Vorrede zur fünften Ausgabe.

Die alte Medicin (Allöopathie), um Etwas im Allgemeinen über dieselbe zu sagen, setzt bei Behandlung der Krankheiten theils (nie vorhandne) Blut-Uebermenge (plethora), theils Krankheits-Stoffe und Schärfen voraus, lässt daher das Lebens-Blut abzapfen und bemüht sich die eingebildete Krankheits-Materie theils auszufegen, theils anderswohin zu leiten (durch Brechmittel, Abführungen, Speichelfluß, Schweiss und Harn treibende Mittel, Ziehpflaster, Vereiterungs-Mittel, Fontanelle, u.s.w.), in dem Wahne die Krankheit dadurch schwächen und materiell austilgen zu wollen, vermehrt aber dadurch die Leiden des Kranken und entzieht so, wie auch durch ihre Schmerzmittel, dem Organism die zum Heilen unentbehrlichen Kräfte und Nahrungs-Säfte. Sie greift den Körper mit grossen, oft lange und schnell wiederholten Gaben starker Arznei an, deren langdauernde, nicht selten fürchterliche Wirkungen sie nicht[3] kennt, und die sie, wie es scheint, geflissentlich unerkennbar macht durch Zusammenmischung mehrer solcher ungekannter Substanzen in Eine Arzneiformel, und so bringt sie noch durch langwierigen Gebrauch derselben neue, zum Theil unaustilgbare Arznei-Krankheiten dem kranken Körper bei. Sie verfährt auch, wo sie nur kann, um sich bei dem Kranken beliebt zu erhalten1, mit Mitteln, welche die Krankheits-Beschwerden durch Gegensatz (contraria contrariis) sogleich auf kurze Zeit unterdrücken und bemänteln (Palliative), aber die Anlage zu diesen Beschwerden (die Krankheit selbst) verstärkt und verschlimmert hinterlassen. Sie hält die an den Aussentheilen des Körpers befindlichen Uebel, fälschlich für bloss örtlich, und da allein für sich bestehend, und wähnt, sie geheilt zu haben, wenn sie dieselben durch äussere Mittel wegtreibt, so dass das innere Uebel nun schlimmer an einer edlern und bedenklichern Stelle auszubrechen genöthigt wird.[4] Wenn sie nicht weiter weiss, was sie mit der nicht weichenden oder sich verschlimmernden Krankheit anfangen soll, unternimmt die alte Arzneischule wenigstens, dieselbe blindhin durch ein alterans zu verändern, z.B. mit dem das Leben unterminirenden Calomel, Aetzsublimat, und andern Quecksilber-Mitteln in grossen Gaben.

Die überwiegende Zahl (99/100) aller Krankheiten, die langwierigen (aus Unwissenheit) mittels fortwährenden Schwächens und Quälens des ohnehin schon an seiner Krankheits-Plage leidenden, schwachen Kranken und mittels Hinzufügung neuer, zerstörender Arznei-Krankheiten wenigstens unheilbar Machen, wo nicht zum Tode Befördern, diess scheint deutlich das unselige Hauptgeschäft der alten Medicin (der Allöopathie) zu seyn – ein, wenn man diess verderbliche Verfahren einmal am Griffe hat, und gegen die Mahnungen des Gewissens gehörig unempfindlich geworden ist, ein sehr leichtes Geschäft!

Und doch hat für alle diese schädlichen Operationen der gewöhnliche Arzt alter Schule seine Gründe vorzubringen, die aber nur auf Vorurtheilen seiner Bücher und Lehrer beruhen, und auf Autorität dieses oder jenes Arztes alter Schule von Ansehn. Auch die entgegengesetztesten[5] und widersinnigsten Verfahrungs-Arten finden da ihre Vertheidigung, ihre Autorität – der verderbliche Erfolg mag auch noch so sehr dagegen sprechen. Nur dem, von der Verderblichkeit seiner sogenannten Kunst, nach vieljährigen Uebelthaten, im Stillen endlich überzeugten, alten Arzte, der nur noch mit, zu Wegbreitwasser gemischtem Himbeer-Sirupe (d.i. mit Nichts) die schwersten Krankheiten behandelt, verderben und sterben noch die Wenigsten.

Diese Unheilkunst, welche seit einer grossen Reihe von Jahrhunderten im Besitze der Macht, über Leben und Tod der Kranken willkürlich und nach Gutdünken zu verfügen, wie eingemauert fest sitzt und seitdem einer, wohl zehn Mal grössern Zahl Menschen, als je die verderblichsten Kriege, das Lebensziel verkürzt, und viele Millionen Kranke kränker und elender gemacht hat, als sie ursprünglich waren – diese Allöopathie werde ich hienächst etwas näher beleuchten, ehe ich ihren geraden Gegensatz die neu gefundene, wahre Heilkunst umständlich lehre.

