Brahms' – des Gegenkaisers Wagners – durch Hanslick, da er nicht wußte, welchen Anteil der Haß Hanslicks gegen Wagner hieran habe, der ihm die Feder führte. Hierüber Klarheit zu erhalten, ließ er sich eines Tages Speidel rufen und sagte ihm: »Ich bitte um Ihre ehrliche Meinung – was halten Sie von dem kritischen Urteil Hanslicks über Brahnts? Verdient der Mann diese auszeichnende Behandlung?« Und Speidel antwortete trotz seiner offenbaren Feindschaft: »Er verdient sie vollkommen.« Der Redakteur sprach kein Wort weiter und ließ Hanslick frei gewähren. Ehrenhaft für beide.


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[85]

Brahms war eine durchaus großangelegte Natur, von großer Wahrhaftigkeit, der auch im alltäglichen Verkehr keine Notlüge sagen konnte. Seine Freunde standen bis zur Willenlosigkeit in seinem Banne. Er war als Mensch ebenso groß wie als Künstler, auf den so hellglänzenden Charakter fiel kein Schatten. Aber er war gewohnt, sich gehen zu lassen, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen, was ihm mißfiel, geradeheraus zu sagen und bei seiner, nach außen etwas derben Art fiel das manchmal auch recht derb aus.

Zirkulierte doch in Wien das Wort eines Witzboldes, daß er (Brahms) nach einer Soiree sich von der Dame des Hauses mit den Worten verabschiedete: »Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht jemand zu beleidigen vergessen hätte.« Und so mag es wohl gekommen sein, daß er, ohne Absicht zu schaden, oft eine abfällige Äußerung achtlos hinwarf, namentlich in seiner ersten Wiener Zeit. Aber seine Intimen in der Wiener Presse: Hanslick, Gehring, Dömpke lasen das anders (vor und nach dem Essen) und ich bekam's zu spüren, was jedoch unsere persönlichen Beziehungen nie beeinflußte.

Nur durch ein kleines Beispiel will ich hier zur Illustration anführen, wie sehr Hanslick unter dem Ein fluß Brahms' stand. Ich hatte den Text von Martin Luther: »Wer sich die Musik erkiest« – für gemischten Chor komponiert und probierte ihn in einem befreundeten Hause (Frau Schwarz, Schwester Ignaz Brülls). Einige Tage nachher sah Brahms den Chor auf dem Klavier liegen. Nachdem er ihn gelesen, geriet er in hellen Zorn und fiel mich an: »Wann haben sie den Chor geschrieben? Woher haben Sie den Text? Der ist ja gar nicht von Luther usw.« Eloch auf dem ganzen langen Heimweg konnte er sich nicht beruhigen und tobte förmlich, was um so komischer war, als nicht der geringste Grund hiefür vorlag. Der Chor wurde[86] bald darauf im Gesellschaftskonzert aufgeführt und Hanslick nahm nicht Anstand zu schreiben, der Text sei gar nicht von Luther. Das war Brahms' Geschoß. Ohne sich weiter zu informieren, schrieb Hanslick seine Worte nach. Brahms scheint sich indessen besser informiert zu haben, denn einige Tage danach, gelegentlich eines Mittagessens bei Ignaz Brüll sagte er übermäßig laut (in meiner Gegenwart) zu dem neben ihm sitzenden Sänger Gura (Vater): »Finden Sie es nicht sonderbar, daß ein Jude einen Text von Martin Luther komponiert?« – Und all das, der ganze Zorn, weil der zarte evangelisierende Text, der ihm sehr gepaßt hätte, ihm entgangen ist. Dieser brüske, durch nichts provozierte Anfall hatte eine mehrmonatige Entfremdung zur Folge. Mag sein, daß er Reue empfand, er klagte, daß man seine schlechten Witze gleich so übel aufnehme, er habe es nicht so bös gemeint – und es erfolgte bei Brüll eine Aussöhnung. Sein Verkehr mit mir war überhaupt wechselvoll; heute herzlich warm, intim, morgen kalt, zurückhaltend, spröde.


