Was das Publikum nicht einsieht

[57] Es ist etwas Merkwürdiges um das Publikum. Es kann aus lauter hochanständigen Menschen, aus lauter hellen Köpfen bestehen, sobald sie sich zusammentun, sagt die Vernunft ade, und es bleibt ein unberechenbares Etwas zurück, das zu jedem Exzeß, zu jedem Unsinn bereit ist. Es gibt kein Einsehen mehr, kein Maß, kein Schamgefühl. Man sehe sich die Gesichter an bei einem Fußballspiel, wie das schreit, pfeift, tobt, in unfairer Weise Partei nimmt. Spieleifer, Empörung, Begeisterung und Liebe lösen alle Fesseln der Selbstbeherrschung und Disziplin. Weiß Gott, daß auch diese Liebe nicht immer leicht zu ertragen ist. Wie werden die »Lieblinge des Publikums« von der allgemeinen Begeisterung unermüdlich gehetzt! Auf Schritt und Tritt ist man hinter ihnen her, begafft sie, zwingt sie, Reden zu halten, Unterschriften zu geben, zerrt ihr Privatleben mitleidlos ans Licht und weiß gar nicht, wie taktlos das ist, wie grausam, wenn man dem todmüden Künstler immer irgend noch eine »Zugabe« abnötigt.

Kannst du ihm die verdiente Ruhe nicht gönnen? Und mußt du, liebes Publikum, dir ein Schauspiel daraus machen, selbst aus der Trauer deines Abgottes? Könntest du nicht, wie der Japaner es tut, zur rechten Zeit die Augen senken, den Kopf wenden – dich zurückziehen? Deine Lieblinge sind doch nicht mit Haut und Haaren dein, so daß sie dir neben ihrem Lebenswerk auch noch Rechenschaft für jede ihrer Minuten schulden!

Man mutet den im öffentlichen Leben stehenden Persönlichkeiten das Unmögliche zu. Jede noch so ausgefallene Gesellschaft[57] bittet um selbstlose Mitwirkung zur Verschönerung ihres Festes, und schließlich dürfen die Künstler noch froh sein, wenn man von ihnen nicht außer ihrer unentgeltlichen Mitwirkung auch noch materielle Unterstützung verlangt. Besonders Schauspieler oder Theaterdirektoren könnten von manchen dreisten oder naiven Betteleien erzählen. Wüßte man nicht, daß hier die Psyche des »Publikums« spricht, könnte man Pessimist werden. Die Einzelnen, aus denen das Publikum besteht, ließen sich nie einfallen, sich solche Blößen zu geben. Sobald aber aus der Summe der Einzelnen das »Publikum« wird, ist alle gute Erziehung vergessen. Man scheut sich nicht, das Intimste zu fragen, den Bildhauer, ob das Modell seine Frau sei, den Dichter, ob er seine rührende Liebesgeschichte selbst erlebt hat, man will wissen, woran sie jetzt arbeiten, wo sie den Stoff dazu gefunden haben, was sie dafür bekommen ... ach, was will das Ungeheuer Publikum nicht alles wissen!

Oder man befiehlt den Helden oder den Künstler zum Tee, weil Frau Trude ihn gar so gerne kennenlernen möchte. Ob er Lust dazu hat, fragt man den armen berühmten Mann nicht. Wie ein Zirkusaffe muß er sich von Hand zu Hand reichen lassen – und wehe ihm, wenn ihm der Ruf der Unterhaltsamkeit vorangeht. Dann stellt man ihn unter Druck, bis man das Letzte aus ihm herausgepreßt hat. Ist er gar Arzt oder Anwalt, dann gibt's Konsultationen zwischen Suppe und Braten und zum schwarzen Kaffee. Es ist nicht fair, liebes Publikum, die Wehrlosigkeit des Gastes derart zu mißbrauchen.

So mancher Beruf könnte ein Lied vom Taktgefühl des lieben Publikums singen, der Kellner, der Hotelangestellte, der Verkäufer zum Beispiel. Sind sie nicht alle auch Diener der Gemeinschaft, haben sie nicht' eben deshalb auch Anspruch auf Liebenswürdigkeit und gute Behandlung? Was aber ist das liebe[58] Publikum, mit wenigen Ausnahmen? Seine Herrlichkeit will es zur Schau tragen, imponieren, kommandieren, und mancher Spießer, der daheim gewiß die Stimme nicht zu erheben wagt, tut höchst wichtig, pludert sich auf wie ein Truthahn und will als Mordskerl gelten, sobald er die Halle eines Hotels betritt.