Mit dieser (der Homöopathik) ist es ganz anders. Sie kann jeden Nachdenkenden leicht überzeugen, dass die Krankheiten der Menschen[6] auf keinem Stoffe, keiner Schärfe, d.i. auf keiner Krankheits-Materie beruhen, sondern dass sie einzig geistartige (dynamische) Verstimmungen der geistartigen, den Körper des Menschen belebenden Kraft (der Lebenskraft) sind. Die Homöopathik weiss, dass Heilung nur durch Gegenwirkung der Lebenskraft gegen die eingenommene, richtige Arznei erfolgen kann, und um desto gewissere und schnellere Heilung, je kräftiger noch beim Kranken seine Lebenskraft vorwaltet. Die Homöopathik vermeidet daher selbst die mindeste Schwächung2, auch möglichst jede Schmerz-Erregung, weil auch Schmerz die Kräfte raubt, und daher bedient sie sich zum Heilen bloss solcher Arzneien, deren Wirkungen, das Befinden (dynamisch) zu verändern und umzustimmen, sie genau kennt und sucht dann eine[7] solche heraus, deren Befinden verändernden Kräfte (deren Arzneikrankheit) die vorliegende natürliche Krankheit durch Aehnlichkeit (similia similibus) aufzuheben im Stande ist, und giebt dieselbe einfach, aber in seltenen und feinen Gaben (so klein, dass sie, ohne Schmerz oder Schwächung zu verursachen, so eben zureichen, das natürliche Uebel mittels der reagirenden Energie der Lebenskraft aufzuheben) dem Kranken ein, mit dem Erfolge, dass ohne ihn im Mindesten zu schwächen oder zu peinigen und zu quälen, die natürliche Krankheit ausgelöscht wird und der Kranke schon während der Besserung von selbst bald erstarkt und so geheilt ist – ein zwar leicht scheinendes, doch sehr nachdenkliches, mühsames, schweres Geschäft, was aber die Kranken in kurzer Zeit, ohne Beschwerde und völlig zur Gesundheit herstellt – und so ein heilbringendes und beseligendes Geschäft wird.

Hienach ist die Homöopathik eine ganz einfache, sich stets in ihren Grundsätzen so wie in ihrem Verfahren gleich bleibende Heilkunst, welche, wie die Lehre, auf welcher sie beruht, wenn sie wohl begriffen worden, dergestalt in sich abgeschlossen (und nur so hülfreich) befunden wird, dass, so wie die[8] Lehre in ihrer Reinheit, so auch die Reinheit ihrer Ausübung sich von selbst versteht und daher jede Zurück-Verirrung3 in den verderblichen Schlendrian der alten Schule (deren Gegensatz sie ist, wie der Tag gegen die Nacht) gänzlich ausschliesst, oder aufhört, den ehrwürdigen Namen Homöopathik zu verdienen.

So weit sich verirrender, für Homöopathiker angesehn seyn wollender Aerzte Einflechten, ihnen geläufiger allöopathischer Unthaten in ihr angeblich homöopathisches Curverfahren beruht daher auf Unkenntniss der Lehre, Mühe-Scheu, Verachtung der hülfsbedürftigen Menschheit und lächerlichem Eigendünkel, und hat ausser unverzeihlicher Nachlässigkeit in Aufsuchung [9] des besten homöopathischen Specifikums für jeden Krankheits-Fall, oft noch niedrige Gewinnsucht und andre unedle Motive zu Triebfedern – und zum Erfolge? dass sie alle wichtige und schwierige Krankheiten (wie doch reine, sorgfältige Homöopathik kann) nicht heilen können und viele ihrer Kranken dahin schicken, woher niemand wiederkehrt, unter Tröstung der Angehörigen: dass doch nun Alles (auch alles Verderbliche Allöopathische!) an dem Verstorben gethan worden sey.


Köthen, den 28 März 1833.


Samuel Hahnemann.

Fußnoten

1 Zu gleicher Absicht erdichtet der gewandte Allöopath vor allen Dingen einen bestimmten, am liebsten griechischen Namen für das Uebel des Kranken, um diesen glauben zu machen, er kenne diese Krankheit schon lange, wie einen alten Bekannten, und sey daher am besten im Stande, sie zu heilen.


2 Homöopathik vergiesst keinen Tropfen Blut, giebt nicht zu brechen, purgiren, laxiren oder schwitzen, vertreibt kein äusseres Uebel durch äussere Mittel, ordnet keine warmen Bäder oder Arznei enthaltende Klystire, setzt keine spanischen Fliegen oder Senfpflaster, keine Haarseile, keine Fontanelle, erregt keinen Speichelfluss, brennt nicht mit Moxa oder Glüheisen bis auf die Knochen u. dgl., giebt aus ihrer Hand nur selbst bereitete, einfache Arznei, die sie genau kennt und keine Gemische, stillt nie Schmerz mit Opium, u.s.w.


3 Es thut mir daher leid, einsmals den nach Allöopathie schmeckenden Vorschlag gethan zu haben, in psorischen Krankheiten ein Jücken erregendes Harzpflaster auf den Rücken zu legen, und in Lähmungen die feinsten elektrischen Schläge zu Hülfe zu nehmen. Denn da sich beide nur selten dienlich erwiesen, und zudem den Mischlings-Homöopathen einen Vorwand zu ihren allöopathischen Versündigungen darboten, so thut es mir leid, diese Vorschläge je gethan zu haben, und ich nehme sie hier feierlich wieder zurück – auch desshalb, weil unsre homöopathische Heilkunst seitdem sich ihrer Vollkommenheit dergestalt genähert hat, dass wir sie nun gar nicht mehr nöthig haben.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. III3-X10.
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