Fünftes Kapitel

Fluchtversuche und »Etablissement« (1799–1802)

Ich hatte dem Herzog in den ersten Tagen befohlenermaßen und gern meinen kleinen Reisebericht zugeschickt, er ließ nicht lange auf Antwort warten und ebensowenig auf den darin angekündigten Besuch in Dresden. Der Standpunkt, auf dem ich zu ihm stand, stach freilich von der Herzlichkeit seines Briefes auffällig ab, und der Schluß ging auch nach der Meinung der Frau v. Löwenstern über den Ausdruck des einfachen Wohlwollens weit hinaus. Sein Aufenthalt dauerte nur einen halben Tag; kurze Zeit darauf erkrankte ich an einer Halsentzündung mit dazu gekommener Kopfrose, und zwar so ernstlich, daß ich einige Wochen lang das Bett nicht verlassen konnte und meine gute Frau von Löwenstern genötigt war, über die festgesetzte Zeit in Dresden zu verweilen. So konnte ich die Annehmlichkeiten der schönen Stadt nur wenig genießen und mußte mit einer traurigen Rückreise vorliebnehmen. Frau v. Löwenstern war verstimmt und ich von der Krankheit so angegriffen, daß oft tiefes Stillschweigen im Wagen herrschte, während meine Gedanken mir Unzufriedenheit und Sorge erregten. In Weimar trafen wir alles beim alten, während Frau v. Löwenstern nicht mehr im Zweifel über die Absichten ihres fürstlichen Freundes war und meine glückliche Sorglosigkeit entschwand. Mit schlecht verhohlener Bewegung gab sie ihren Beobachtungen Worte, und wir kamen überein, daß ich die Teestunde ihres Hauses zuweilen verpassen sollte, damit der Herzog in die ruhige Bahn des Wohlwollens zurückkehrte, das mich so glücklich gemacht hatte. Aber das Unternehmen mißlang, infolge meiner Abwesenheit entstand zwischen dem Fürsten und Frau v. Löwenstern eine Art Spannung, und ihre Umgebung beschränkte sich auf stille Beobachtung, so daß schließlich von allen Seiten mein Wiedererscheinen gewünscht wurde; Frau v. Löwenstern sandte mir Boten, der Herzog ließ in scherzhafter Einkleidung seinen Ruf an mich ergehen, die kleine Sängerschar erschien, mich aus meinem Versteck zu[133] holen. Die Maßregel hatte allen und auch mir nur bewiesen, wie weit mein Einfluß auf die Stimmung des Herzogs gediehen war, und diese Wahrnehmung brachte meinem Ehrgeiz und meinem Attachement nicht die frühere Befriedigung. Ich sah es als Verbrechen an, meine gewohnte heitere Laune zu Worte kommen zu lassen, und vermied die Unterhaltung mit dem Herzog soviel als möglich; sah ich aber sein trauriges und von körperlichen Leiden angegriffenes Gesicht, so waren alle Bedenken vergessen, und ich belebte, was ich zerstören, nährte, was ich vernichten wollte. Mit mir entzweit und unzufrieden, verließ ich dann das Löwensternsche Haus, um mich zu Hause mit Vorwürfen und Sorgen zu quälen, bis der treue Gast aus besseren Tagen, ein gesunder Schlaf, mich in seine Arme nahm und meine fieberhafte Aufregung beruhigte.

In dieser Zeit lud mich die Fürstin von Rudolstadt ein, am Geburtstage ihres Gemahls eine Gastrolle zu geben und weitere folgen zu lassen, da die weimarische Gesellschaft seit kurzem auf dem dortigen kleinen Theater spielte. Wiederum bestätigte sich die Tatsache, daß Veränderung von Luft und Verhältnissen wohltätig auf Körper und Seele einwirkt; die herrliche Berg- und Waldluft stärkte Brust und Nerven, und die reizenden Naturbilder gaben dem Geist neuen Stoff zur Heiterkeit, so daß ich erfrischt und zur willigen Aufnahme freundlicher Eindrücke vorbereitet die Pforte passierte, die einst von geharnischten Knappen besetzt war, jetzt von einem höflichen Burgwart geöffnet wurde. Meine Ankunft erfolgte gerade in der Stunde des fürstlichen Diners, und während wir unter dem Portale hielten, liefen die Diener mit verdeckten Schüsseln hin und her, deren Düfte mir nach der langen Fahrt die angenehmsten Hoffnungen erweckten. Der Haushofmeister, ein feiner Mann, war unterdes herbeigekommen und führte mich in den zweiten Stock, wo mir die beiden Zimmer angewiesen wurden, die seit dem Tode der Prinzeß Fleckchen nicht bewohnt waren. In diesem ehrenfesten Sitze eines alten Fürstengeschlechts hatte sich die große Einfachheit der Vorfahren auf bewunderungswürdige Art erhalten, namentlich war der Luxus einer späteren Zeit nicht in[134] die hohen Räume meines Gemachs gedrungen. Die Aussicht aus den Fenstern konnte man nur durch Ersteigen einiger Stufen erlangen, aber der herrliche Blick über die kleine Stadt hinweg in die weite, kaum von einem Nebelstrich begrenzte Ferne lohnte die kleine Mühe. Das altertümliche spärliche Ameublement, die Stühle mit gerade aufsteigenden Lehnen, das Himmelbett der Prinzessin, das jetzt meine Ruhestätte wurde, wie die Stühle mit gelbdamastnen Überzügen und Vorhang – solchen Gegenständen aus der Vergangenheit begegnete man damals nur an den Orten ihrer Entstehung, und so fühlte ich mich den Zeiten nahe gebracht, in denen die abenteuerlichen Romane spielen, die ich immer mit warmem Interesse gelesen hatte. Bald erschien auch ein vortreffliches Diner, und später Fräulein v. Wurmb, eine Nichte der Frau v. Schiller und Hofdame der Fürstin, die ich schon in Weimar kennen gelernt hatte, um mich zu unterrichten, daß sich nebenan die Zimmer der Fürsten befänden, und wie ich meine Geschäfte in der Stadt zu besorgen hätte. Der Diensttuende du jour sollte meine Aufträge in Empfang nehmen, mich in der Hofequipage ins Theater begleiten; zuweilen hatte auch der Läufer den Dienst, und da dieser, getreu seiner eigentlichen Funktion, es vorzog, statt hinten auf dem Wagen seinen Platz zu nehmen, vor demselben herzulaufen, wurde ich in die Notwendigkeit versetzt, mich in den Hintergrund des Wagens zurückzuziehen, um mich vor den tief herabgezogenen Hüten und Knicksen der Vorübergehenden in Sicherheit zu bringen. Frau v. Lengefeld, die Oberhofmeisterin, stellte mich der Fürstin vor, die mich mit würdevoller Freundlichkeit empfing. Ich spielte die Konstanze in der »Entführung« und noch eine andere Opernrolle, wurde aber an weiterer Tätigkeit durch das Wiederauftreten der Dresdner Halsentzündung gehindert. Ich genoß die beste Pflege, teils durch mein eigenes Dienstmädchen, teils durch die Fürsorge der Fürstin, die mir einen guten Arzt sandte und oft selbst die Vorhänge des Bettes zurückzog, um nach mir zu sehen. Nach fünf Wochen durfte ich die Rückreise antreten. Der Herzog hatte Frau v. Löwenstern eingeladen, ihren Sommeraufenthalt in Ettersburg zu nehmen; ich akzeptierte[135] ihre dringende Aufforderung, ebenfalls eine Zeit dort zuzubringen und in dem balsamischen Hauch des Waldes meine Gesundheit zu stärken, zumal die Bühne wegen des Gastspiels der Gesellschaft geschlossen war. Die Bekannten und Freunde aus der Stadt fanden in einer Stunde Wegs kein Hindernis, uns mit ihrem Besuche zu erfreuen, und täglich sahen wir von unserer Höhe herab Wagen und Reiter sich dem kleinen Schlosse nähern, wo fröhlicher Empfang und herrlicher Naturgenuß sie erwarteten. War auch ein tiefer Mißmut im Herzen der Frau v. Löwenstern entstanden, so blieb ihr doch die Gegenwart des Fürsten unentbehrlich, der oft bei uns einkehrte. Als die Gesellschaft von Rudolstadt wieder eingetroffen und ich imstande war, meine Theatergeschäfte wieder aufzunehmen, trieben die rauhen Lüfte die Waldbewohner in die Stadt, und der Winter hielt seinen Einzug, um mich in seinem ganzen Verlauf mit mancherlei Gaben zu überschütten. Ich schließe die schönen Geschenke nicht aus, die mir des Herzogs Güte zu Weihnachten und an meinem Geburtstage überreichte; ich hätte sie von keinem Mann annehmen dürfen, aber meinem Landesherrn gegenüber konnte ich meine Festigkeit nicht dadurch bekunden, daß ich sie zurückwies. Seine Gesundheit hatte sich bedenklich verschlechtert, die immer häufigeren Schwindelanfälle deuteten die Ärzte auf einen bevorstehenden Schlagfluß, doch ließ er sich dadurch nicht abhalten, die gewohnten Unterhaltungen im Freien fortzusetzen, die mit Erkältungsgefahr und großer Ermüdung verbunden waren; er machte kleine Reisen auf offener Kalesche, nahm an allen Parforcejagden teil und verschlimmerte dadurch seinen Zustand. Wenn derselbe es nur irgend erlaubte, erschien er aber nach wie vor im Löwensternschen Hause, wo sich inzwischen mehrere neue Erscheinungen eingefunden hatten, teils fremde, teils einheimische. Unter letzteren befanden sich Kotzebue und Amalie v. Imhof; jener las zuweilen seine Stücke vor und war bei allen rührenden Stellen und den beständigen Resignationen seiner Helden selbst so ergriffen, daß er vor Tränen nicht weiterlesen konnte und lange Pausen entstanden, die einen Teil der Zuhörer zum Lachen veranlaßten. Amalie v. Imhof,[136] Hofdame bei der Herzoginmutter, zeichnete sich durch vielseitige Talente, wissenschaftliche Bildung und interessante Gesichtszüge aus, nur liebenswürdig konnte man sie nicht nennen, weil ihr affektiertes und anspruchsvolles Wesen erkältend und befremdend wirkte. Wie in unseren Kinderjahren brauchte sie, immer mit sich selbst beschäftigt, niemanden, es mußte denn ein Objekt sein, dem sie durch Entwicklung ihrer Vorzüge den Pfeil ins Herz zu stoßen beabsichtigte. Die Männer ziehen aber bei jungen Mädchen anspruchslosere anmutige Verdienste glänzenden Kenntnissen und Talenten vor, und so gingen alle, mit denen sie anbandelte, aus dem Kampfe unverletzt oder mit leichter Verwundung hervor. Ein Schweizer Arzt von vorteilhaftem Äußeren, namens Zwingli, fühlte sich auch in allem übrigen geeignet, in den ersten Häusern zu verkehren, und wurde von Böttiger bei Löwensterns eingeführt; es fehlte ihm nicht an Aplomb, mit Sicherheit aufzutreten, und hätte es ihm daran gefehlt, so wären alle Damen bereit gewesen, ihm denselben beizubringen. Mit diesem dreißigjährigen Doktor, einer hohen Gestalt mit großen lichtblauen Augen, der selbst das Bedürfnis empfand, den Reichtum seines Wesens an den Tag zu legen, ließ sich Amalie v. Imhof auf einen Austausch ein und hatte kein höheres Bestreben, als seine Bewunderung zu erregen. Das mißlang ihr indes, wenigstens ersuchte er Frau v. Löwenstern, für ihn ein gutes Wort bei mir einzulegen, und diese fand in dem Angebot seiner Hand das beste Mittel, den obwaltenden Verwicklungen ein schnelles Ende zu bereiten. Das ging mir vollständig wider den Strich, denn ich hatte einen hohen Grad von Eitelkeit an ihm bemerkt, der oft ans Lächerliche grenzte, wenn er sich zum Beispiel zur Unterhaltung mit dem Herzog drängte und ihn in eine Ecke hineinsprach, aus der ihn nur Gewalt befreien konnte. Zuweilen ergab sich derselbe geduldig in die Gefangenschaft und deutete nur mit feinem Lächeln die Taktlosigkeit meines Anbeters an, jedenfalls stand derselbe nicht in der Kategorie, aus der ich mir meinen Lebensgefährten gewählt haben würde. In dieser Abneigung fand Frau v. Löwenstern Neigung oder gar Liebe für den Herzog, sie wurde von inneren und äußeren Stürmen[137] erschüttert, auf die ich nur mit Tränen antworten konnte, drückte mich bald mit der wärmsten Teilnahme ans Herz, ließ sich bald gegen den Herzog bitter aus, gab bald ihrer eigenen Neigung durch einen Tränenstrom Ausdruck. In solchen Momenten schien es mir ein Verbrechen am Herzog, wenn ich mir eine glückliche Zukunft wünschte, und so entschloß ich mich, den Doktor zu heiraten und ließ ihm sagen, daß ich zwar jetzt noch kein Interesse für ihn empfände, aber versuchen wolle, durch nähere Bekanntschaft solches herbeizuführen. Seine Unterhaltung bestätigte nur meine vorgefaßte Meinung; er war gutmütig, geistlos, leer, selbst die Solidität, auf die ich doch ein Recht hatte, wenn ich ihn ohne Liebe heiraten sollte, konnte ich nicht finden. Dafür sprach er beständig von den Vorzügen des Fräuleins v. Imhof, daß ich ihm endlich riet, seine Neigung gänzlich auf sie zu übertragen; er schwur mir unter Tränen, daß sein Herz nur mir gehöre, und ging mit allen Anzeichen tiefster Traurigkeit. Ich eilte zu Goethen, um mich wegen einer Rolle mit ihm zu besprechen, und als ich nach einer halben Stunde auf die Straße trat, klingelte ein Schlitten lustig daher, in dem mein betrübter Dr. Zwingli mit dem glückstrahlenden Fräulein von Imhof Platz genommen hatte; mit ironischem Blick und tiefer Verbeugung erwiderte ich seinen etwas befangenen Gruß, und als er später bei mir ein trat, gab ich ihm lachend seine Freiheit zurück, an die ich ohnehin noch keine Ansprüche gemacht hatte. Auf einem holprigen Acker suchte er sich Ruhe zu erreiten und stürzte so unglücklich, daß er wochenlang daniederlag und unter Beisein Böttigers sein Testament machte. Er hat sich wieder erholt und ist lange nachher in Zürich gestorben, wahrscheinlich nach Widerruf des mir zugedachten Legats von fünftausend Talern.