So ein Mann hat keine Kultur. Wirkliche Persönlichkeit erkennt man am unauffälligen und höflichen Auftreten. Keinem wahrhaft kultivierten Menschen fiele es ein, einen Angestellten, Diener oder Kellner persönlich zur Rede zu stellen, wenn ihm etwas nicht paßt. Man höre dagegen Frau Bimbam zu, wenn sie aufbegehrt, weil die Semmeln nicht knusperig genug sind: »Das will ein Hotel ersten Ranges sein?« Und im Geschäft beschwert sie sich: »Sie haben gar keine Auswahl, Fräulein, man muß rein nach Berlin fahren, wenn man die richtige Stopfseide für die Strümpfe haben will.«

Und warum, liebes Publikum, müssen Schneider, Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte, Privatlehrer so maßlos lange warten, ehe du deine Rechnung begleichst? Glaubst du, diese Menschen leben nur von Wasser, Begeisterung und frischer Luft? Dabei stehen deine Ansprüche im umgekehrten Verhältnis zu deiner Dankbarkeit. Du findest es recht und billig, den Arzt aus dem Schlaf zu läuten, weil du Bauchweh hast, von der Schneiderin verlangst du Tag- und Nachtarbeit, weil du dein Kostüm an einem bestimmten Tag haben willst, und findest solche Opfer ganz selbstverständlich. Sie sind es aber durchaus nicht, und das Mindeste, was du tun könntest, wäre, deine Schuld so bald wie möglich zu begleichen.

Und wie, mein liebes Publikum, beträgst du dich in der Öffentlichkeit? Natürlich fühlt sich keiner schuldig, aber wenn irgendwo irgendwas los ist, gleichgültig, ob ein Mensch unters Auto kam oder ob einer ins Wasser gespuckt hat, rennt doch[59] alles, um zu sehen, zu drängen, zu raten – aber zu helfen? Da könnten unsere Retter und Feuerwehrleute davon erzählen, wie ihnen die Neugierde im Wege steht. Man sehe nur einmal zu, wie nach Schluß einer Vorstellung die Leute das Theater oder Kino verlassen! Gerade vor dem Ausgang bleiben sie stehen, anstatt sofort einige Schritte beiseite zu treten und den Nachkommenden Platz zu machen, und dort, wo mühelos in einigen Minuten das Lokal geleert sein könnte, wenn jeder sich richtig verhielte, erkämpft man sich mit dem Ellbogen mühsam den Ausgang.

Und wie ist es in den Geschäften? Da hat ein Kaufmann wochenlang wohlfeile Ware in der Auslage stehen und kein Mensch kommt auf den Gedanken, sie zu kaufen. Fällt es dem Kaufmann aber ein, sie als ganz seltenen und besonders günstigen Gelegenheitskauf anzupreisen, dann stehen die Leute auf einmal in Schlangen an und halten sich für besonders klug, weil sie diese Gelegenheit beim Schopf packen – auch wenn sie nicht das geringste Bedürfnis nach dieser Ware haben. Man muß wirklich annehmen, daß die Menschen, sobald sie sich zusammentun, ihre Einzelseele verlieren und eine »Publikumsseele« bekommen. Sonst wäre es beispielsweise nicht begreiflich, weshalb nach Schluß eines Konzerts oder einer anderen Veranstaltung eine Hetzjagd nach der Garderobe einsetzt. Sonst gut erzogene Leute treten auf zarte Füße, bahnen sich den Weg zwischen dekolletierten Rücken, fremden Armen und Beinen mit dem Ellbogen, um den Überzieher zu erreichen und damit die Flucht zu ergreifen. Warum? Kein Mensch weiß warum er auf die Garderobe Sturm läuft, denn auf die paar Minuten kommt es keinem an.

Ja, mein liebes Publikum, mit dir ist es manchmal ein rechtes Gfrett.


Die Publikumsseele (S. 61)
Die Publikumsseele (S. 61)

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 57-61,63.
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