Die wissenschaftlichen Waffen der Sozialdemokratie.

[6] Doch Das ist nur mein erstes Motiv. Ein zweites tritt dazu: Die Sozialdemokratie hat nicht nur dasselbe Ziel der Solidarität Aller, wie ein echter und aufgeklärter Christ, sie hat auch alle Eigenschaften, die nöthig und geeignet sind, dies Ziel endlich einmal zu erreichen.

Dazu gehört in allererster Linie ihre Wissenschaft. Sie giebt der Partei die eigenartigen, geistigen Waffen, mit denen sie immer wieder siegreich kämpft. Sie führt den Beweis der Wahrheit, der Nothwendigkeit, der Durchführbarkeit des Sozialismus. Die ganze bisherige Menschheitsgeschichte verwendet sie zu diesem Beweis. Und zwar, indem sie zum ersten Male die ganze Menschheitsgeschichte konsequent als eine einzige Geschichte von Klassenkämpfen versteht, die von Stufe zu Stufe die geknechteten Klassen von Fesseln befreiten, die privilegirten von Vorrechten entbanden und in immer rascherem Tempo die heutigen Verhältnisse vorbereiteten, aus denen die künftige, auf der Solidarität Aller ruhende Gesellschaft mit Nothwendigkeit erstehn muß. Damit schuf sie die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung. Mit einem Schlage ist nun das natürlichste und hellste Licht über die ganze bisherige Menschheitsgeschichte gegossen; nun erst erscheint diese in einem großen Zusammenhange, von einem großen Sinn und Zweck erfüllt: als die geschlossene, immer wachsende Vorbereitung auf die neue solidarische Gesellschaft, als ein einziger überwältigender Beweis ihrer Wahrheit und Nothwendigkeit. Und Niemand, der einfach und ohne Vorbehalte denkt, vermag sich dieser gewaltigen Argumentirung zu entziehen. Sie ist für alle Zeiten schlagend geworden. Hierin sehe ich die dauernde und praktische Größe der materialistischen Geschichtsauffassung, wobei es gar nicht in Betracht kommt, ob man sie eingeschränkt oder uneingeschränkt gelten lassen will. In beiden Fällen und Formen ist und bleibt sie die Apologie des kommenden Sozialismus aus der Gesammtheit der Geschichte und so eine der wuchtigsten Waffen des kämpfenden Sozialismus unserer Tage.

Andere, gleich furchtbare, holt sich die sozialistische Wissenschaft aus der Gegenwart, gewinnt sie durch die Kritik des Kapitals und Kapitalismus. Sie ist die erste und einzige, die das wahre Wesen Beider entschleiert und damit Beide zugleich tödtlich getroffen hat. Und zwar, indem sie die Lehre vom Mehrwerth und die Lehre von der Alles revolutionirenden Tendenz des Kapitalismus fand. Durch die Mehrwerththeorie zeigte sie, wo die Quelle der ungeheuren, immer und scheinbar immer unwiderstehlicher wachsenden Kraft des Kapitals zu suchen ist; aber zugleich zeigte sie diese Quelle auch als eine trübe Quelle der Ungerechtigkeit, die einzig und allein aus der Tiefe der Arbeit gespeist wird. Die Arbeit allein ist die Quelle alles Reichthums; ihr allein gebührt also der reine Arbeitsertrag. Mit dieser einen Lehre hat sie das Verhältniß von Kapital und Arbeit, von Unternehmerthum und Arbeiterklasse umgekehrt. Aus den kapitalistisch Herrschenden hat sie für alle Zeiten, die sie noch existiren werden, Angeklagte und Angegriffene gemacht, aus den Beherrschten Ankläger und Angreifer, die erfüllt sind von dem unerschütterlichen Bewußtsein der Gerechtigkeit ihres Angriffs, ihrer [7] Forderungen, ihrer sozialistischen Ideale, der Richtigkeit ihrer Taktik, der Sicherheit ihres endlichen Sieges, der Schwäche und Unhaltbarkeit der Position ihrer Gegner. Dabei verschlägt es absolut nichts, daß diese Mehrwerththeorie insofern unfruchtbar ist, als aus ihr sich kein neues, positives ökonomisches System, das kapitalistische ersetzende, vor Allem nicht das sozialistische Wirthschaftssystem entwickeln läßt. Für diese Entwickelung sorgt vielmehr ganz von selbst derselbe Kapitalismus, dessen Lebenskraft die Mehrwerththeorie für immer gebrochen hat. Und zwar kraft der unaufhörlich und Alles revolutionieren Tendenz, die die sozialistische Wissenschaft als seinen zweiten Hauptzug an ihm festgestellt. Danach ist es das weder mehr zu bestreitende, noch auch aufzuhaltende Verhängniß des Kapitalismus, daß er trotz seiner ungeheuren Kräfte doch nicht im Stande ist, sich selbst, als Kapitalismus, in seinen verschiedensten Ausgestaltungen und Organisationen zu erhalten, zu befestigen, zu verewigen. Vielmehr, wie er in seinem Beginn alle überlieferten Produktions- und Gesellschaftsformen zersetzte und ihre Reste noch heute zersetzt, so zerstört er heute auch schon wieder die Organisationen der Produktion, die er selbst anfangs an Stelle jener ins Leben rief, um neue, gewaltigere als die ersten zu errichten. Und jede neue gewaltigere Organisationsform aus seinen Händen enthält immer mehr und immer lebenskräftigere Keime und Ansätze einer Produktion, auf die er weniger Einfluß hat. Kraft seiner revolutionären Tendenz mußte er einst Alles atomisiren, was ökonomisch organisirt war; kraft derselben revolutionären Tendenz muß er heute die nicht mehr atomisirbaren Atome konglomeriren, ja, die Konglomerate konglomeriren. Damit schlägt er in sein Gegentheil um: aus dem revolutionären Kapitalismus wird der stationäre Sozialismus geboren. Welch ein überwältigender Beweis für die Naturnothwendigkeit des Sozialismus, welche Quelle von Siegesgewißheit, von Erkenntniß des Wesens unserer gegenwärtigen Oekonomie, von sicherer Erfassung der Wege, die zum letzten Ziele zu gehen sind!

Und auch dies Endziel, welche Klarheit empfängt es durch diese oben charakterisirten neuen Erkenntnisse der sozialistischen Wissenschaft. Aus dem Nebel der Utopie, der Traumwelt des rein ethischen, religiösen, instinktiven Ideals der Solidarität Aller wird es herabgeholt auf den Boden der Wirklichkeit und in ein logisch notwendiges, fassbares ökonomisches Prinzip umgewandelt: an die Stelle der Konkurrenz tritt die Zusammenarbeit, an die Stelle der ökonomischen Anarchie die Ordnung und Planmäßigkeit in Produktion und Konsumtion, an die Stelle des privaten Besitzes an Produktionsmitteln das gemeinschaftliche Eigenthum, an die Stelle der Klassengesellschaft und Klassenherrschaft eine Gesellschaft sozial und politisch Gleichberechtigter und Gleichgestellter, die soziale Demokratie. Die Sozialisirung der Gesellschaft und die Demokratisierung des Staates ist das nunmehr verstandesmäßig definirte und systematisch erwiesene Endziel.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 6-8.
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