Die Rolle, von der ich eben sprach, war die Thekla in Wallensteins zweitem Teil, dessen Leseproben in Goethes Hause abgehalten wurden. Der Charakter tritt schon in dieser Abteilung so entschieden auf, daß ich mir kein allzu großes Verdienst zuschreibe, Schillern vollständig zufriedengestellt zu haben. Goethe hat sich wahrscheinlich ausgeschwiegen, denn die hilfsbedürftigen Talente waren ihm immer angenehmer[138] als die, welche aus sich selbst zu schöpfen vermochten, diese Thekla wollte ich aber nach keiner fremden Ansicht, sondern nur nach meinem Gefühle gestalten. Ich sah der Fortsetzung des Trauerspieles, dem Tod Wallensteins und dem Schicksal der Liebenden mit leidenschaftlicher Ungeduld entgegen und empfing endlich meine Rolle mit Zittern und Zagen, als wenn in ihr die Entscheidung meines eigenen Schicksals enthalten wäre. Aus den Stichworten konnte ich anfangs nichts erkennen, desto mehr erschütterte mich, was ich, ohne den Zusammenhang genau zu wissen, aus der Unterredung mit dem schwedischen Hauptmann entnehmen konnte, und weinte über Maxens Tod lange und bitterlich. Aber auf dem Theater benetzte ich das Grab des gefallenen Helden nur mit verhaltenen Tränen und erlaubte Wallensteins starker Tochter nur einmal, sich dem Schmerz maßvoll hinzugeben. Wie ich in diesem ersten Moment die Rolle empfunden habe, so stand das Bild, das ich zu geben hatte, fest und unveränderlich in meiner Seele; ich versichere, daß ich sofort darüber im klaren war, wie tief Thekla ihren Schmerz zu empfinden und wie maßvoll sie ihn zu äußern hatte. Hätte sich das Ideal dieses Charakters nicht schon in mir selbst gestaltet, so würde ich es in unserer Prinzeß Karoline versinnlicht gefunden haben. Wie einst Wieland, als ich seinen Elfenkönig verkörperte, ausrief: »Das ist mein Oberon«, so sagte Schiller: »Das ist meine Thekla«, und nannte mich lange sein Liebesprinzeßchen. Nach der ersten Vorstellung wohnte ich an seiner Seite einem vergnügten Abendessen im Kreise mehrerer Freunde bei Frau v. Wolzogen bei.

