III. Der Transport im grünen Wagen.

[13] Bereits am Montag hatte mir der Kriminalbeamte angekündigt: »Morgen Mittag kommen Sie fort von hier.«

»Wohin?« fragte ich.

»Nach dem Landgericht,« erwiderte er prompt.

War auch die Hoffnung auf sofortige Befreiung schon länger in mir erloschen, so vernahm ich doch die Nachricht, daß ich diesen Ort beständiger Qual verlassen solle, mit großer innerer Befriedigung. Nur hier fort, dann – so meinte ich, werde schon alles noch gut werden. Unter anderen Verhältnissen, anderen Menschen gegenüber, mit denen sich vernünftig reden ließ, werde meine einstweilige Haftentlassung sicher bald erfolgen. Freilich bereitete mir die Ungewißheit einige Sorge, auf welche Weise wohl der Transport vor sich gehen würde. Ich hatte früher viel von dem sogenannten »grünen Wagen« gehört, in welchem Verbrecher, aber auch aufgegriffene Landstreicher befördert werden. Sollte ich nun vielleicht persönlich Bekanntschaft machen mit[13] diesem ominösen Vehikel? – Der Gedanke hatte nichts sonderlich Verlockendes für mich, obschon ich auch nicht gern an der Seite des Kriminalbeamten den ziemlich weiten Weg zu Fuß angetreten hätte. Und wer sollte im letzteren Falle meine Sachen tragen? Denn daß ich sie hier nicht mehr zurückbekommen würde, das war mir vollkommen klar geworden.

Der ungeduldig herbeigewünschte Tag kam heran. Aber noch rührte sich nichts. Alles ging seinen gewohnten Gang, so daß ich bereits zu fürchten begann, man könne vielleicht andere Verfügungen getroffen haben.

Gegen Mittag endlich fing es in dem alten Bau an lebendig zu werden. Man hörte Schlüssel rasseln, Türen schließen, barsche Kommandorufe erschallen. Dann öffnete sich auch meine Zelle. Der Aufseher hieß mich folgen und führte mich in eine Art Warteraum im Erdgeschoß, wo der Kriminalbeamte bereits mit Registrierung von Sachen beschäftigt war, deren Eigentümer, vier Männer und zwei Frauen, auf rings an der Wand angebrachten Bänken herumsaßen. Mit Staunen und Schrecken wurde ich inne, daß diese zum Teil sehr fragwürdigen Gestalten meine Reisegesellschaft bilden sollten. Zwei von den Männern besonders blickten aus ziemlich rohen, verkommenen Gesichtern und gehörten jedenfalls zu den Menschenexemplaren, denen man[14] ungern allein auf der Straße begegnet. Obwohl eine solche Reisegesellschaft keineswegs angenehm war, so hatte ich mich doch bei meiner absoluten Furchtlosigkeit nicht allzuschwer mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Größere Unruhe bereitete mir der Gedanke, vielleicht vor den Augen aller Straßenpassanten in den berüchtigen grünen Wagen steigen zu müssen. Ich hatte in D. ziemlich viel Verwandte, noch mehr Bekannte. Mußte ich nicht befürchten, daß einer von diesen mich in dieser Situation sehen und erkennen möchte? – Sorgenvoll befragte ich den Kriminalbeamten.

»Nein –« antwortete er in beruhigendem Tone. »Niemand kann Sie sehen. Der Wagen fährt hier und im Landgericht in den Hof ein.«

Er hatte mich belogen. Und diese Lüge, obschon sie jedenfalls gut gemeint war, werde ich nie im Leben völlig vergessen können. Der Wagen fuhr nicht in den Hof hinein, denn es war in diesem elenden Gefängnis überhaupt gar kein richtiger Hof vorhanden. Meine Befürchtung bestätigte sich also in vollem Maße. Vor aller Welt Augen, vor den neugierigen Blicken der Umwohnenden, die aus sämtlichen Fenstern herausschauten, fuhr der Wagen vor, ein Fest für die Straßenjugend, die sich freilich der Polizisten wegen nicht nahe herantraute, dafür[15] aber dem Wagen in einiger Entfernung das Geleite gab.