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In einem der Philharmonischen Konzerte wurde meine neue zweite Symphonie erstmalig aufgeführt. Zwei Tage später aßen wir gemeinsam mit Dr. Mandyczewski im »Roten Igel« (im Zimmer, das Beethoven gern besuchte). Brahms nahm das »Fremdenblatt«, das gerade in der Nähe lag, las und wurde feuerrot, – ich wußte, er ist zornig. Es war eine Kritik Speidels, der mich jahrelang in der heftigsten Weise heruntermachte und nun die neue Symphonie lobte. »Das ist doch erbärmlich,« sagte Brahms, bebend vor Zorn, »lesen Sie, was der heute über Sie schreibt.« (Ich hatte es schon gelesen.) »Übrigens weiß ich, daß er das nur tut, um andere zu ärgern.« Ich sah ihm[87] lächelnd in die Augen und sagte: »Was ihm aber offenbar – nicht gelungen ist.« Er lachte etwas beschämt in seinen Bart. Er konnte überhaupt schwer eine boshafte Bemerkung unterdrücken, wenn sie ihm auch nachher manche Unannehmlichkeit bereitete, so die lang dauernde Feindschaft Speidels. Eines Tages waren wir beide bei dem Hofopernsänger Gustav Walter zu Gaste, dessen Tochter mit großer Stimme sich für die Bühne ausbildete. Es wurde toastiert und da sagte ich dem Mädchen in der Weinlaune scherzend: »Ich hoffe Sie noch als Königin von Saba zu begrüßen!« Darauf Brahms: »Na, Sie glauben wohl auch, daß Sie ewig leben.« Ich antwortete: »Das glaube ich von meiner Oper ebensowenig wie von mir selbst; aber eines glaube ich gewiß: Ihnen lebt sie schon zu lange.« Ein anderes Mal waren wir zu Mittag gemeinsam mit Hanslick bei Viktor Miller von Aichholz. In dieser Altwiener Patrizierfamilie von einfachen, aber liebenswürdig-vornehmen Formen, der Musik leidenschaftlich ergeben, der Hausherr doctor philosophiae, selbst tüchtiger Pianist, die schöne, liebenswürdige Hausfrau die Güte selbst: hier fanden wir uns oft zusammen. Dieses Mittagessen war in Gmunden und zu Ehren Hanslicks 70. Geburtstag. Es wurden Reden gehalten und auch ich nahm zu einem Toaste das Wort. Nachdem ich von seinen Vorzügen, seinem geistreichen Stil gesprochen und wie viele er berühmt gentacht, sagte ich: »Die größte Freude hat er jedoch immer jenen bereitet, die sich da freuen – wenn der andere verrissen wird.« Allgemeines Auflachen und ebenso schnelles Verstummen, denn Brahms zu meiner Rechten schien getroffen, was ich nicht wollte und was er auch nicht verdiente. Nach mir sprach Brahms. Mit Tränen in den Augen dankte er Hanslick für die ihm jahrelang bewiesene treue Freundschaft.


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[88]

Im Laufe von dreißig Jahren haben sich solche Plänkeleien und Bosheiten des öfteren begeben und ich könnte noch manches, den Charakter Beleuchtende berichten. Aber ich halte es eines so hervorragenden Mannes für unwürdig, ihn, den Großen, mit Kleinlichkeiten verkleinern zu wollen. Trotz mancher Aus- und Anfälle war er mir – soweit nicht Aufführungen in Betracht kamen – doch tief innerlich zugetan, ja, er hatte eine stille, fast geheime Zärtlichkeit für mich und zeigte sie mir (wenn norddeutsche Freunde nicht dabei waren, denn da war er mehr als zugeknöpft) und suchte mich, wann und wo er konnte.

