[33] Es gibt Eindrücke, die man in frühester Jugend empfängt, um sie ein ganzes Leben lang nicht zu vergessen. Ich denke da an einen Mann, der mir zeit seines langen Lebens Vorbild war. In seinem Haus verbrachte ich während des ersten Weltkrieges glückliche, unbeschwerte Kinderjahre. Er war weder hochgeboren noch sonderlich hochgestellt. Auch begütert hätte man ihn wohl nicht nennen können, wenngleich der kleine landwirtschaftliche Betrieb, den er als staatlicher Forstmann aus Gründen der Selbstversorgung unterhielt, ihn aller materiellen Sorgen enthob.

Das Forsthaus lag völlig einsam inmitten fruchtbarer Äcker, die von hohem Mischwald umgeben wurden. Zwölf Kilometer waren es bis zur nächsten kleinen Bahnstation, und von dort dauerte es nochmals gute zwei Stunden, ehe man eine Kleinstadt erreichte.

Man hätte meinen sollen, daß diese Einsamkeit Anlaß zur Abkehr von gesellschaftlichen Gepflogenheiten gewesen wäre. Nichts wäre menschlich verständlicher gewesen, als wenn sich der Lebensstil des Hauses und seiner Familie schon [33] aus Gründen ländlicher Zweckmäßigkeit auf eine möglichst einfache, unkonventionelle, formlose Art beschränkt hätte. Und doch war das Gegenteil der Fall. Nicht etwa im Sinne eines höfischen Zeremoniells oder einer wirklichkeitsfremden, kühlen Steifheit – dennoch aber in Form jener zeitlosen Korrektheit, die mich trotz meiner Jugend mehr beeindruckte, als es strenge, kategorische Hinweise gewöhnlich vermögen.

Er hat keines seiner vier Kinder je geschlagen, weil er den Standpunkt vertrat, wer eine Persönlichkeit sei, müsse gewisse Werte auch ohne Stock weitergeben können. Das gelang ihm bei Mensch und Tier in geradezu geheimnisvoller Weise. Auch seine Hunde liebten ihn abgöttisch. Nicht nur, weil er auch sie ohne Prügel zu erziehen verstand. Mehr wohl, weil sie instinktiv vorbildliche Herzensgüte spürten und alles daransetzten, ihrem Herrn jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Mir ging es, wenn ich ehrlich sein soll, nicht anders. Wann immer diese hellgrauen Augen über dem gepflegten Bart auf mir ruhten, ertappte ich mich bei der bangen Frage, ob ich wohl ein reines Gewissen hätte. Natürlich hatte ich selten eines. Und als ich einmal, vom tobenden Spiel mit den Hunden durstig geworden – ich kannte vor meiner Schulzeit keine menschlichen Spielgefährten –, an den Abendbrottisch hastete und gierig eine ganze Tasse Malzkaffee herunterstürzte, da sah mich der vergötterte alte Mann nur kurz an und sagte gar nicht laut: »Wie die Bella!« Und ich verstand. Denn Bella war meine Lieblingskuh. Ein zweites Mal ist eine solche Äußerung nicht mehr gefallen.

Damals habe ich den Spruch gelernt: »Benimm dich zu Hause, als seist du im feinsten Hause, dann bist du im feinsten Hause – zu Hause.«

Man möge diese persönliche Erinnerung verzeihen.

Dieser Mann, der auch noch als hoher Siebziger jeder Zwanzigjährigen seinen Sitzplatz mit der gleichen vollendeten Grandezza anbot, mit der er einen ihm von einem weiblichen Wesen frei gemachten Platz ablehnte – dieser Mann wäre gerade jetzt einhundert Jahre alt geworden.


Er war mein Großvater.

Quelle:
Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 33-35.
Lizenz:
Kategorien: