Vorwort. Blick auf die Art, wie homöopathisches Heilen zugehe.

Den Vorgang des Lebens im Innern des Menschen können wir nicht mit unsern Sinnen erreichen, nicht wesentlich erkennen, und es ist uns nur zuweilen vergönnt, aus dem Geschehenden muthmasslich zurück auf die Art zu schliessen, wie es wohl möge zugegangen und zu Stande gekommen seyn, ohne dass wir jedoch aus den im Reiche des Unorganischen wahrzunehmenden Veränderungen treffende Belege zu diesen unsern Erklärungen darzulegen im Stande wären, weil das Lebendige mit letztern in seinen Veränderungen gar nichts gemein hat, vielmehr beide durch himmelweit von einander abweichende Prozesse entstehen.

Es war daher ganz natürlich, dass ich im Vortrage der homöopathischen Heillehre nicht wagte, zu erklären, wie die Heilung der Krankheiten durch unser Einwirken auf den kranken Menschen mit Substanzen wohl zugehen möge, welche die Kraft besitzen, sehr ähnliche Krankheits-Zustände im Gesunden zu erzeugen. Zweifelhaft gab ich meine Vermuthung darüber an, ohne es eine Erklärung, eine bestimmte Erklärung nennen zu wollen, die auch gar nicht durchaus nöthig war, da uns nur obliegt, nach dem erkannten und sich immerdar bestätigenden Natur-Gesetze durch Aehnliches richtig und mit gutem Erfolge zu heilen, nicht aber mit abstrakten Erklärungen zu prahlen[7] und den Kranken dabei ungeheilt zu lassen, worin bisher das Thun der sogenannten Aerzte bestand.

Diese letztern machten daher eine Menge Einwendungen dagegen und hätten lieber gar die ganze homöopathische (einzig mögliche) Heilkunst aus dem Grunde verworfen, weil ihnen dieser mein Erklärungs-Versuch über die Art des Vorgangs beim homöopathischen Heilen im verborgenen Innern nicht genügte.

Nicht um diese zufrieden zu stellen, sondern um mir selbst und meinen Nachfolgern, ächt pracktischen Homöopathen einen noch wahrscheinlichern Erklärungs-Versuch dieser Art vorzulegen – weil der menschliche Geist doch nun einmal, unaufhaltsam den unschuldigen und löblichen Trieb fühlt, sich einige Rechenschaft zu geben, auf welche Weise es zugehen möge, was er mit seinem Thun Gutes bewirkt – nur desshalb habe ich diese Zeilen niedergeschrieben.

Unleugbar ist es, dass unsere Lebenskraft ohne Zuthun wahrer Heilmittel menschlicher Kunst, selbst nicht die kleinen, schnell verlaufenden Krankheiten (wenn sie ihnen nicht gar unterliegt) besiegen und eine Art Gesundheit wieder herstellen kann, ohne einen Theil (oft einen grossen Theil) der flüssigen und festen Theile des Organismus durch sogenannte Crisis aufzuopfern, wie ich anderswo gezeigt habe. Wie sie diess eigentlich bewirkt, wird uns ewig unbekannt bleiben; so viel ist jedoch sicher, dass sie selbst diese nicht direkt, selbst diese nicht ohne solche Aufopferungen besiegen kann. – Die chronischen, aus Miasmen entsprungenen vermag sie auch nicht einmal mit solchen Verlusten allein zu heilen und wahre Gesundheit herzustellen. Aber eben so sicher ist es, dass wenn sie auch durch wahre (homöopathische) Heilkunst vom menschlichen Verstande geleitet in Stand gesetzt wird, sowohl die sie befallenen, schnell verlaufenden, als die chronischen, durch Miasmen entstandenen Krankheiten direkt und ohne[8] solche Aufopferungen, ohne Verlust an Leib und Leben zu überwältigen und zu übermannen (zu heilen), es doch immer sie, es doch immer die Lebenskraft ist, welche obsiegt, wie die Landes-Armee doch die Siegerin zu nennen ist, welche den Feind aus dem Lande treibt, obgleich nicht ohne Unterstützung ausländischer Hülfs-Truppen. Die organische Lebenskraft unsers Körpers ist es, welche natürliche Krankheiten aller Art, selbst direkt und ohne solche Aufopferungen heilt, sobald sie durch die richtigen (homöopathischen) Arzneien in den Stand gesetzt wird, zu obsiegen, was sie freilich ohne die Hülfs-Macht, ohne diese Unterstützung nie vermochte; denn diese unsre organische Lebenskraft ist, allein genommen, nur hinreichend, das Leben in gutem Gange zu erhalten, solange der Mensch nicht durch die feindliche Einwirkung krankmachender Potenzen krankhaft umgestimmt wird.

