Weißnießwurzel

[429] Weißnießwurzel, Veratrum album, L. [Zorn, pl. med. tab. 295] mit aufrechten Blumen und dreifach zusammengesetzten Blumentrauben; ein bis vier Fuß hohes Kraut mit mehrjähriger Wurzel auf trocknen Bergwiesen in Schlesien, Ungarn, Oesterreich, Tyrol, der Schweitz und andern nördlichern und südlichern Ländern, welches im July innerlich weiße, äusserlich grünliche Blumen trägt.

Die länglichte, etwa daumendicke, frisch äusserlich gilbliche, trocken aschgraue, innerlich graulichweiße mit den Resten der abgeschnittenen Zasern um und um besetzte Wurzel (Rad. Heliebori albi, s. Ellebori albi, Veratri) ist frisch von widrigem, trocken aber ohne Geruch und von fadem, aber eine besondre Trockenheit über der Zunge erzeugendem Geschmacke.

Die Alten setzten das größte Zutrauen auf sie in den schwierigsten chronischen Krankheiten; sie brauchten sie häufig, oder vielmehr sie misbrauchten sie in ungeheuern Gaben, die den Kenner schaudert, niederzuschreiben. Die Kuren damit, die sie Helleborismus nannten, kommen in der Beschreibung, die sie uns davon hinterließen, noch über die Torturgrade unsrer ehemahligen Justitz. Unser versteinertes Zeitalter aber wagte sich gar nicht an diese gefährliche, auch für den Robustesten in einer Gabe von 10 bis 20 Gran tödliche Wurzel, deren frischer Saft in eine kleine Wunde gebracht auch größere Thiere augenblicklich tödet. Sie tödet unter kaltem Schweiße, einer Art von Stumpfsinnigkeit, unbeschreiblicher Angst und unter einem wahren Ersticken. Wenn aber demungeachtet die unverantwortlich dreisten Alten oft Wunderkuren damit verrichteten in Krankheiten, die die zaghaften Neuern nicht zu heilen vermögen, so wird man verleitet zu schließen, daß beide des rechten Wegs verfehlten, daß die Wahrheit in der Mitte liege, und daß eine so kräftige Wurzel in tausendmahl kleinern Gaben, als die Alten nahmen, und in noch weit kleinern gebraucht, bei zuverlässiger Gefahrlosigkeit eins der schätzbarsten Heilmittel abgeben müsse; wie mich auch zur Gnüge die Erfahrung gelehrt hat.

Sie wird jetzt äusserst selten als Niesemittel in Pulver gebraucht; eine sehr unschickliche Anwendung, bei der oft zwar kein Niesen, aber eine Beraubung der Sinne erfolgt. Sonst ist sie sehr hülfreich im äussern Gebrauche bei einigen Hautausschlägen der Hausthiere. Man hat auch in neuern Zeiten einige Manien bei Menschen damit geheilt und die Wuth bei Hunden.

Im vorigen Jahrhunderte glaubte man in dem Pulver der Blumen des Weißmummels, im Genusse der Quitten und im Bibergeile ein Gegengift dieser Wurzel[429] gefunden zu haben, Neuere im Mohnsafte, der doch, wie ich fand, alle Zufälle verschlimmert.

Mit mehrerer Sicherheit kann man sich auf den Kamillmettram und den Kaffee verlassen.

Sie verdirbt sehr leicht; eine Art kleiner Milben verzehrt sie. Am besten hält sie sich, wenn man sie pülvert, und das Pulver nochmahls getrocknet in dicht verstopften Gläsern verwahrt. Schwacher Weingeist zieht ihre Kräfte vollständig aus. Mehr erlaubt mir dieß verketzerungssüchtige Zeitalter nicht hierüber zu eröfnen.

Ich weiß nicht, warum man der Weißnießwurzel die Schwarznießwurzel, Veratrum nigrum, L. [Jacquin, flor. austr. tab. 336] mit ausgebreiteten, dunkelpurpurrothen Blumenkronen und zusammengesetzten Blumentrauben unterzuschieben getrachtet hat, oder woher die Erfahrungsbeweise hergenommen wurden, daß leztere gleiche Kräfte als die erstere besitze. Wir haben Jahrhunderte über zu thun, um die Natur eines einziges Krautes genau zu erforschen, und nicht nöthig, uns diese mühsame schwierige Erforschung der Wahrheit durch Substituiren noch mehr zu verdunkeln. Es ist nur allzu gewiß, daß zwei verschiedne Pflanzen auch abweichende Arzneikräfte besitzen.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Apothekerlexikon. 2. Abt., 2. Teil, Leipzig 1799, S. 429-430.
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