Alles übrige hatte sich wenig verändert. Besuche am Hofe und Reisen in militärischen Angelegenheiten nahmen öfter das Interesse des Herzogs in Anspruch, und seine unbeschreibliche Vielseitigkeit beschäftigte außer den politischen Angelegenheiten seinen tatendurstigen Geist: bald ging er in die Gewächshäuser, wo er jede Pflanze, jedes Moos, jede Blume kannte, bald in die Gärten und Parkanlagen, bald zu den Professoren der verschiedenen Fakultäten, bald auf die nahen Kammergüter, wo seine Einsicht und sein richtiges Urteil nicht minder glückliche Resultate erzielten, bald verhandelte[139] er mit Künstlern, bald debattierte er mit den Poeten, bald kaufte er Antiquitäten, bald besichtigte er Bilder. Eine Episode aus meinen Erinnerungen beweist, wie das Geringste seiner Aufmerksamkeit nicht entging, die sich auf eine Unzahl hoher Dinge erstreckte. Als wir einst nach Ettersburg fuhren, wohin uns der Herzog zum Frühstück eingeladen hatte, sahen wir ganz von weitem auf der mit dünnem Gras bewachsenen Bergeshöhe wie dunkle Silhouetten auf weißem Hintergrund zwei Reiter langsam vorwärtsziehen, einen nach dem anderen, und erkannten an diesem Gänsemarsch unseren Landesherrn mit seinem Reitknecht. Vor Ettersburg kam er, wieder in langsamem Schritt, auf uns zugeritten, neben dem Pferde ein Schaf am Bande führend, das ein Schäfer seiner Herde unrechtmäßig einverleibt, er an dem Zeichen des Ettersburger Gutes erkannt und mitten aus der Herde herausgeholt hatte. Seine Unpäßlichkeit hatte den Anschein von Lebensüberdruß angenommen, und im stillen sah ich mich als Ursache dieser trüben Stimmung an; die Worte des schwedischen Hauptmanns: »Man sagt, er wollte sterben«, die mich in Theklas Seele so tief erschütterten, steigerten meine Exaltation derart, daß mir oft war, als müßte ich zu seinen Füßen stürzen und ihn bitten, mein Lebensglück als Opfer für das seine anzunehmen. So wenig ich über seine Gesinnungen im Zweifel sein konnte, ward doch jede Ungewißheit durch einen Brief weggeräumt, in dem er aussprach, daß er nach langer Prüfung zu der Überzeugung gekommen sei, nur ich könne das Glück seiner älteren Tage machen, daß er seine Gemahlin verehre, aber wegen Verschiedenheit der Charaktere von jeher ein liebeleeres Leben mit ihr geführt habe, daß er sich endlich nach häuslichem Glücke sehne und nach einem Wesen verlange, an das er sich gemütvoll anlehnen könne. Er müsse sich das Zeugnis geben, ein solches Glück zu verdienen, da er sich aus dem wilden Treiben seiner Jugend manches Gute gerettet hätte, das ihn der Achtung der Welt würdig mache, um ihm für den Rest seiner Tage die Ruhe zu gönnen, die er nur durch mich erlangen könne. Ich möge nun über sein Schicksal entscheiden; könne ich seine Wünsche nicht erfüllen, so bleibe ihm nur eine Aussicht, und zwar die, welche ihm seine[140] schlechte Gesundheit eröffne. Schrecken und Schmerz überwältigten mich, als das lange Gefürchtete, was sich bislang hinter gefälligen Formen versteckt, zuweilen in weite Ferne geflüchtet hatte, in seiner ganzen Größe vor mir stand und ich dem Fürsten, dem ich gern mein Leben dahingegeben hätte, die ersehnte Hoffnung nicht erfüllen, das gewünschte Glück nicht gewähren konnte. Frau v. Löwenstern gegenüber schwieg ich über das Ereignis, weshalb ich mich aber nicht mit meinen Eltern aussprach, kam daher, daß eine Warnung vor einem Verhältnis zum Herzog mir nichts Neues geboten, eine Begünstigung desselben mir die Achtung genommen hätte. Sicher billigten sie des Fürsten Wünsche nicht, konnten mich weder beruhigen, noch einen Ausweg angeben, und so suchte ich mein Schicksal selbst zu bestimmen. In meiner Antwort ließ ich mich von den Eingebungen des Verstandes leiten, denn würde ich dem Herzen gefolgt sein, so würde der Anteil an seinem Wohl der Absage widersprochen haben, die ich auf die Gefahr, sein mir unentbehrliches Wohlwollen zu verlieren, nicht zurückhalten durfte. Ich hatte in Mannheim durch lebende Beispiele, Lektüre und Gespräche den richtigen Begriff über ein solches Verhältnis und nach meinen Grundsätzen beinahe einen Abscheu davor bekommen; ich stellte dem Herzog also vor, daß ich es nicht ertragen würde, in den Augen der Welt erniedrigt dazustehen, und in meinem Schmerze ihm keine ruhige Zukunft gewähren könnte, während er sich Vorwürfe machen müßte, mein Lebensglück zerstört zu haben, daß ich für ihn zu sterben bereit sei, aber nie mich zur Preisgabe von Ruf und Ehre verstehen würde. Damit sagte ich den vergangenen schönen Tagen Valet, in denen ich mich sorglos seiner Huld erfreuen durfte, und weinte ihnen bittere Tränen nach. Wenn ich auch nicht hoffen konnte, diese schmerzhaften Eindrücke abzuschütteln, wünschte ich mir, Diana möge mich in eine Wolke hüllen und in ein fremdes Land versetzen; mochte der Herzog seine Gesinnungen ändern oder dabei beharren, ich sah nur eine freudenleere Zukunft vor mir, und die Rettungspläne, die ich mit meiner Schwester, der Vertrauten meiner Sorgen, entwarf, scheiterten alle an der Bedingung, das Weh des Fürsten nicht[141] zu vermehren. Übrigens war meine Lage das Geheimnis der ganzen Stadt; Damen, die der Herzogin nahestanden, überbrachten mir die Äußerung, daß ich ihr am angenehmsten wäre, wenn ihr Gemahl solch ein Etablissement errichten wolle; Männer von Ehre und Gewicht, in deren Familien ich verkehrte, versicherten mich ihres Dankes, wenn ich es über mich bringen könnte, aus eigener Initiative zuzustimmen. Der eine hatte den Herzog still und verstimmt gefunden und wußte, was ihm Gesundheit und Heiterkeit zurückgeben würde, ein anderer warnte, da der Herzog in puncto Weiber kein Gewissen habe und mich wie eine ausgepreßte Zitrone beiseite werfen könnte, ein dritter sah mich am Abgrunde, ein vierter einsam und verlassen, weil niemand nach Verlust meines guten Rufes mehr mit mir umgehen würde. Der Hofkammerrat und seine Damen ermahnten mich zum Widerstand und wandten mir erhöhte Achtung und Gunst zu, als sie mich entschlossen sahen, mir treu zu bleiben, am allerlebhaftesten besprachen aber die jungen Mädchen meiner Bekanntschaft die Situation, und jede sann auf Schutz und Rettung. Bald sollte ich mich entführen, bald dem Herzog an die linke Hand trauen lassen, bald durchgehen, bald mit dem Fürsten Gutes wirken, am Ende blieb ich aber so hilflos wie zuvor. Wäre mir die Ruhe des Fürsten gleichgültig gewesen, hätte ich das Rettungsmittel bald gefunden, denn alle Bühnen Deutschlands standen mir offen, Riga bot mir 2600 Taler, Iffland hätte mich sofort aufgenommen, und anderswo würden sich mir rasch Chancen eröffnet haben; aber ich hatte den Herzog lieb und hätte mir ewig Vorwürfe gemacht, wenn ich ihn gekränkt und sein Theater plötzlich verlassen hätte. Da ihn Übelbefinden an zwei Abenden von Löwensterns ferngehalten hatte, sah ich ihn nach meiner Antwort erst im Hofkonzert wieder, wo sich mein Publikum in heiterster Stimmung in meiner Nähe versammelte, bei mir jedoch Ernst und Verstimmung an Stelle der früheren beinahe mutwilligen Heiterkeit obwaltete. Ich gab mir alle Mühe, in den scherzhaften Ton zurückzukommen, aber die Melancholie, die zu einem Teil meines Charakters geworden war, wich nicht zurück, zumal der Herzog einen düsteren Blick auf mir ruhen ließ.[142]

Ende Juni 1799 erfreuten der König und die Königin von Preußen, denen sich die reizende Prinzeß Taxis angeschlossen hatte, unser herzogliches Haus mit ihrem Besuche; Frau von Löwenstern, die einigen Hoffesten beigewohnt hatte, konnte mir nicht genug von der Heiterkeit des Herzogs erzählen und dem Entzücken, das ihm Reiz und Liebenswürdigkeit der Fürstin v. Taxis erregt hatten. Wenn auch nicht erfreut, fühlte ich mich doch beruhigt durch den Gedanken, daß er nun selbst einsähe, wie es Gegenstände außer mir gäbe, die sein Herz auszufüllen vermöchten. Die beiden Fürstinnen bezauberten allgemein und verdunkelten auf dem Hofball alles, was Anspruch auf Schönheit machen konnte; mit dem Mut der Überlegenheit hatten sie in ihrer Toilette Jahrtausende übersprungen und die Modelle ihres Kopf- und Leibschmucks vom Parnaß geholt, daß sie wie wandelnde Antiken erschienen, von dem holdseligsten Leben der Gegenwart erfüllt. Unter die Feste dieser Tage gehörte auch die Aufführung von Wallensteins Tod (2. Juli), der damals außer in Weimar noch nirgends gegeben war; während eines Zwischenaktes kam Goethe in seidenem Galakleid mit Degen und Chapeaubas in strengster Haltung auf die Bühne, um mir zu verkünden, daß mich die Königin morgen früh zu sehen wünsche. Ich zog mein schönstes Kleiden, dessen einfachen Fonds der schweizer Weber durch Blumenkränze unterbrochen hatte, während ich die Taille mit einem weißen Atlasband umgürtete, mit dessen langen Enden der Zephir sein Spiel treiben konnte. Die böse Dresdner Kopfrose hatte mir die rötlichen Haare genommen; mit den dunkelblonden Locken war noch nichts aufzustecken, ich ließ ihnen also die Freiheit, sich selbst mit Kopf und Nacken zu ennuyieren. Mein Weg führte mich über den Markt, wo ein Korb mit Blumen feilgeboten wurde; ein Bukett mit halbgeöffneten Rosen blickte so lieblich und duftig zu mir auf, daß ich nicht widerstehen konnte, es zwischen dem Gürtelbande zu befestigen, und, durch die Berichte der Frau v. Löwenstern beruhigt, ging ich mit lange nicht empfundener Freude der schönen Stunde entgegen. Die Königin überhäufte mich mit Güte und dem Lobe über meine Thekla, in das ihre Schwester einstimmte, erinnerte mich auch an[143] mein Versprechen, bald wieder nach Berlin zu kommen; aber es war die Stunde des Abschieds, und während der holde Mund die freundlichsten Worte sprach, ergossen sich bittere Tränen aus den schönen Augen.