Er sagte einmal zu Ignaz Brüll: »Ich liebe Goldmarks Musik nicht, aber ich schätze ihn und Sie um Ihrer Tüchtigkeit willen.« Und das war ehrlich, offen und begreiflich – waren wir doch in Temperament und Richtung verschieden wie Nord und Süd. –

Wir machten im Winter Ausflüge über Berg und Tal, über Eis und Schnee. Es waren herrliche, genußvolle Wanderungen. Des Abends trafen wir uns lange Zeit im sogenannten Keller des Grand Hotel, später im »Roten Igel«, aber da blieben wir selten lange. (In noch späteren Jahren hat der »Brahmstisch« daselbst sich vergrößert.) Wir gingen meist allein ins Café vis-à-vis der Oper, wo wir bis zwölf Uhr nachts lesend, plaudernd sitzen blieben. Da war er zumeist aufgeknöpft und mitteilsam. Und da sprachen wir einmal von der Symphonie »Ländliche Hochzeit«. »Das ist Ihr Bestes,« sagte er, »rein, fleckenlos, plötzlich wie Minerva aus dem Haupt Jupiters entsprungen.« (Das Stück war unmittelbar nach der »Königin von Saba« geschrieben, die er nicht mochte.) Er war ungehalten, daß einige, zuerst in Hamburg, das Stück eine Suite nannten, weil der erste Satz nicht in üblicher »Symphonieform«, sondern in Variationen geschrieben ist. Beethoven, meinte er, habe viele Symphoniensätze in Variationenform geschrieben. Auf den symphonischen[89] Charakter, auf die symphonische Arbeit komme alles an. (Auch zu Otto Dessoff äußerte er sich über das Stück in gleicher Weise.) Über »Merlin« äußerte er sich ebenfalls günstig. Er hatte den eben erschienenen Klavierauszug früher in Händen als ich und schrieb darüber sogleich einen sehr warmen Brief an Hanslick, den er in wichtigen Fällen, wie ich glaube, immer informierte, und dieser hat mir den Brief nach dem Tode Brahms als eine Art Vermächtnis eingesandt. Gleichzeitig schrieb auch Billroth einen enthusiastischen Brief über »Merlin« an mich, wie ich glaube, ebenfalls auf Brahmssche Anregung. Unglücklicherweise verbrannte ich den Brief mit weniger interessanten. Auch einige meiner Lieder gefielen ihm (Brahms). Das ist aber auch alles, so weit mir bekannt ist oder er sich geäußert hat.


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Seine Schätzung meines Urteils auch über ihn möge folgendes, auch heitere, Erlebnis bezeugen. Eines Tages, 20. August 1882, kam Brahms von Ischl herüber nach Gmunden, mich zu besuchen (v. Millers wohnten damals noch nicht in Gmunden), und blieb mein Gast den ganzen Tag. Der ungewöhnliche Besuch war auffallend. Anderen Tags kam die Aufklärung. Ich erhielt von einem Dr. Wagner aus Altaussee die Einladung, dahinzukommen, es werden zwei neue Werke: Klavier-Trio (op. 87) und Quintett für zwei Bratschen (op. 88, F-Dur), von Brahms in diesem Sommer geschrieben, zum ersten Male dort aufgeführt werden. Ich kam. Es war große Zuhörerschaft geladen. Die Stücke wurden gespielt und gefielen natürlich auch sehr. Ich wußte, wie Brahms auch zustimmende Urteile Unberufener oft brüsk ablehnte, er war immer umgeben, zu einer ruhigen Aussprache kam es nicht – und ich schwieg. Wir waren beide Gäste des[90] Hauses. Anderen Morgens forderte Brahms mich auf, mit nach Grundlsee zu gehen, vielleicht dort die ihm befreundete Familie des Dr. Ch. zu besuchen. Wir wanderten über einen herrlichen Bergsattel durch schattigen Wald. Auf dem Wege dahin fragte ich ihn, welches der beiden Werke zuerst entstanden sei. Brahms, unwillig, fast abweisend, brummte so vor sich hin: »Ach ja – so – ich – ich weiß nicht.« Ich wußte aber, woher der Wind blies; ablehnend gegen Unberufene, wollte er doch mein Urteil. Dies der Zweck seines Besuches bei mir. Mein Schweigen verdroß ihn – und mit Recht. Zeige ich einem verständigen Freunde eine neue Arbeit, so erwarte ich, wenn auch lein abschließendes Urteil nach einmaligem Hören, so doch den Eindruck wahrzunehmen, worauf gar sehr viel ankommt. Sagt er mir: dies und das ist schlecht, aber im ganzen ist es gut, so ist das Zustimmung. Sagt er aber: dies und das ist gut, aber im ganzen ist es mäßig, so ist das Ablehnung, in beiden Fällen weiß man, woran man ist. Aber Schweigen ist das Schlimmste, man nimmt dann an, es habe ihm mißfallen, aber man weiß nicht, bis zu welchem Grade es ihm mißfallen habe, in Teilen oder im ganzen. Es liegt in diesem Schweigen ein hoher Grad von Geringschätzung, vielleicht Verachtung, und das verbittert. Ich nahm mir vor, meinen Fehler gutzumachen.