Diesen letztern ist sie allein nicht gewachsen; diesen tritt sie kaum mit gleicher Kraft, als die feindliche Einwirkung auf sie ausübt, entgegen und zwar mit mancherlei Zeichen des Selbstleidens (die wir Krankheits-Symptome nennen), würde aber nie durch eigne Kraft den chronischen Krankheits-Feind überwältigen, wie selbst kurz verlaufende Krankheiten ohne ansehnlichen Verlust an Theilen des Organismus besiegen können, wenn sie ohne Hülfe von aussen durch ächte Heil-Unterstützung bliebe, wozu der Erhalter des Menschen-Lebens dem ärztlichen Verstande den Auftrag gegeben hat.

Kaum mit gleichen Widerstande, sage ich, tritt die Lebenskraft dem Krankheits-Feinde entgegen, und doch kann kein Feind überwältigt werden, als durch Uebermacht.

Nur die homöopathische Arznei kann diese Uebermacht dem kranken Lebens-Prinzip verleihen.

Für sich selbst setzt diess uns belebende Princip, als nur organische, bloss zur Erhaltung ungestörter Gesundheit[9] bestimmte Lebenskraft dem anrückenden Krankheits-Feinde nur einen schwachen, dann dem wachsenden, sich verstärkenden Uebel einen grössern, aber dem feindlichen Eindringen immer (im besten Falle) nur gleichen, bei schwächlichen Kranken nicht einmal gleichen, oft nur schwächern Widerstand entgegen; – zu überwiegender, unschädlicher Gegenwehr ist sie nicht fähig, nicht berufen, nicht geschaffen.

Können wir Aerzte aber dieser instinktartigen Lebenskraft ihren Krankheits-Feind, durch Einwirkung homöopathischer Arzneien auf sie, gleichsam vergrössert – selbst nur um etwas jedesmal vergrössert vorhalten und entgegenstellen – und vergrössern wir auf diese Art für das Gefühl des Lebens-Prinzips, das Bild des Krankheits-Feindes durch täuschend ähnlich die ursprüngliche Krankheit nachbildende homöopathische Arzneien, so veranlassen und zwingen wir nach und nach diese instinktartige Lebens-Kraft, allmälig ihre Energie zu erhöhen und immer mehr und so weit zu erhöhen, dass sie endlich weit stärker, als die ursprüngliche Krankheit war, dass sie wieder Selbstherrscherin in ihrem Organism werden, selbst wieder die Zügel der Gesundheits-Führung halten und fernerhin leiten kann, indess die Schein-Vergrösserung der Krankheit, durch die homöopathischen Arzneien erzeugt, von selbst verschwindet, sobald wir, beim Erblicken der hergestellten Uebermacht der Lebenskraft, das ist, der hergestellten Gesundheit, auf hören, diese Mittel anzuwenden.

Unglaublich gross ist der Grund-Bestand (Fonds) des geistartigen, uns Menschen vom unendlich gütigen Schöpfer zugetheilten Lebens-Prinzips, wenn wir Aerzte es nur in gesunden Tagen durch verordnete gesunde Lebensart aufrecht zu erhalten und in Krankheiten durch rein homöopathische Behandlung hervorzurufen und heraufzustimmen verstehn.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Die chronischen Krankheiten. 5 Bände, Bd. 4, Dresden, Leipzig 21838, S. 7-10.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die chronischen Krankheiten
Die Chronischen Krankheiten, Ihre Eigenthumliche Natur Und Homoopathische Heilung (1)
Die chronischen Krankheiten, 5 Bde. Ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung.
Die chronischen Krankheiten, Bd.1, Theoretische Grundlagen
Die chronischen Krankheiten, ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung: Erster Teil
Die chronischen Krankheiten: Theorieband