Nachdem die Verhältnisse wieder in ihren gewöhnlichen Gang zurückgekehrt waren, entschwand auch das Entzücken des Herzogs, das mir Frau v. Löwenstern berichtet und ich mit so viel Hoffnung aufgenommen hatte. Ihre Familie hatte die Abreise von Weimar auf einen nahen Zeitpunkt festgesetzt, und der Herzog wurde dadurch einer angenehmen Gewohnheit und der Gelegenheit beraubt, mit mir zusammenzukommen. Unbegreiflich, daß er in einer Zeit von beinahe zwei Jahren nicht über den Herzenszustand seiner Freundin ins klare gekommen war, genug, er wählte gerade sie, um sich über seine Gedanken und Gefühle mir gegenüber auszusprechen. In der Hauptsache waren mir dieselben bekannt, nur die Motive seines Eingriffs in ein blühendes und hoffnungsreiches Menschenleben hatte er in seinen Briefen nicht berührt. Er fürchtete, daß ein Mädchen von meiner Lebhaftigkeit und Schwärmerei sowie gänzlich mangelnden Welterfahrung die Beute eines Mannes werden würde, der, statt ihr Beschützer zu werden, die Früchte ihres Talents genießen wolle, und daß ich so traurig enden würde wie ich glänzend angefangen hätte. Er dagegen wolle mich vor allen Zufällen sicherstellen, und was die Achtung der Welt beträfe, auf die ich so großen Wert zu legen schiene, so hänge sie von den Umständen und von den Personen ab, so daß man ein wahres Glück nicht Bedenklichkeiten opfern dürfe, die man selber zerstreuen könne. Obwohl meine Liebe – ich brauche dieses Wort, obwohl es die komplizierte Empfindung nicht wiedergibt – durch diese Mitteilung noch erhöht wurde, stiegen andererseits Angst und Betrübnis derart, daß ich dem Herzog durch Frau v. Löwenstern mitteilen ließ, trotz aller seiner Fürsorge könne ich meinen Entschluß nicht ändern und wolle eher sterben, als mich in den Augen der Welt erniedrigen. Wahrscheinlich führte sie den Auftrag schonend aus, ohne ihm die Hoffnung ganz zu nehmen, genug, er schrieb mir wieder, indem er die Verzweiflung einer glühenden Liebeoffenbarte, die seinem Leben den einzigen Wert gebe. Schon wollte ich das Schreiben ungelesen zurücksenden, stand aber doch von diesem Äußersten ab, kopierte es als teures Andenken und stellte es ihm bei seiner Rückkehr von einer Inspektionsreise mit der Bitte zu, mir nicht ferner zu schreiben, um mich nicht meinerseits zur Verzweiflung zu treiben. Von da an hatte ich keinen frohen Augenblick mehr, meine Augen wurden nicht mehr trocken; auch auf dem Theater nicht, wo mir der gute Becker fröhlichen Andenkens ein trostreicher Freund wurde und mir Mut einsprach, wenn ich, Tränen im Auge, scherzend und lachend die Szene betreten mußte – ich habe es ihm nicht vergessen und konnte es ihm später vergelten. So lästig ihr die Gesellschaftsabende unter diesen Umständen wurden, wollte Frau v. Löwenstern bis zu ihrer Abreise doch keine auffallende Veränderung eintreten lassen, und der Herzog folgte seiner Gewohnheit; aber die Stimmung blieb gespannt, und die Angst, durch ein freundliches Wort oder meine Befangenheit noch nicht ganz entschlafene Hoffnungen aufzuwecken, brachte mich in solche Verwirrung, daß ich endlich glaubte, mich nur durch den Tod zu retten – nicht vor einem Verhältnis, das ich unter keinen Umständen eingehen wollte, sondern – vor dem Schmerz über die Unmöglichkeit, das zu gewähren, was der Fürst das Glück seines Lebens nannte. Die Freude über diesen Ausweg war so lebendig, daß ich die Bäume umarmte, an mein Herz drückte und die Natur um so schöner fand, je unabweislicher es mir ward, sie verlassen zu müssen.

Ich war in einer beständigen Exaltation, die Hofkonzerte wurden mir durch die schmerzlichen Eindrücke peinlich. Wenn ich die Bedienten oder Hofleute in ungewöhnlicher Bewegung sah, der Herzog vor Beendigung der Kur den Saal verließ oder mir von befreundeter Seite gemeldet wurde, man habe nach dem Arzt geschickt, begann für mich ein Zustand, der den Streit zwischen Vorwürfen und Grundsätzen zu einem hoffnungslosen machte. Einmal trat der Herzog zu mir und sagte mir, es könne so nicht weitergehen, er müsse mich sprechen. In einer Unterredung glaubte ich ihn von der Tiefe und Natur meiner Neigung überzeugen, Aufschluß über die Ungleichheiten meines Betragens geben, seine Ansichten widerlegen[147] zu können, und so bat ich ihn im Bewußtsein meines reinen Willens, nach dem Hofkonzert zu mir zu kommen. Von diesem Augenblick an fühlte ich mich frei von der Last, die mich so lange bedrückt hatte, nicht von ihm losgerissen, sondern losgesprochen, da ich mir einbildete, daß er, von meiner ewigen Dankbarkeit und Ergebenheit überzeugt, sich selbst überwinden würde. Nicht ohne Beklemmung, aber mit mehr Freude als Angst, erregt von meinen Illusionen, aber ehrfurchtsvoll und demütig sah ich in meiner Konzerttoilette dem Eintritt meines Gastes entgegen. Mag es Folge meiner gedrückten Kindheit oder ein angeborener Charakterzug sein, ich war immer verlegen, wenn ich Vorzüge, die man in mir zu finden glaubte, rechtfertigen sollte; so hatte mich auch das Bewußtsein, wie wert ich dem Herzog war, nicht zu der Überlegenheit erheben können, mit welcher der Sieger dem Besiegten gegenübertritt. Nur hatte das so lange andauernde Verhältnis meiner Liebe einen Ernst und eine Tiefe gegeben, die, ganz verschieden von dem, was man Leidenschaft nennt, dennoch derselben die Wage hält. In dieser tiefbewegten Stimmung hieß ich den Herzog willkommen, war glücklich, ihm meine Handlungsweise verständlich zu machen, und wiederholte, daß ich für ihn sterben möchte (was ihm keinen Eindruck zu machen schien), aber seine Wünsche nicht erfüllen könne, freilich mich auch nicht gewaltsam loszureißen vermöge, weil der Gedanke, ihn gekränkt zu haben, mir unerträglich sei. Er möge doch einsehen, daß seine Empfindung für mich größtenteils in seiner Imagination bestehe und durch die Schwierigkeiten, die ich ihm in den Weg legte, vergrößert worden sei; wenn er sie überwinde, werde er tausendmal zufriedener sein, als wenn er mich durch seine Schuld unglücklich sehen müßte. Er erwiderte, das Gefühl, das ihn an mich fessele, bedeute Leben oder Tod, meine Grundsätze beruhten auf den allgemeinen Begriffen, aber die Umstände forderten zuweilen Ausnahmen und die vorliegenden besonders. Jung, unerfahren und unbesonnen, würde ich Eindrücke über meine Wahl entscheiden lassen und das Opfer eines Unwürdigen werden, wie das gerade in meiner Sphäre oft vorkomme. Bliebe ich dagegen bei ihm, so mache ich das Glück[148] eines Menschen, der es nicht unwert wäre, daß man ihm Bedenken opfere, die sich in dem Bewußtsein einer guten Handlung verlören. Übrigens wäre es eine Rechtfertigung vor der Welt, daß seine Gemahlin aufrichtig wünsche, meine Neigung möchte mich ihm zuführen, mir also nicht feindlich, sondern wohlwollend gegenüberstehe. Je wärmer und eindringlicher der Herzog sprach, desto größere Gewalt tat ich mir an, keine Nachgiebigkeit zu zeigen; ein einziges Wort, sagte ich mir, kann dich verderben, und beharrte bei meiner Bitte, mich ziehen zu lassen. Endlich fragte mich der Herzog, ob es meine Begriffe von Ehre befriedigen würde, wenn ich mich ihm an die linke Hand trauen ließe, ich erklärte das für eine Form, die das Unerlaubte nur schlecht bedecke, und wies sie weit von mir. »Nun«, schloß der Herzog, »ich habe versuchen wollen, ob der Himmel mir noch ein Glück gönnt, das mir meine Existenz wert machen könnte; ohne eine solche Aussicht halte ich es in dem beschränkten Wirkungskreise und den erkaltenden häuslichen Verhältnissen nicht mehr aus; ich werde in russische Dienste gehen und meiner Frau die Regentschaft übertragen, das Land wird sich wohl dabei fühlen, und ich finde eine angemessene Tätigkeit oder das Ende eines reizlosen Lebens.« Aber wie fest ich auch dem Edelmut und der Wahrheitsliebe des Herzogs vertraute, konnte ich doch den Gedanken nicht abweisen, diese letzte Erklärung solle meine Beharrlichkeit dadurch erschüttern, daß selbst das Wohl des Landes von mir abhängen sollte. Diese Nuance von Mißtrauen erlaubte mir zwar die Bitte, das schreckliche Projekt nicht auszuführen, aber sie bewahrte mich vor einem Versprechen, das sich schon auf die Lippen drängen wollte. Der Herzog verließ mich mit großer Niedergeschlagenheit, und ich war durch die Aussprache nicht erleichtert, sondern zu der schmerzlichen Überzeugung gedrängt, ich müsse fort, und der Herzog werde darüber zugrunde gehen. Bei dem Austritt aus unserem Hause, erzählte er mir später, empfing ihn der Leichenzug der Gräfin Marschall, er mußte, um nicht erkannt zu werden, mitgehen und konnte erst, als die Straße breiter wurde, unbemerkt aus der Reihe treten und den Weg nach dem Schlosse einschlagen.[149]