Wir kamen zur Villa der genannten Familie, alle Türen in der schönen Morgensonne standen offen, kein Mensch zu sehen. Wir treten direkt ins Musikzimmer, das Klavier ist offen, auf dem Pulte liegt das erste Heft der »Schule der Geläufigkeit« von Czerny. Brahms setzt sich aus Klavier, spielt die erste Skalenetüde voll Fehler, falscher Noten, stolpernd, stockend, diese Note dreimal anschlagend, im nächsten Takte steckenbleibend. Da ruft eine Stimme (Mama) aus dem Nebenzimmer: »Aber Franzi, was machst du denn? Langsamer!« Brahms spielt schneller und[91] hudelt und schmiert noch ärger. »Aber Franzi, du hudelst ja entsetzlich! Warum denn fis? F, f! Langsamer!« Brahms treibt's immer fürchterlicher. »Nein, das ist nicht auszuhalten, du hast es schon so gut gespielt – das ist Mutwille!« Die Türe wird aufgerissen und wütend stürzt Mama herein. Tableau! – Allgemeines Gelächter. – Auf dem Rückwege – wir gingen nach Markt Aussee – fand ich Gelegenheit, über seine beiden neuen Werke zu sprechen und ihm meine Bewunderung darüber zu äußern. Er wurde warm und sehr aufgeräumt. Wir aßen im »Hackel« und waren fröhlich. Ich ging heim, er begleitete mich zur Bahn und blieb noch einige Zeit in Aussee.


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Noch möchte ich einen Zug seines so vornehmen Wesens und seiner – auf dem Grunde des Herzens ruhenden Wertschätzung für mich hier anführen.

Ich erwähnte schon oben, daß Ende der Fünfzigerjahre die Gesellschaft der Musikfreunde eine Preiskonkurrenz für die beste Symphonie ausgeschrieben hatte und daß der Preis darin bestand – auch ein Zeichen der Zeitwandlung – daß die Symphonie auch aufgeführt wurde. Auch mir schien es des Schweißes des Edlen wert und auch ich reichte eine noch in Pest geschriebene Symphonie in vorgeschriebener, anonymer Weise ein. Da meine Symphonie nicht der Aufführung wert befunden wurde, kümmerte ich mich nicht weiter darum. Mein Manuskript blieb im Archiv und da es mein einziges Exemplar war, vergaß ich es im Laufe der Jahre gänzlich. Dreißig Jahre später saß ich einst mit Brahms und Dr. Mandyczewski, dem Bibliothekar der Gesellschaft der Musikfreunde, im »Roten Igel« beim Essen. Es kam die Rede auf das Archiv der Gesellschaft. Da erinnerte ich[92] mich meiner Symphonie, erzählte ihre Geschichte mit dem Schluß, daß diese noch im Archiv liegen müsse, wenn sie nicht bei der Übersiedlung ins neue Haus als Makulatur ausgeschieden wurde. Nach drei bis vier Wochen erhalte ich einen Brief von Ignaz Brüll des Inhaltes: »Brahms läßt Dir sagen, er habe Deine Symphonie im Archiv gefunden – das Scherzo sei zu gebrauchen.« Ich war von diesem Zuge edler Gesinnung wahrhaft gerührt und habe ihm vieles verziehen. Ich ließ mir das Manuskript kommen und habe das Scherzo umgearbeitet (bei Peters) herausgegeben.


