Ueber gesellschaftliches Anpassungsvermögen.

[22] Schliff und Takt sind wesentliche Grundlagen jener Fähigkeit, die wir als gesellschaftliches Anpassungsvermögen zusammenfassen. Es besteht darin, auf die Interessen und Stimmungen der anderen einzugehen und ihnen Gelegenheit zu geben ihre Vorzüge zu zeigen. Man war in der Unterhaltung liebenswürdig, wenn der andere das Gefühl hat, liebenswürdig gewesen zu sein. Darin liegt das Geheimnis, ein beliebter und allseits begehrter Gast in der Gesellschaft zu werden.

Anpassungsfähigkeit gründet sich auf große Selbstbeherrschung und Sicherheit seiner selbst, innere und äußere Ruhe und verlangt natürlich auch eine gewisse geistige und seelische Beweglichkeit und Anschmiegsamkeit. Enthusiasmus paßt ebenso wenig wie kühle Gleichgültigkeit.

Man darf jedoch diese Beweglichkeit nicht mit innerer Haltlosigkeit und einem Mangel an selbständiger Meinung identifizieren. Im Gegenteil: man kann in allen Dingen seine eigene feste Anschauung haben, aber es ist keine gesellschaftliche Notwendigkeit sie auch immer und allen Menschen gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Dennoch soll sie wie ein[23] unsichtbares Rückgrat hinter unseren Aeußerungen stehen. Taktvolle Klugheit soll uns einesteils vor plumpen Schmeicheleien, andrerseits vor groben Aufrichtigkeiten bewahren.

Manche Menschen haben die glückliche Anlage, fast instinktmäßig die Interessen der anderen herauszufühlen, daran anzuknüpfen und auf diese Weise ein lebhaft beschwingtes Gespräch in Fluß zu bringen, indes andere sich vergeblich abmühen, ein passendes Thema zu finden. Es gelingt dies auch nicht ohne eine Dosis Menschenkenntnis. Irgend eine Neigung, eine schwache Seite hat jeder Mensch, an der er im Gespräch gefaßt und fortgerissen werden kann. –

Vielseitige Bildung ist natürlich eine wesentliche Unterstützung bei der gesellschaftlichen Anpassung – wer viel weiß, wird eben für viele etwas wissen. Auch äußerliche Gewandtheit tut viel: wer alle Gesellschaftsspiele und Sporte kennt, hat viele Anknüpfungsmöglichkeiten.

Anpassungsvermögen schließt auch eine gewisse Selbstverleugnung und Opferfähigkeit in sich, ohne in Unterwürfigkeit und Liebedienerei auszuarten. Man lasse im Salon Antipathien und Sympathien nicht sichtbar in Erscheinung treten, man höre auch einem langweiligen Gespräch zu, ohne zu gähnen oder seine Interesselosigkeit auf irgend eine Art zu verraten. Ein Kavalier kommt auch manchmal in die Lage, einer Dame die Hand küssen zu müssen, über deren Qualitäten er seine begründeten Ansichten hat Aber für die Dauer ihres Aufenthaltes in Gesellschaft sind alle Mitglieder mit wesentlich gleichen Rechte ausgestattet.[24]

Ein Gesellschaftsmensch besitzt die Fähigkeit, die herrschenden Sitten und Gesetze seiner Zeit nicht durch störende Individualitätsäußerungen zu verletzen, sondern sich der Meinung aller zu fügen und sich der Gesamtheit einzuordnen, von deren Bestand er seinen Nutzen hat. Der wahre Gesellschaftsmensch steht gleichsam über seinem Ich und seinen Schwächen und wirkt daher in seinen Aeußerungen selbstverständlich und ungezwungen, niemals langweilig und niemals auffällig und pathetisch – ähnlich wie der tadellos gekleidete Mensch, bei dem man eigentlich auch nicht genau sagen kann, worin die wohltuende Harmonie seines Anzuges besteht. – Beide Gebiete vertragen keine Exzentrizitäten, sondern verlangen Einordnung in das Ganze.

Ob es sich verlohnt, den Ehrgeiz zu haben, ein guter Gesellschaftsmensch zu sein oder zu werden?

Die Gesellschaft ist eine Macht, die uns heben und vernichten kann. Für Außensteher, die aus sozialen oder ideellen Gründen unabhängig von der sogenannten Gesellschaft leben, sind ihre Gesetze nicht geschrieben.

Aber der gesellschaftliche Drang wurzelt tief in der menschlichen Natur. Schon bei Schulkindern hat man Gelegenheit zu beobachten, daß sie bei der Auswahl ihres Verkehrs gewisse Rücksichten nehmen und Interessen verfolgen. Gleich und gleich gesellt sich gern.

Die große Bedeutung des gesellschaftlichen Lebens für unser persönliches und berufliches Leben ist ein Kapitel für sich. Jeder weiß, daß gesellschaftliches geben nicht nur einem rein natürlichen Bedürfnis des Menschen entspricht, sondern auch materiellen[25] Nutzen mit sich bringt. Was gesellschaftliche Beziehungen, was Eingeführtsein und Beliebtsein in manchen Kreisen z.B. für die Existenz eines Künstlers, für die Laufbahn eines jungen Beamten bedeuten kann, ist durch unzählige Fälle erwiesen. Es ebnet zuweilen die Wege viel mehr als ein gutes Abgangszeugnis.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 22-26.
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