Die Selbsterziehung zur Vornehmheit.

[18] »Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit.«

Wir haben nicht die Pflicht vollkommen zu sein, aber die, es zu werden. In dieser Entwicklung ist uns nichts so gefährlich und hinderlich als ein Begnügen mit dem Scheine. Nichts widerspricht dem Wesen wahrer Vornehmheit mehr als äußeres vornehmes »Getue«.

Wahre Vornehmheit ist eine tief innerliche Eigenschaft, eine seelische Verfassung, die unsere äußeren Handlungen bedingt und beeinflußt.

Der vornehme Mensch tut alles auf eigene Verantwortung und nimmt alle Konsequenzen seiner Handlungen auf sich. – Er ist innerlich frei und unabhängig, insofern er nicht um die Anerkennung der Allgemeinheit zu buhlen braucht, um Wertgefühle zu verspüren. Dadurch ist auch eine gewisse Distanz anderen Menschen gegenüber bedingt. Er läßt sich nie zu nahe kommen; er hat die »Kraft zur Einsamkeit«.

Das ist kein hochmütiges äußeres Abschließen von der Gesellschaft der Anderen und kein dünkelhaftes Betonen dieses Abstandes, sondern das ist ein Auf der Höhe-stehen durch Güte, Kraft und das Bewußtsein des eigenen Wertes. Man gewinnt es nur durch sorgsame Bildung des Geistes und Veredlung des Gemütes.[19]

Die wahre Vornehmheit schließt alle Tugenden und guten Fähigkeiten in sich. Sie ist die große Kraftquelle, aus der unsere Lebensäußerungen mit Harmonie und Schönheit gespeist werden.

Takt und Schliff und Würde sind nur echt und wertvoll, wenn sie Ausflüsse und Ausstrahlungen unserer inneren Vornehmheit sind. Sonst sind sie leere Aeußerlichkeiten, die wir mühsam zu erlernen suchten und doch nie richtig anwenden.

Vornehmheit ist allerdings eine angeborne Wesensartung; aber erst durch Pflege kommt sie zu schöner Blüte, wie sie durch Nichtpflege verkümmert. Erziehung und Umgang mit edlen Menschen tun natürlich sehr viel. Wer diese mächtigen Hilfen entbehren muß, ist auf Selbsterziehung angewiesen.

Dazu gehört Strenge gegen sich selbst. Man darf sich niemals gehen lassen, auch nicht, wenn man ganz allein ist. Man halte seine Mienen und Gebärden so im Zaum, als ob man ständig beobachtet würde. Wie viel Unschönes und allzu Menschliches würde uns in unserem Benehmen auffallen, wenn wir alles vom Standpunkt des Zuschauers betrachten wollten! Wer sich, wenn er allein oder im intimsten Familienkreise ist, flegelhaft und zügellos benimmt, wird in Gesellschaft nicht jene ruhige selbstverständliche Vornehmheit aufbringen können, die eben ein Teil seines Wesens sein müßte und nicht die angenommene Maske für wenige Stunden. Man wird bei solcher Talmi-Vornehmheit instinktiv das wahre Wesen des Betreffenden herausahnen – er wird eine Atmosphäre um sich verbreiten, die auf feinbesaitete Naturen unangenehm und abstoßend wirkt. –[20]

Man beherrsche seine Sprache und vermeide auch im alltäglichen Umgang breiten unschönen Dialekt, wie man sich auch keine burschikosen Sprüche und Ausdrücke angewöhnen soll.

Daß gute Kleidung ein gesellschaftliches Machtmittel ist, wissen alle Menschen und handeln auch danach. Aber wenn sie mit sich allein sind, vernachlässigen sie sich in dieser Richtung. Zu Hause finden sie es nicht der Mühe wert, sich mit Sorgfalt und Geschmack zu kleiden und geraten in die größte Verlegenheit, wenn sie von einem Besuche überrascht werden.

Und doch ist unser Aeußeres von suggestivem Einfluß auf unsere innere Verfassung. Wir sind in besserer, in gehobener Stimmung, wenn wir tadellos angezogen sind, als wenn wir uns gehen lassen. Liegt nicht eine große Mißachtung gegen uns selbst in dieser Vernachlässigung unseres Aeußeren? Ist uns die Gesellschaft mit uns allein keine der Rücksichten wert, die wir im Verkehr mit anderen zu beobachten gewöhnt sind?

Das sind wohl alles kleine äußere Dinge, die aber ihren erzieherischen Wert nicht verfehlen.

Sich gehen lassen, sich vernachlässigen ist ein Wuchernlassen des Unkrautes in und um uns. Vielen Menschen ist es zwar gleichbedeutend mit Zwanglosigkeit und Behaglichkeit. Wer aber Schönheit in Bewegung, Ausdruck und Sprache als Zwang und Unbehagen empfindet, der beweist nur, daß er unter dem Banne von Zügellosigkeit, schlechten Manieren und üblen Angewohnheiten steht, also viel mehr unfrei und gebunden ist als ein korrekter vornehmer Mensch.[21] Nur wer sich selbst in der Gewalt hat und nicht der Sklave innerer und äußerer Kraft- und Disziplinlosigkeit ist, ist wahrhaft frei – und vornehm.

Nur wer auch gegen sich selbst jederzeit Haltung bewahrt, alles so tut und verrichtet, daß er keinen unsichtbaren Zuschauer zu fürchten hätte, erzieht sich zu wahrer Vornehmheit.

Diese äußere Reinlichkeit in unserem Benehmen ist ein guter Boden für den Fortschritt unserer inneren Veredlung, die uns eine unerschöpfliche Quelle reinsten Genusses eröffnet. Man kritisiere einmal seine Handlungen und Gesinnungen mit jenem geschärften Gewissen, das unseren Mitmenschen gegenüber so selten versagt! Was uns dann kleinlich und niedrig erscheint, sollen wir ausmerzen.

Für vornehme Menschen gibt es keine kleinlichen Vorteile auf Kosten anderer, keine knauserigen Trinkgelder und unpassenden sparsamen Geschenke. Sie respektieren die schriftlichen Dokumente ihrer Mitmenschen und lesen nicht Briefe, die sie nichts angehen. Sie sind verschwiegen und haben keine Freude an Klatsch. Sie bemeistern ihre Neugier und kennen weder Horchposten noch Gucklöcher ...

Das sind alles Kleinigkeiten, Aeußerlichkeiten, in denen wir uns vornehm erweisen sollen. Aber das tägliche Leben setzt sich aus derartigen Kleinigkeiten zusammen. Wir haben nicht oft Gelegenheit, Großtaten der Vornehmheit zu vollbringen – zu denen uns übrigens die Disposition fehlen dürfte, solange wir den kleinen Ansprüchen des Alltags nicht genügen.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 18-22.
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