Seit einiger Zeit hatte sich der Sänger Schulz mit Frau und Kind in Weimar aufgehalten; in Wien engagiert und auf der Reise dahin begriffen, machte er mir den Gedanken rege, mich ihm anzuschließen, um Wien und seine Künstler kennen zu lernen und Betty Koch wie meinen Bruder zu besuchen. Der arme Schulz war so brustleidend, daß schwer zu begreifen war, wie er sich die Reise und in Wien die Stellung als erster Tenor zutrauen konnte. Einen Urlaub auf sechs Wochen verdankte ich dem Machtspruch des Herzogs, der gern sah, daß sich mein Talent durch neue Eindrücke erfrischte und meine Phantasie durch neue Bilder belebte; vielleicht wollte er auch sehen, ob das seinige die Konkurrenz bestand und wie sich das weimarische Theater ohne mich behalf. Über die Reise bis nach Prag ist nichts zu berichten; dort konnte Schulz seiner Spielleidenschaft nicht widerstehen und gab den Karl Ruf in der »Schachmaschine«, und zwar trefflich; er hatte aber seine Kräfte überschätzt und wurde tags darauf von einem Blutsturz befallen. Der Wagen durfte sich nur schrittweise vorwärtsbewegen, in einem elenden böhmischen Dorf mußten wir drei, in Znaim zwei Tage liegen bleiben, und als wir endlich in Wien ankamen, war Baron v. Braun noch in Karlsbad und Madame Roose auf dem Lande. Ich brachte meine Zeit in Familien zu, mit denen mich mein Bruder bekannt machte, besuchte das Theater, und als Schulz sich wohler fühlte, begleitete ich ihn zu dem Intendanten, der ihm Vorwürfe über sein Prager Debüt und seine Invalidität machte und auch mich seine gereizte Stimmung kosten lassen wollte, bis er sich meines Berliner Sukzesses erinnerte und mir Gastrollen anbot. Ich besuchte mit meinem Bruder den Komponisten Salieri, einen kleinen Mann in den fünfziger Jahren von verbindlichem Wesen sowie regelmäßigen und geistvollen Zügen, der mit mir später die große Arie der Susanne im letzten Akte des Figaro durchging und mich dadurch wesentlich förderte. Stürmisch aber schlug mein Herz Betty Koch entgegen, die ich in Hietzing aufsuchte, wo ihr Gatte, ein junger Mann mit großen runden Augen, glänzend glattem Gesicht und unverbindlichen Manieren, ein trefflicher Darsteller junger Bauern und in diesem Fache ein großer Liebling der Wiener, mir bereits die Überzeugung[150] aufdrang, daß das ideale, poetische Mädchen in die vollkommenste Prosa übergegangen war. Sie empfing mich, als ob wir uns vor kurzer Zeit getrennt hätten, und brachte meinen Tränen kein Verständnis entgegen; in der großen Welt hatte sie den Blütenstaub ihrer früheren Tage, das Zartgefühl und die sanfte Weiblichkeit eingebüßt, so daß ich statt der liebenswürdigen Betty Koch mit Madame Roose, einer Frau von festem und sicherem Auftreten, vorlieb nehmen mußte. In Wien besuchte ich mit ihr die Kunstläden und erlebte bei der Besichtigung eines Chambre garni eine merkwürdige Szene; die bisherige Bewohnerin trat ihr starr gegenüber, und ihre feindliche Stellung war gleichfalls nicht zu bezweifeln. Bald löste sich die Versteinerung, und beide Frauen ergossen sich in so bitteren Anzüglichkeiten, daß ich zur Türe drängte, die der Besucherin wiederholt gewiesen wurde. Wären die Damen Weiber aus dem Volke gewesen, würde ich mich nicht gewundert haben, aber die eine war die holde Mannheimer Jugendblüte und die andere die Gräfin Lichtenau, die ehemalige Beherrscherin eines königlichen Herzens und jetzige Geliebte eines jungen Troubadours, der sich Fontano nannte und die hübsche Madame Roose ihr vorzog. Zu meinen angenehmsten Wiener Bekanntschaften gehörte das Arnsteinsche Haus und der Arzt Frank mit seiner jungen Frau, geborenen Gherardi, einer brillanten Erscheinung im Reiche des Gesanges; eben im Begriff, mit dem berühmten Marchesi in Italien aufzutreten, reichte ihr Dr. Frank die Hand, beides liebenswürdige Menschen, die mich zärtlichst liebten und in Ausbildung des Gesanges unterstützten. Die Familie Arnstein bewohnte eine Gartenwohnung in der Nähe der Stadt, nahm mich mit großer Artigkeit auf und verdoppelte dieselbe nach meinen glücklichen Debüts. Frau Baronin Arnstein, Frau Baronin Eskeles, ihre Schwester, und Henriette, ihre Tochter, zeigten im Äußeren ganz den Zuschnitt der Frauen aus dem Alten Testament, auch gelang es ihnen nicht, den eigentümlichen Dialekt ihrer Nation ganz zu überwinden, doch wurde das Frappierende durch Eleganz in Formen und Haltung vollständig ausgeglichen. In ihrer sehr hübschen Behausung sah man täglich Fremde aus allen Ländern, auch Lord Nelson mit der durch[151] ihre Attitüden bekannten Lady Hamilton wurde erwartet. Nach vielen Stunden der Ungewißheit, ob die Herrschaften der Einladung Folge leisten würden, erschienen sie endlich; Nelson, ein kleiner, magerer Mann mit einem Auge und einem Arm, dem man den Helden nicht ansah, Lady Hamilton, eine hohe, stattliche Gestalt mit dem Kopfe einer Pallas, hinter ihm drein, seinen Hut unter dem Arme tragend. Sie blieben den ganzen Abend und ließen ihre Wirte in der größten Satisfaktion über die ihnen gewordene Ehre zurück.