Dauerte peinliche Situation nicht lange, für die wenigen Augenblicke des Heraustretens und Einsteigens hatte ich das Gefühl, als müsse ich an einem mittelalterlichen Pranger stehen, dem Gespött der Menge preisgegeben. – Ich hoffe und wünsche von Herzen, daß auch dieser Übelstand im Interesse späterer Leidensgenossen beseitigt sein möchte.

Der omnibusartige Wagen ist für acht Arrestanten eingerichtet, die auf zwei Längsbänken einander gegenübersitzen. Wir waren nur sieben, die jetzt durch einen der eskortierenden Polizisten in strengem Kommandotone an die Plätze gewiesen wurden. Zwei Männer mußten sich an meine Seite setzen, die beiden anderen und die zwei Frauen gegenüber.

Ebenfalls im Innern des Wagens, zwischen den Arrestantenbänken und der mit vergittertem Fenster versehenen Wagentüre befindet sich noch ein kleiner abgesonderter Nebenraum, in welchem hüben und drüben je ein wohlbewaffneter Wachtposten stationiert ist. Nachdem auch die Polizisten eingestiegen sind, schließt der eine von ihnen die Wagentüre sorgfältig zu und gibt dann durch das vordere, gleicherweise vergitterte Fenster dem Kutscher das Zeichen[16] zum Abfahren, worauf das seltsame Gefährt losrasselt.

Während nun die Männer meist stumpf und nichtssagend vor sich hinstarren, auch die roh ausschauenden sich der Polizisten wegen ruhig verhalten, ist die eine der weiblichen Personen in lautes Jammern und Wehklagen ausgebrochen.

»Was habe ich getan! Was habe ich getan!« ruft sie händeringend unter Tränen aus. »Was habe ich getan! Ach Gott! – ach Gott, wie wird mir's gehen!« wiederholt sie immer von neuem.

Mehrmals schon hat der eine Wachthabende der Wehklagenden mißbilligende Blicke zugeworfen. Jetzt wird ihm die Sache zu arg.

»Was soll das Gejammere!« bricht er in barschem Tone los. »Verhalten Sie sich ruhig, sonst gibt's was!«

Schreckensvoll verstummt die Gescholtene. Scheu blickt sie nach dem strengen Wächter, als fürchte sie, er könne ihr irgend etwas Schreckliches antun. Als sie aber gewahrt, daß dieser ihr nach der schroffen Zurechtweisung keine weitere Beachtung schenkt, da scheint ihre furchtsame Scheu wieder zu schwinden. Eine Weile noch verhält sie sich ruhig. Dann fängt sie aufs neue bitterlich zu schluchzen an.

Finster blickt der Wachthabende nach der Weinenden, doch unterläßt er diesmal die Rüge, weil[17] die Arrestantin nicht laut wird, sondern nur, leise die Lippen bewegend, unverständliche Worte vor sich hinmurmelt. Darum begnügt er sich mit einem stummen Kopfschütteln und Achselzucken, als sei ihm solches Gebaren vollkommen unverständlich.

Das unglückliche Weib weint und schluchzt weiter, kann es aber zwischendurch dennoch nicht unterlassen, gleich der Genossin neugierige Blicke auf mich zu werfen.

»Was ist das für eine,« scheinen die Blicke zu fragen, »die da in Hut und Umhang, Handschuhe an den Händen im »grünen Wagen« transportiert wird?«

Für eine Prostituierte mag ich ihnen wohl zu alt erscheinen. So mustern sie mich unausgesetzt von oben bis unten, während die Männer mich völlig unbeobachtet lassen. Sie blicken sich überhaupt nicht um, benehmen sich vielmehr trotz ihres wüsten Aussehens durchaus ruhig und vorschriftsmäßig.

Unterdessen rasselt das Gefährt unaufhaltsam weiter, bis es plötzlich mit einem Ruck stillsteht. Wir sind vor einem großen Einfahrtstore angekommen, dessen beide Flügel soeben von einem Gefängnisbeamten weit geöffnet werden. Darauf fährt der Wagen in den Landgerichtshof ein. Das Tor schließt sich. Der Wagen hält.

Wieder ist ein Stück dieser meiner traurigen Lebensperiode zum Abschluß gelangt. Was wird nun weiter werden! –[18]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 13-19.
Lizenz: