Mein Uebertritt zur Sozialdemokratie.

[3] Eigentlich bedarf es gar vieler Beweise für meinen Uebertritt nicht. Wer meine Vergangenheit etwas kennt, weiß, mein ganzes Leben ist Anlaß und Motiv dazu. Denn in meinem ganzen Leben hat der Arbeiter und sein Schicksal mir wie ein Mittelpunkt meines Denkens und Wollens vor Augen gestanden. Meine Jugend schon habe ich im Kreise kleiner und kleinster Leute verbracht. Fast alle meine Verwandten sind noch heute Arbeiter oder Handwerker. Als ich meine Universitätsstudien beendet hatte, ward ich Pfarrgehilfe in einem Lausitzer Weberdorfe; fast zwei Jahre lang war die elende Bevölkerung dieses Ortes Gegenstand meiner Beobachtung, meiner Arbeit, engen Zusammenlebens. Dann habe ich in Chemnitz drei Monate als Fabrikarbeiter gearbeitet: wiederum waren Arbeiter meine einzigen Lebensgenossen. Dann wurde ich drei Jahre lang Sekretär des Evangelisch-Sozialen Kongresses in Berlin; auch in diesem Amte war es mein heißes Bemühen, die Leiter und Mitglieder jenes Kongresses zu möglichst weitgehender Parteinahme für die große deutsche Arbeiterbewegung, und insbesondere für die Landarbeiter fortzureißen. Als ich darauf Pastor wurde, war es eine beinahe reine Arbeitergemeinde, die ich übernahm; wiederum drei Jahre lang habe ich in ihr und ausschließlich für sie gewirkt, gepredigt, gekämpft. Schließlich ging ich von ihr, nur, weil ich als Pastor nicht frei und ungehindert genug war, der Arbeiterbewegung so zu dienen, wie ich wollte. So gründeten wir, Pastor Naumann, ich und einige Andere, den nationalsozialen Verein; mit ihm hoffte ich endlich zu meinen Zielen zu kommen: auf eigenen Wegen den Kampf der aufsteigenden Arbeitermassen und nur ihn rücksichtslos und nachdrücklich zu fördern. Auch Das mißlang; die Nationalsozialen sind unter Naumann's Führung andere Wege gegangen; nicht die bedingungslose, wenn auch selbständige Unterstützung des kämpfenden Proletariats, sondern seine Erziehung zu sogenannter nationaler Gesinnung ist eines ihrer obersten Ziele geworden. Dadurch rückten sie weit ab von seiner Seite, stellten sich mindestens zwischen die zwei Lager der kapitalistischen und der proletarischen Volksschichten, thaten einen Schritt, den ich nimmermehr mitmachen konnte. So stand ich wieder allein; wollte ich mir selber, [3] meinem Lebensziel und meiner Vergangenheit treu bleiben, so blieb mir nur noch Eins, das Letzte, übrig, wogegen ich mich lange innerlich gesträubt: Sozialdemokrat zu werden. Diese Konsequenz mache ich nun öffentlich zur That, nachdem ich es für richtig gehalten habe, ein Jahr still zu sein. Heute stelle ich mich Ihnen als einen Ihrer jüngsten Parteigenossen vor.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 3-4.
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