Ich begann mein Gastspiel mit der Susanne im »Figaro« und wurde durch eine unvermutet warme Aufnahme ausgezeichnet. Die Wiener sind bekanntlich in ihrem Enthusiasmus halbe Italiener, und dieser erhielt mich den ganzen Abend in einer rauschähnlichen Erregung, in der alles gelingt; wenn der Darsteller die tönende Seite in den Gemütern trifft, entsteht ein geheimer Rapport mit dem Publikum, und diese Harmonie spornt die Kräfte zur höchsten Anstrengung. Wie mein Schicksal stets in Extremen verlief, so nahm ich auch alle Erlebnisse mit lautem Jubel oder tiefem Schmerz auf; diesmal konnte aber nur von extremer Freude die Rede sein, denn bei jedem Auftritt während der Vorstellung ward ich mit Applaudissement empfangen und am Ende der Oper stürmisch hervorgerufen. Ein angenehmer Vorteil erwuchs mir daraus, daß Madame Galvani, erste Sängerin und eine sehr schöne und liebenswürdige Frau, seit langem vergeblich um Urlaub angehalten hatte, um nach Venedig zu gehen, wo ihr Mann als Kaufmann etabliert war; durch meine Anwesenheit war ihr Platz ausgefüllt, wie ich nicht ohne Stolz bemerken darf, und aus Dankbarkeit bot sie mir ihre sehr schön eingerichtete Wohnung in der brillantesten Lage an, mit Benutzung aller häuslichen Einrichtungen. Ich spielte noch einmal im »Figaro«, dann noch viermal die Roxelane in den »Drei Sultaninnen« und setzte mich bei dem Publikum so in Gunst, daß Baron Braun mir Anerbietungen machte, die das Weimarer Gehalt fünfmal überstiegen, und man allgemein wünschte, ich möchte mich in Wien engagieren. Daß ich aus Weimar scheiden mußte, blieb mir klar, aber ich wollte es nicht auf eine Weise, daß der Herzog glauben sollte, ich verlasse ihn und sein Theater, weil ich[152] anderswo besser bezahlt würde, er, leidend und lebenssatt, sollte mich nicht für glücklich halten. Die Frage, in welchem Erdenwinkel ich mich verbergen sollte, hatte mich während meines Wiener Aufenthalts beständig beschäftigt und die berauschenden Momente des Beifalls getrübt. Nun reiste ich aus dem Genuß von Ehre und Auszeichnung in mein kleines Weimar zurück, von der Seite bedeutender und angenehmer Künstler zu größtenteils absurden Talenten, von glänzenden Verhältnissen zu gedrückten Umgebungen. Mein an Leidenschaft grenzender Ehrgeiz hatte eine Befriedigung gefunden, wie sie die Heimat nicht im entferntesten bieten konnte, wenn auch meine Illusionen, die das Edelste für selbstverständlich hielten, mich insofern getäuscht hatten, als Baron Braun, dem ich volle Häuser gemacht hatte, mir mangels eines vorher abgeschlossenen Kontraktes ein mittelmäßiges Honorar übersandte. Immerhin konnte ich mir einen hübschen Wagen kaufen, in dem ich mittels Extrapost die Rückreise rascher und bequemer zurückzulegen hoffte als die Hinfahrt. Der Abschied von Wien ging mir nicht so nahe als der von Berlin, doch hatte ich viel erlebt und gesehen, was während der Reise in einzelnen Bildern an mir vorüberging und in stiller Betrachtung erst recht genossen wurde. Das Schauspiel hatte mir keine bedeutenden Eindrücke hinterlassen, desto mehr die Oper, in der ich die Paer mehrfach gesehen und zu meinem Ideal in Spiel und Gesang gemacht hatte. Ebenso bedeutenden Einfluß auf mein Talent hatte Demoiselle Cessentini gewonnen, die Zierde des Balletts, deren mimische Kraft, graziöse Bewegungen und großartige Darstellungsweise meinen Horizont erweiterten. Dem unwiderstehlichen Verlangen, meine künstlerischen Fähigkeiten auf den möglichsten Grad der Vollendung zu bringen, war kein Beitrag zu gering, und wer sucht, der findet; Nuancen, Momente, Bilder, die tausend Künstlerinnen nicht bemerken, faßte ich mit Begier auf und verwandte sie bei meinen Aufgaben. Still in die Ecke meines Wagens gedrückt, verteilte ich meinen größeren und kleineren Gewinn auf meine Rollen, schmückte damit Stellen aus, die bisher ohne auffallende Wirkung vorübergegangen waren, und hätte gleich einen Sprung aus dem Wagen tun mögen, um meine Ideen zu entfalten.[153] Die ersten Tage brachte mir dieses Phantasiespiel hinlängliche Unterhaltung, allmählich gingen aber die in buntem Farbenglanz prangenden Bilder in Tagesbeleuchtung über, die mehr Klarheit als Glanz verbreitet, und von der idealen Kunstbühne wurde ich zu Leben und Wirklichkeit zurückgeführt. Je näher ich der Heimat kam, um so mehr ertappte ich mich auf bekannten Empfindungen und unausgetragenen Stimmungen.

Jedesmal, wenn ich von meinen Reisen heimkehrte und der erste Grenzstein mit dem verschlungenen C.A. das weimarische Gebiet ankündigte, fühlte ich mich von einer milden Luft umweht, die im Abendwind sich neigenden Bäumchen, die wogenden Saaten auf den Fluren brachten mir ihre Willkommengrüße, die bekannten Stellen erfüllten mich mit einer weichen Stimmung, und die liebe Stadt mit dem grünen Turme und den schlanken Pappeln verkündete mir eine glückliche Zukunft. Auch diesmal war mein Herz bewegt, aber die Natur hatte einen wehmütigen Charakter angenommen, die Bäumchen am Wege streckten ihre Kinderarme flehend zu mir aus, die grünen Wiesen flüsterten mir Worte treuer Anhänglichkeit ins Herz, und die grauen Mauern erzählten von Gram und Herzeleid. Der Ruf meiner Erfolge war auch hierher gedrungen, ich mußte von meinen Erlebnissen erzählen und unterhielt mein Publikum, das große und das kleine, so angenehm, daß es mir das gewohnte Wohlwollen äußerte, auch Frau v. Löwenstern, die, mit den Zurüstungen zu ihrer Abreise beinahe fertig, mit ihren Gefühlen ins reine gekommen schien oder sich mit großer Kraft beherrschte. Aber ein trüber Geist hatte die Oberhand, die Lage hatte sich so zugespitzt, daß man wie bei einem hoffnungslosen Kranken die Auflösung für das beste hielt, so betrübt man ihr entgegensah. Löwensterns reisten ab, um zunächst noch in den Rheingegenden zu weilen; der Verlust ward allgemein tief empfunden, am tiefsten vom Herzog, es entstand eine große Lücke. Ich kam dadurch meinen Freunden wieder näher, den Herzog dagegen sah ich nur im Theater und höchst selten in den Hofkonzerten, da ich die Mitwirkung unter verschiedenen Vorwänden zu vermeiden suchte. Auch ging ich selten aus und brachte ein trauriges Leben zu,[154] ungeduldig auf die Ankunft einer Sängerin wartend, die meine Stelle ausfüllte, damit ich endlich verschwinden konnte. Auch der Hofkammerrat sah darin meine einzige Rettung, vertröstete mich von einem zum anderen Tag, berichtete mir aber ebenso regelmäßig, wie leidend und verstimmt er den Herzog gefunden hatte und mit welcher Weichheit und Güte er meiner gedachte. Inzwischen hatte ich mit meiner Schwester ein Projekt ausgearbeitet, das die schweren Bedingungen erfüllen sollte, die mein Gefühl mir auferlegte. Ich wollte aus der Welt verschwinden, mich aufopfern, ohne meine Ehre zu gefährden, alle Prätentionen von mir werfen, in der Schweiz oder den Alpen eine Bäuerin werden, mich mit der heiligen Erinnerung an den Herzog und dem erhebenden Bewußtsein meiner Selbstüberwindung der herrlichen Natur ans Herz werfen. Wie Thekla, wenn sie zum Grabe Max Piccolominis schleicht, dachte ich nicht an Vater und Mutter; sie sollten nicht wissen, was aus mir geworden war, nur mein Bruder sollte es erfahren und meine Schwester, deren schöne Stimme sich immer vorteilhafter entfaltet hatte, mich begleiten. Von einem Urlaub, an dessen Gewährung ich nicht zweifelte, wollte ich nicht mehr zurückkehren; kaum aber, daß ich die Einzelheiten dieses phantastischen Planes in Erwägung zog, wurde er durch einen Brief des Herzogs über den Haufen geworfen und ich in die Zeiten des Kummers und der Sorgen zurückversetzt. Eine Unterredung konnte ich ihm nicht verweigern, wenn ich mir auch vornahm, meinen bisherigen Standpunkt zu behaupten.

Ein Umbau hatte mich aus dem Hause meines Vaters vertrieben, und ich war mit meiner Schwester in das Logis gezogen, das Frau v. Löwenstern bewohnt hatte. Wie ich um lieber Erinnerungen willen diese Räume mir zum Aufenthalt erwählt hatte, wurde der Herzog durch dieselben an eine angenehm bewegte Zeit gemahnt, und die Weichheit seiner Stimmung ergriff mich tiefer, als wenn er mir seine Gedanken mit feurigster Beredsamkeit vorgetragen hätte. Nach der Löwensternschen Abreise, sagte er, habe er sich noch deutlicher überzeugt, wie notwendig ich zu seiner Zufriedenheit sei; als ich aber meine Einwände wiederholte, begann er dieselben mit einer Gereiztheit und Bitterkeit zu widerlegen, wie ich sie nie[155] an ihm bemerkt hatte. Sein Gesundheitszustand konnte heftige Gemütsbewegungen nicht ertragen, steigerte sie vielmehr zu bedenklicher Höhe, und so sehr ich entschlossen war, diesen Sturm auszuhalten, drohte doch jeden Moment meine Festigkeit mich zu verlassen. Der nächste Augenblick entschied über alle Bedenken: das dunkle Rot, das sich durch die Erregung über Stirn und Wangen verbreitet hatte, wechselte mit Todesblässe, mitten im Satz sank das Haupt mit geschlossenen Augen in die Kissen des Sofas zurück. Ich ergriff in namenloser Angst die kalten Hände und drückte sie weinend an meine Lippen, nur ein sanfter Druck überzeugte mich vom pulsierenden Leben. Nach geraumer Zeit richtete er sich auf, in mir war aber inzwischen ein Entschluß zur Reife gediehen, ehe er noch ein Wort an mich richtete, rief ich aus: »Was ist an meinem Leben und Glück gelegen, wenn von dem Ihrigen die Rede ist! Ich verspreche, hier zu bleiben!« Den innigen Ausdruck seiner Freude vermag ich nicht wiederzugeben, so wenig wie meine Beruhigung nach den kurzen Worten: »Das ist doch ein Wort, nach so viel trüben Stunden!« Ich aber nahm von Jugend und Glück Abschied. Man wird sich schwerlich in meine damalige Stimmung versetzen können, und ich selber finde mich kaum dahin zurück. Ich weiß nur, daß ich dem Herzog, ehe er von mir ging, den Wunsch aussprach, in Mannheim alle Stellen, die ich in der Unschuld meiner früheren Jahre betreten hatte, noch einmal wiederzusehen; die Menschen waren mir gleichgültig, nur zu den Erinnerungen wollte ich noch einmal den Blick erheben und vom Leben Abschied nehmen. Verstand mich der Herzog, oder wollte er mir in der frohen Stimmung seines Herzens keine Unlust erregen, genug, er stimmte zu, und schon am dritten Tage konnte ich meine Reise antreten.

In der Zwischenzeit sah ich ihn noch einmal; er war damit einverstanden, daß ich mit dieser Reise die Erfüllung eines alten Versprechens verband, an das ich von den guten Richters oft gemahnt wurde, nämlich in Göttingen ein Konzert zu geben. Als ich mich von Frau v. Wolzogen verabschiedete, zeigte sie sich vorurteilsfrei genug, in dem mir vom Herzog zugemuteten Schritte keinen Grund zur Verachtung zu finden,[156] und fügte hinzu, daß sie ihn, ohne mir zuzureden, immer gewünscht habe. Als ich aber schmerzbewegt mitteilte, was zwischen mir und dem Herzog vorgefallen war, änderte sie ihre Ansicht, bedauerte mich und wünschte ein Mittel zu meiner Rettung zu ersinnen. So fiel ich in den Sturm zurück, aus dem ich mich durch meinen Entschluß gerettet zu haben glaubte, und die Reue gesellte sich zu meiner Trostlosigkeit, um allen bisherigen Kummer an Tiefe und Höhe zu übertreffen. In diesem Zustand ging ich zum Hofmarschall v. Luck, dem Manne, der mir oft gesagt hatte: »Ach, wenn Sie es über sich gewinnen könnten!« und erschrak über die Wirkung meiner Mitteilung, daß ich mich dem Herzog versprochen hätte. Die Menschen hatten wohl geglaubt, der Herzog werde ewig schmachten, und ich wie eine Marmorstatue kalt und fühllos den Ausdruck seiner Empfindungen in Empfang nehmen; das endliche Resultat frappierte sie, zumal sie nicht wußten, wie künftig meine Stellung zur Welt und ihre Stellung zu mir sein würde. Frau v. Luck umarmte mich unter Tränen, und ihr Gatte mahnte mich, den Herzog daran zu erinnern, daß er mir ein Sort machen solle, wozu jetzt der gegebene Augenblick sei. Ähnliches hatte Frau v. Wolzogen geäußert, mit dem Bemerken, es könnte vielleicht daraus die Möglichkeit entstehen, mich meines Versprechens zu entbinden; ich selbst machte mir darüber keine Gedanken, ich wußte nur, daß mein Entschluß durch die nachfolgenden Vorgänge beinahe wieder in Frage gestellt worden war.

Von meiner Reise wäre nichts Besonderes zu sagen, wenn nicht die Achse unseres Wagens etwa eine Stunde vor Mühlhausen gebrochen wäre, so daß wir demütig zu Fuße in die Stadt einziehen mußten. Die anderthalb Tage, die wir dort zubrachten, verwandte ich dazu, das Spiel auf der Gitarre zu erlernen, da ich kurz vorher ein schönes Instrument aus Paris bekommen hatte, und das Liedchen »Es ritten drei Schneider zum Tore hinaus«, das wir in »Reiter« umwandelten, hat mit seiner hübschen Melodie in zweistimmigem Satze mit Gitarrenbegleitung auf unserer weiteren Reise Sensation gemacht. Seitwärts von Mühlhausen liegt meines Vaters Geburtsort, Dingelstedt, wo ich in meiner Kindheit bei meinem[157] neunzigjährigen Großvater geweilt hatte; ich fand noch den Lehnstuhl, in dem ich ihn hatte ruhen sehen, und das große Bett mit den grünwollenen Vorhängen am alten Platze. Dann fuhren wir nach Duderstadt, wo Trompeten, Pfeifen und Klarinetten unter Begleitung der jubelnden Gassenjugend von Haus zu Haus zogen und Transporte von Kuchen und dampfenden Bratwürsten einen Vorgeschmack von dem Schützenfest gaben, das nachmittags die ganze Einwohnerschaft auf einer mit Zelten besetzten Wiese vereinigte. Die Jagemänner und -männinnen setzten uns in der fürchterlichsten Hitze derart mit Essen und Trinken zu, daß ich am Ende alle Dankbarkeit und Höflichkeit hintansetzen mußte, um meine Schwester vor dem Übermaß des sauren Weines und dicken Kuchens zu erretten. Am Ausgang des Festlokals präsentierte die Stadtmiliz umschichtig Gewehr und Hut, um die Hand nach einer Gabe auszustrecken, und der gastfreundlichen Zudringlichkeit und den stürmischen Abschiedskomplimenten glücklich entronnen, fuhren wir in den Abend hinein, der uns mit seiner erfrischenden Kühle und duftendem Heugeruch die überstandenen Leiden vergessen ließ. Den nächsten Mittag trafen wir in Göttingen ein, wo uns Frau Hofrätin Richter mit der traurigen Nachricht empfing, daß ihr Gemahl infolge Podagras sein Schmerzenslager nicht verlassen könne. Da er von unserer Ankunft überrascht werden sollte, stimmten wir vor seinem Zimmer unsere Lieder zur Gitarre an, die zwar nicht Tote erwecken, aber Lebende von ihren Schmerzen befreien konnten, denn der Hofrat zeigte sich mit fröhlichem Antlitz in der Türe und konnte bald die Kollegien wieder aufnehmen, die er in seinem Hause las. Damals in den sechziger Jahren, war er einer der berühmtesten Augenärzte, infolgedessen ein reicher Mann und eine Notabilität der Stadt; süffisant, ungeniert und barsch wie viele großen Ärzte, aber mit seinem trockenen Witz und einer gewissen gemütlichen Fröhlichkeit ein guter Gesellschafter. Seine Gattin, nicht viel jünger als er, eine große, dicke Frau, in einer Mischung von Herzensgüte, Eitelkeit, etwas Hochmut und Unwissenheit ein Original, lebte in liebevoller Feindschaft mit dem Professor Sartorius, ihrem täglichen Tischgast, der in seiner ruhigen,langsamen Deutlichkeit ihr die empfindlichsten Grobheiten sagte, bis sie ihr zum Bedürfnis geworden waren. Der Hofrat annoncierte unsere Anwesenheit in seinem Hause sowie unser Konzert, dessen Programm er drucken ließ, während die Hofrätin die Einlaßkarten schrieb und siegelte, um mir das in einem Körbchen gesammelte respektable Legegeld der studierenden Jugend triumphierend zu zeigen, wenn ich von den Proben zurückkehrte. Von dem überfüllten Hause wurden unsere Produktionen mit rauschendem Beifalle belohnt, und nach der ersten Abteilung war schon die Subskription für ein zweites Konzert fertig. Da trat der Hofrat, der sich inzwischen die »Drei Reiter« oft hatte wiederholen lassen, mit der Gitarre auf das Podium und forderte das Publikum auf, uns das Lied nachzusingen; ein Sohn des berühmten Naturforschers Blumenbach fügte dem einen Vers zwei andere hinzu, und in dieser Form hat es Popularität erlangt. Nach dem Konzert fand im Richterschen Hause große Gesellschaft statt, bei der die studierende Jugend vorwaltete; die beiden Herren v. Arnim, Achim, der leider so früh verstarb, und sein Bruder, der spätere königliche Mundschenk, Graf Luxburg, der nachherige bayrische Gesandte und der junge Blumenbach haben ihre Freundlichkeit gegen das junge Mädchen auf meine späteren Tage übertragen. Am andern Morgen wurde mir der Leibchirurg des Herzogs gemeldet, der mir erzählte, derselbe habe wegen plötzlicher Erkrankung die Reise nach Teplitz nicht antreten können, seine Gemahlin hätte die Nacht bei ihm gewacht und er Kurierpferde genommen, um mir seinen Brief zu überbringen. »Retten Sie mich, wenn Sie können«, war mein letztes Wort an Frau v. Wolzogen gewesen; das fiel mir jetzt aufs Herz, und in höchster Erregung fertigte ich den Boten in der nächsten Stunde ab. Der Herzog schrieb mir, Frau v. Wolzogen habe ihm für Erfüllung seiner Bitte die Bedingung gestellt, mir vierzigtausend Taler zu übergeben; und aus seinem veränderten Tone ging hervor, welch befremdlichen Eindruck diese Eröffnung auf ihn gemacht hatte. Er wäre immer ein Bewunderer meiner vielseitigen schönen Eigenschaften gewesen, bemerke aber jetzt mit Staunen eine respektable Kalkulationsgabe, die seiner Neigung eine andere Richtung gäbe; trotzdem sei er[161] nicht stark genug, ihrer Gewalt zu widerstehen, und wolle mir die Summe überweisen, wenn sie auch nicht sofort aufgebracht werden könne. So waren mit einem Male die schönen Motive meines Widerstandes entstellt und der Charakter meines Opfers vernichtet; in tiefer Entrüstung antwortete ich, daß Frau von Wolzogen in ihrer guten Meinung für mich zu weit gegangen sei und ein unzureichendes Mittel gewählt habe, da er mich mit seinem ganzen Lande nicht für die Verleugnung meiner Grundsätze und den Verlust der allgemeinen Achtung entschädigen könne, von den vierzigtausend Talern keine Rede wäre, und dieser Punkt fürder unberührt bleiben müsse. Nach einem kurzen Aufenthalt in Mannheim werde ich zurückkehren, er solle sich keine weitere Sorge um mich machen; und so wurde das zweite Konzert abgesagt, ich nahm dankbaren Abschied von meinen gastfreundlichen Gönnern und legte ohne Zwischenfall die weitere Reise zurück. In Mannheim erwartete uns ein frisches, ganz neues Leben. Eine adlige Familie, die früher in Weimar lebte, die des Präsidenten v. Kalb, hatte sich hier etabliert, die Frau eine äußerst anziehende Persönlichkeit von lieblichem Äußeren, origineller Naivität, Enthusiasmus für Kunst und Künstler, aber in praktischen Dingen unerfahren wie ein Kind. Ihr Gatte, unverhältnismäßig älter, hatte sie in dieser Kindlichkeit geflissentlich zu erhalten gewußt, alle aber, die sie als Zierde beider Weimarer Höfe gekannt hatten, behielten sie in liebevollem Andenken. In diesem Hause wie bei der Frau Kriegsrätin mit offenen Armen aufgenommen, in andere eingeführt, um die Bekanntschaft von Mädchen meines Alters zu machen, erschien mir Mannheim in einem freundlichen Lichte. In einer mit der früheren Zeit kontrastierenden Unbefangenheit sah ich die Familie Beck wieder, gab mich der angenehmen Gesellschaft hin, die ich an geliebten Stellen fand, und empfand es um so schmerzlicher, wenn ich in den Bewohnern des herzoglichen Palais ganz gewöhnliche Menschen entdeckte oder aus den Fenstern von Ifflands Wohnung von schmutzigen Kindergesichtern angestarrt wurde. Ich wandelte in den Straßen umher, an Bettys Wohnung vorüber nach dem Theater, wo ich die leere Bühne betrat, auf der ich vor Angst gezittert und vor Freude gebebt hatte, bevölkerte[162] die dunklen Logen mit den früheren Insassen, von denen schon viele nicht mehr unter den Lebenden weilten, und trat in die Werkstatt der Arbeiter, die noch vollzählig versammelt waren und mir ihre ehrlichen Hände reichten, froh in der Erinnerung an unsere frühere Intimität, wenn sie mir in der Versenkung oder in hoher Luft die Zeit bis zum Auftreten verkürzten. Die Sehnsucht, die mich hierher getrieben hatte, vor meinem moralischen Tode Abschied von meiner Jugend zu nehmen, erfüllte sich zusehends, doch will ich nicht in Abrede stellen, daß ich zuweilen von meiner tragischen Stimmung abgezogen wurde, die Sorgen vergaß und, als ob ich Lethe getrunken hätte, in eine frohe Laune überging – es war auch das letztemal in meinem Leben.

