Abendmahlsfeier.

[129] Obgleich ich stets ausdrücklich darum bitten mußte, hatte ich dem allsonntäglichen Gottesdienst schon mehrfach beigewohnt. Die Teilnahme ist eine durchaus freiwillige, die Beschränkungen derselben aber mannigfach. Ist doch nicht nur auf etwaige Komplizen[129] Rücksicht zu nehmen. Auch die Strafgefangenen der Anstalt, die mit den Untersuchungshäftlingen in keinerlei Berührung kommen dürfen, erhalten immer einen um den andern Sonntag reserviert. So wird es erklärlich, daß mitunter Untersuchungsgefangene die Gefängniskirche überhaupt nicht zu sehen bekommen.

Ähnlich verhält es sich mit der Abendmahlsfeier, deren Teilnahme gleichfalls, abgesehen von den Beschränkungen in das Belieben des Einzelnen gestellt ist.

Fast fünf Monate befand ich mich bereits in Untersuchungshaft, und noch hatte ich an keiner Abendmahlsfeier teilgenommen.

Und wieder war es der Pfarrer, der mich dazu aufforderte, die übliche Meldung bei der Aufsichtsbeamtin veranlaßte und befürwortete.

»Wenn Sie hier nicht selbst nachfragen, kommen Sie überhaupt nicht dazu,« sagte er, die Lässigkeit rügend, die in dieser Beziehung bei den Beamtinnen herrschte.

»Der Gottesdienst muß hier ganz derselbe wie gewöhnlich bleiben. Wir können infolgedessen keine lange Beichtrede halten. Ich bringe Ihnen deswegen hier ein Buch zur Vorbereitung.«

Mit diesen Worten betrat der Pfarrer am Tage vor meiner ersten Abendmahlsfeier die Zelle und überreichte mir eine Art Katechismus, ein kleines Büchlein,[130] das gemeinverständlich gehaltene Anleitungen über den Gebrauch der Abendmahlsfeier enthielt.

Der Abendmahlssonntag brach an. In meiner begreiflichen Erregung durch die Gefangenschaft meinte ich, es müsse sich etwas besonderes ereignen. Das war aber durchaus nicht der Fall, vielmehr verlief alles wie gewöhnlich. Auch beim Kirchgange unterschied sich nur das eine vom sonst üblichen, daß wir Kommunikantinnen früher als die anderen Kirchgänge rinnen ins Gotteshaus eingeführt und noch einige Stufen hinunter in den Vorderraum der Kirche dirigiert wurden. Die dort befindlichen Einzelzellen haben das Angenehme, daß man keine kahlen Zellenrückwände, vielmehr direkt die Mauern des Gotteshauses, die Glasmalereien der Fenster, sowie den einfachen, aber würdigen Altar vor sich sieht.

Der Gottesdienst verlief ganz nach der Voraussage des Pfarrers wie an jedem Sonntage. Als er beendet war, trat der Geistliche zum Altar, um eine kurze, zum Herzen sprechende Beichtrede zu halten und dann mit der Austeilung des Abendmahls zu beginnen.

Von der entgegengesetzten Seite traten nun in langen Reihen zuerst die männlichen Untersuchungsgefangenen zum Altar, immer zu vier Personen hintereinander vom Aufseher geordnet.

Da gab es nun freilich sehr fragwürdige Gestalten[131] darunter, denen man vielleicht nicht allzu gern allein in menschenleerer Gegend begegnet wäre. Andere wieder sahen durchaus vertrauenerweckend aus. Ernste gesetzte Männer, die beinahe einen seinen Eindruck machten. Ein paar kaum dem Knabenalter entwachsene Jünglinge mußten mit ihren bleichen, angstentstellten Gesichtszügen bei jedem Menschenfreunde Teilnahme erwecken. Ein gleichfalls noch sehr junger Mensch mit eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen erregte vor allem tiefes Erbarmen. Er befand sich augenscheinlich, wie auch sein öfteres kurzes, trockenes Hüsteln bewies, im letzten Stadium der Schwindsucht, und man konnte sich des Gedankens nicht entschlagen, warum man diesen unglücklichen Menschen, der doch wohl kein schweres Verbrechen begangen haben dürfte, nicht ruhig daheim sterben ließ.

Alle diese Männer aber, selbst die roh aussehenden unter ihnen traten mit ernsten Mienen zum Altar. Bei keinem von ihnen habe ich solch leichtfertiges Lächeln, solch neugieriges Umschauen beobachten können, wie es dann einige der weiblichen Häftlinge zeigten. Freilich mag dazu wohl die militärisch straffe Zucht und die Anwesenheit des gestrengen Herrn Aufsehers etwas beitragen.

Nachdem die Männer das Abendmahl empfangen hatten und in derselben geordneten Weise nach ihren[132] Plätzen wieder abgerückt waren, kamen die weiblichen Untersuchungsgefangenen an die Reihe. Die männlichen Vorgesetzten öffneten jede einzelne Kirchzelle, und die Aufseherin führte die vier ersten vor zum Altar, während sich die anderen dahinter aufstellen mußten.

So trat auch ich mit drei Schicksalsgenossinnen zum Altar, um das Abendmahl zu empfangen.

Da die weiblichen Abendmahlsgäste kaum den fünften Teil der männlichen erreichten, so war die Feier bald beendet. Auch wir nahmen unsere Plätze wieder ein, und mit Gebet und Gesang wurde der durchaus würdige Akt beschlossen.

Dennoch verging noch eine längere Zeit, bis unsere Einzelzellen aufgeschlossen und wir zum Abmarsch kommandiert wurden. Vielmehr belehrte uns ein stetes Schließen, Kommandorufe, sowie das trappende Geräusch Abrückender, daß die Nichtkommunikanten vor uns hinausgehen mußten. Endlich kamen auch wir daran. Die Aufseherin kehrte zurück. Die Zellen wurden aufgeschlossen und wir nach dem Gefängnis abgeführt.

Noch einmal habe ich später einer Abendmahlsfeier im Untersuchungsgefängnis in Gesellschaft meiner Zellengenossin beigewohnt. Dann wurde mir durch ein Vorkommnis, das aus jener Zusammenlegung hervorgegangen war, für die fernere Dauer meiner Untersuchungshaft jeglicher Kirchgang abgeschnitten.[133]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 129-134.
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