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Brahms hatte mit der Zeit festen Fuß gefaßt, ja widerspruchslose Begeisterung gefunden. Symphonien, Kammermusik, Chorwerke, Lieder, alles wurde mit Enthusiasmus aufgenommen. War er in der ersten Zeit borstig und kratzig gegen jedermann, so wurde er allmählich von der warmen Sonne der so wohlverdienten und lange vorenthaltenen Anerkennung nun auch im Herzen warm, zugänglich und im Urteil milder.

Er saß in der Generalprobe meines »Heimchen am Herd«. Da machte eine Nachbarin bei den gewissen, so vielfach angegriffenen zwei Takten von den »zwei Sternlein« die Bemerkung: »Das ist ja ein Volkslied!« Hierauf sagte Brahms die schönen Worte: »Das nicht so ganz, aber es könnte eines werden.« –

Da mit einem Male überfiel ihn, den scheinbar für hundert Jahre gebauten festen Körper – ein richtiger Städinger, die tückische Krankheit, die ihn rasch aufzehrte. Noch einmal sollte er eine hohe Freude, die Gewähr seines Elachruhms, seiner Dauer erleben.

Die Philharmoniker spielten seine E-Moll-Symphonie.[93]

Er saß in der Direktionsloge des Großen Musikvereinssaals. Das Publikum brachte ihm eine begeisterte Ovation. Er erhob sich und dankte. Das bereits vom Tode gezeichnete, schwarze Gesicht war erschütternd. – Wenige Wochen vor seinem Ende sah ich ihn noch zweimal. Er nahm noch Einladungen an – er wollte offenbar der Einsamkeit entfliehen, unter Menschen seinen Zustand vergessen. So traf ich ihn mittags bei (Onkel) Brüll, wo er nach dem Essen mit der Zigarre im Munde einschlief. Beim Erwachen konnte er ohne Hilfe sich nicht mehr erheben. Einige Tage später bei Professor Jul. Epstein – vier Treppen hoch. Er zog sich nach dem Mittagessen bald zurück. Ich wollte ihn nicht allein lassen und ging mit ihm. Sein Gang war nur mehr ein Kriechen. Ich machte den Vorschlag, mit mir im Wagen im Prater ein wenig frische Luft zu schöpfen, er lehnte ab; ich wollte ihn im Wagen in seine Wohnung bringen, er lehnte auch dies ab; aber ich ließ nicht locker – erst bei der dringenden Versicherung, daß ich unter allen Umständen an seiner Wohnung vorbeifahre, nahm er an.

Ich sollte ihn nie mehr sehen.

Wenige Tage vor seinem Ende ging ich noch zu ihm. Frau Truxa, seine treue Wirtin, sagte mir, er empfange niemand mehr. Ich bat, nur eine Anfrage um sein Befinden zu melden. Sie kam zurück und fast gerührt sagte sie mir, wie sehr er (der schon Teilnahmslose) sich gefreut habe, daß ich noch da war. »Er grüßt Sie!« – Es war mir sein letzter Gruß. – Tränenden Auges verließ ich das Haus.


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Über die künstlerische Bedeutung Brahms' habe ich mich andern Orts geäußert. Hier wollte ich nur über den Menschen[94] und seinen über dreißig Jahre sich erstreckenden Verkehr mit mir im Zusammenhange berichten. Es führte mich weit ab vom Ausgangspunkte, zu dem ich nun zurückkehre.

Es war im Winter 1863, als ich meine Schülerin Karoline Bettelheim, die mittlerweile eine gefeierte Sängerin an der Wiener Hofoper wurde, nach Leipzig, damals die musikalische Metropole Deutschlands, begleitete. Sie sang im Gewandhaus und zwei Tage später spielte sie mit mir und Ferdinand David Mendelssohns C-Moll-Trio; sie hatte in beiden großen Erfolg. Ich gab David mein Streichquintett, von Hellmesberger in Wien erfolgreich aufgeführt – er lehnte ab. Man verlange in Leipzig keine Novitäten; er habe mit Brahms, den er (schandenhalber) habe aufführen müssen, unangenehme Erfahrungen gemacht – (mit dem B-Dur-Sextett!).

Einen Erfolg hatte meine Reise doch; Kistner nahm mein B-Dur-Trio und die Klavierstücke »Sturm und Drang« in Verlag. Diese letzteren hatte ich schon vor her Tobias Haslinger in Wien angeboten. Er suchte drei der leichtesten aus, sie erschienen ohne Opuszahl; – es war mein erster Druck, – 20 fl. mein erstes Komponistenhonorar. Nun versuchte ich mich wieder im Orchester; mit dem E-Moll-Scherzo machte ich mein erstes Debüt in den Philharmonischen Konzerten.

Es folgte meine erste Violin-Klavier-Suite op. 11. Von Hellmesberger und Karoline Bettelheim erfolgreich gespielt, schickte ich sie an Rieder-Biedermann, Breitkopf und andere; ich erhielt sie prompt zurück. Bei einer späteren Aufführung hörte Kapellmeister Esser (an der Hofoper) das Stück – noch aus dem Manuskript. »Ist denn das Stück noch nicht gedruckt?« fragte er mich. Ich verneinte. »Schicken Sie es doch an B. Schott in Mainz, ich schreibe ihm darüber.« Er war intim befreundet mit Schott und hielt Wort. Ich schickte das Manuskript mit[95] einer Honorarforderung von – 100 fl. an B. Schott. Trotz dieser Empfehlung eines hervorragenden Musikers, eines verläßlichen Freundes, trotz wiederholter erfolgreicher Aufführungen und des bescheidenen Honorars fand es Schott notwendig, noch das Urteil Franz Lachners und der Frau Klara Schumann einzuholen. Schott druckte es endlich, es ging mit meinem Namen in weitere musikalische Kreise und mir verschaffte es ein vornehmes Verlagshaus.

Das Stück war bekannt und gespielt, bevor es gedruckt war. Eines Tages war ich zu Besuch bei Ignaz Brüll in Baden bei Wien (Sommeraufenthalt), als Professor Anton Door eintrat und mir ein versiegeltes Paket hinlegte. »Was ist das?« fragte ich. Er: »Ich habe mit Ferdinand Laub (berühmier Geiger) deine Suite der in Karlsbad weilenden russischen Großfürstin Helene vorgespielt. Ich habe mir erlaubt, in deinem Namen ihr die Widmung anzutragen – und dieses Paket wurde mir für dich übergeben.« Es war ein ansehnlicher Geldbetrag. Ich war etwas erstaunt über das selbstherrliche Gebaren meines alten, lieben Freundes Door, denn ich habe außer einigen Künstlern nie jemandem etwas gewidmet und von der Großfürstin hatte ich bis dahin keine Ahnung, aber ich gestehe, daß der Geldbetrag in meiner damaligen äußerst prekären Lage mir sehr willkommen war.


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Bei einem zufälligen Blick in meine Bücherei sah ich Machs Ge schenk: »Sakuntala.« Ich nahm und las es wieder und sofort entstand die Idee einer musikalischen Nachdichtung. Schon früh hatte ich »Tausendundeine Nacht« gelesen und der Zauber dieses herrlichen Buches hielt mich und meine Phantasie lange im Banne – ein Eindruck, der mich später wohl auch zur »Königin von Saba« führte.[96]

Nachdem die Ouvertüre zu Sakuntala skizziert war, ging ich Sommer 1865 nach München, die Kunstschätze dieser Stadt kennen zu lernen und tat dies auch reichlich.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 84-97.
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