§. [142] 70.

Nach dem bisher Vorgetragenen ist es nicht zu verkennen:

dass alles, was der Arzt wirklich Krankhaftes und zu Heilendes an Krankheiten finden kann, bloss in den Beschwerden des Kranken und den an ihm sinnlich wahrnehmbaren Veränderungen seines Befindens, mit einem Worte, bloss in der Gesammtheit der Symptome bestehe, durch welche die Krankheit die zu ihrer Hülfe geeignete Arznei fordert, hingegen jede ihr angedichtete innere Ursache, verborgene Beschaffenheit,[142] oder ein eingebildeter, materieller Krankheits-Stoff ein nichtiger Traum sey;

dass diese Befindens-Verstimmung, die wir Krankheit nennen, bloss durch eine andre Befindens- Umstimmung mittels Arzneien zur Gesundheit gebracht werden könne, deren einzige Heilkraft folglich nur in Veränderung des Menschenbefindens, das ist, in eigenthümlicher Erregung krankhafter Symptome bestehen kann, und am deutlichsten und reinsten beim Probiren derselben an gesunden Körpern erkannt wird;

dass, nach allen Erfahrungen, durch Arzneien, die einen von der zu heilenden Krankheit abweichenden, fremdartigen Krankheitszustand (unähnliche krankhafte Symptome) für sich in gesunden Menschen zu erregen vermögen, die ihnen unähnliche, natürliche Krankheit nie geheilt werden könne (nie also durch ein allöopathisches Cur-Verfahren), und dass selbst in der Natur keine Heilung vorkomme, wo eine inwohnende Krankheit durch eine hinzutretende zweite, jener unähnliche, aufgehoben, vernichtet und geheilt würde, sey die neue auch noch so stark;

dass auch, nach allen Erfahrungen, durch Arzneien, die ein dem zu heilenden einzelnen Krankheitssymptome entgegengesetztes künstliches Krankheitssymptom für sich im gesunden Menschen zu erregen Neigung haben, bloss eine schnell vorübergehende Linderung, nie aber[143] Heilung einer ältern Beschwerde, sondern stets nachgängige Verschlimmerung derselben bewirkt werde; und dass, mit einem Worte, diess antipathische und bloss palliative Verfahren in ältern, wichtigen Uebeln durchaus zweckwidrig sey;

dass aber die dritte, einzig noch übrig mögliche Verfahrungsart (die homöopathische), mittels deren gegen die Gesammtheit der Symptome einer natürlichen Krankheit eine, möglichst ähnliche Symptome in gesunden Menschen zu erzeugen fähige Arznei in angemessener Gabe gebraucht wird, die allein hülfreiche Heilart sey, wodurch die Krankheiten als bloss dynamische Verstimmungs-Reize der Lebenskraft überstimmet werden und so unbeschwerlich, vollkommen und dauerhaft ausgelöscht, zu existiren aufhören müssen – worin auch die freie Natur in ihren zufälligen Ereignissen selbst mit ihrem Beispiele uns vorangeht, wenn zu einer alten Krankheit eine neue, der alten ähnliche hinzutritt, wodurch die alte schnell und auf immer vernichtet und geheilt wird.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. 142-144.
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