Aufgießen

[71] Aufgießen, ist diejenige Bearbeitung der Arzneimittel, wenn man eine oder mehrere einfache oder zusammengesetzte Substanzen mit einer Flüssigkeit übergießt, welche wirksame Theile aus erstern zu ziehen bestimmt ist. Ist die Ausziehung geschehen, so heißt die Flüssigkeit Aufguß oder Infusion.

Die Aufgüsse weichen sehr von einander ab, theils in Rücksicht der mancherlei zum Ausziehen bestimmten Flüssigkeiten, (einfache, destillirte Wässer, Branntwein, Weingeist, Wein, Essig, Oel u.s.w.) theils der dabei angewendeten Wärme (kalte, heiße Aufgüsse), theils in Absicht der Dauer des Aufgusses, (ein Aufguß von einigen Minuten oder Stunden, oder ein länger dauernder, den man dann mit dem Namen kalter oder warmer Digestion belegt,) theils in Rücksicht der auszuziehenden Substanz.

Man bereitet zwar größtentheils Aufgüsse von Gewächssubstanzen, Blumen, Blättern, Wurzeln, Rinden, Samen, doch auch aus thierischen Substanzen, dem Biebergeil, den Kanthariden. Die Ausziehung blos salzhafter Theile, z.B. die Auflösung des gebrannten Kalkes in Wasser zu Kalkwasser, wird nur uneigentlich ein Aufguß benennt.

So nimmt auch die Ausziehung der wirksamen, mehr harzigen Theile vegetabilischer Substanzen mittelst Branntwein oder Weingeist den Namen der Tinktur an.

Ueberhaupt aber beabsichtet der Aufguß, (welcher immer nur mit kalten, mit warmen, oder doch nur eben vom Kochen genommenen Flüssigkeiten geschieht,) die Ausziehung solcher Theile aus den arzneilichen Substanzen, welche sich entweder so leicht ausziehen lassen, daß keine Siedehitze dazu erforderlich ist, oder welche sich in siedendem Wasser zersetzen würden, (wie bei dem Absude der Krappwurzelrinde, der Chinarinde und mehrerer andern Pflanzensubstanzen der Fall ist,) oder welche bei der Kochhitze verfliegen, z.B. die geruchvollen oder gewürzhaften Theile vieler Gewächse, deren Wirksamkeit auf einem flüchtigen Salze oder einem feinen ätherischen Oele beruht,[71] und einiger andern im Artikel Absud angeführten, oder auch solcher, welche von angenehmern, milderm Geschmacke und schon in einer geringen Wärme auszuziehen sind, mit Zurücklassung der mehr harzigen, bittern, ekelhaft schmeckenden, blos in kochendem Wasser auflösbaren, gröbern Theile, wie mit dem Süßholzwurzelaufgusse und einigen andern der Fall ist.

Gewöhnlich thut man die zerschnittene oder gröblich gepülverte trockne Substanz mit der zum Ausziehn bestimmten Flüssigkeit in ein Gefäß, dessen Mündung mit einer Blase verbunden wird, schüttelt das Gemisch um, läßt es kurze Zeit stehen, gießt dann die Flüssigkeit durch ein Tuch, und drückt die gröbern Theile aus. Bei geruchvollen Droquen kann man zum Aufgusse eine mit einem guten Stöpsel zu verwahrende gläserne Flasche wählen.

Kurz vorher getrocknete Pflanzentheile geben im Aufgusse ihr Wirksames weit leichter von sich, als die noch grünen, frischen Pflanzen. Sehr eingetrocknete und lang aufbewahrte Gewächssubstanzen lassen sich schwerer als die frisch getrockneten ausziehen.

Der Aufguß härterer Gewächstheile mit Wasser, Weingeist, Wein u.s.w. blos in der Absicht ihre feste Textur zu erweichen und sie aufzuquellen, heißt Mazeration.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Apothekerlexikon. 1. Abt., 1. Teil, Leipzig 1793, S. 71-72.
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