Auf der Rückreise traf ich in Frankfurt mit Frau v. Löwenstern zusammen, die mir von Fräulein v. Knebel, der Hofmeisterin der Prinzeß Karoline, berichtete, daß sie eher ihre Stelle niederlegen, als einen ferneren Umgang mit mir gestatten wolle, wenn das Verhältnis en question zustande kommen sollte. Ehrgeiz, Stolz und Anhänglichkeitsgefühl, die empfindlichsten Teile meines Wesens, fühlte ich derart verletzt, daß ich in der trübseligsten Stimmung meinen Weg fort setzte und in Weimar wie in mein Unglück einzog. Ich vermochte nicht, dem Herzog meine Ankunft anzuzeigen, der Torschreiber tat es für mich, und als ich ihn froh und gesünder wiedersah, mußte ich mir alle Mühe geben, den trostlosen Zustand meines Innern zu verbergen. Dieser Zwang konnte ihm nicht entgehen, und nach einigen Tagen fragte er mich, ob ich meinen Entschluß bereue; ich konnte das mit gutem Gewissen verneinen, verschwieg aber ebensowenig, daß ich mit Angst einer traurigen Zukunft entgegensähe. Nach kurzem Schweigen erwiderte er: »So müßte ich einer der schlechtesten Menschen auf Erden sein, wenn ich ein solches Opfer annehmen wollte. Geben Sie mir meine Briefe.« Diese plötzliche Entscheidung traf mich wie ein Donnerschlag, ich hatte kaum die Kraft, die Papiere herbeizuholen. Noch hätte ich erwidern können, daß ich versuchen wolle, meinen Schmerz zu überwinden, aber ich fühlte, daß ich zum letzten Male mein Schicksal in der Hand hatte, und in einem seelischen Zustand, welcher der[163] körperlichen Folter nahekam, gab ich ihm die Briefe. In der Küche brannte helles Feuer, der Herzog hielt jeden Brief einzeln darüber, bis er verkohlte, vielleicht, um mir Zeit zur Überlegung zu lassen; aber weil ich das glaubte, preßte ich die Hände aufs Herz und biß die Lippen zusammen, damit kein Wort den Zustand meines Innern verriete. Als endlich der letzte Brief zu Asche geworden war, sagte er: »Leben Sie wohl, wir haben jetzt auf Lebenszeit Abschied genommen.« Ich stand eine Weile unbeweglich, während mein Auge ihm die Treppe hinab folgte; dann brach die verhaltene Qual hervor, ich fiel auf die Knie, und mein formloses Gebet erstickte in Tränenfluten. Meiner Schwester und meinem Mädchen rief ich zu, daß wir morgen nach Berlin fahren würden, und flog, ohne die Wirkung meiner stürmischen Aufregung abzuwarten, zum Hofkammerrat, nicht um Urlaub zu erbitten, sondern meinen Abschied für immer anzuzeigen. Als ich das Erlebnis des Abends erzählte, weinten alle tief erschüttert, und der Hofkammerrat tröstete, der Fürst werde es überwinden und einsehen, daß ich recht gehandelt hätte. Ich hörte seine Worte kaum, denn ich mußte noch zu meinen Eltern, um ihnen einen Vorwand meiner schnellen Abreise mitzuteilen. Das geringe Vertrauen, das ich zu ihnen hatte, bildet eine böse Schattenseite in meinem Charakter, aber die traurigen Verhältnisse im elterlichen Hause, die Härte meines Vaters und die Sorglosigkeit meiner Mutter hatten die innige Gemeinschaft beinahe aufgelöst. Mein Vater erlaubte meiner Schwester, mich zu begleiten, und so ordnete ich in fieberhafter Eile, was vor einer ewigen Trennung geordnet werden mußte.

Auf der Anhöhe, von der man Schloß und Stadt übersieht, ließ ich halten, und meine Seele kehrte, wie sie nach frommem Glauben bei der Trennung vom Körper noch einmal bei ihren Lieben verweilen soll, zu denen zurück, an die ich mich mit allen Banden der Liebe und Verehrung gefesselt fühlte. Mit diesem letzten Blick glaubte ich den letzten Abschied zu nehmen, doch hatte sich der gute Hofkammerrat auf der Wegscheide eingefunden, mir seine und der Seinigen treuen Wünsche zu wiederholen; er war unbeschreiblich bewegt, und ich, in Tränen aufgelöst, konnte ihm nur stumm die Hand drücken. Unsere[164] Reise ging zuerst unter allgemeinem Stillschweigen, dann in fortgesetzter Einsilbigkeit, bis zuletzt in fürchterlicher Langsamkeit vor sich, denn damals gab es noch nicht überall Chausseen, und der Gedanke an Eisenbahnen war noch nicht einmal im Entstehen. Nachdem ich am 14. August 1801 in Berlin angekommen war, teilte ich Ifflands, die mich mit warmer Freundschaft empfingen, den Grund meiner schnellen Abreise mit; er war nicht verwundert, da er in dem Ettersburger Bukett meine Zukunft vorausgesehen hatte, da er aber den Herzog liebte, geteilt zwischen Beifall über Festhalten an meinen Grundsätzen und Bedauern über die jenem durch meine Entfernung gewordene Kränkung. Die Königin empfing mich wieder mit der gewohnten Huld, vermied auch nicht, von Iffland über meine Verhältnisse unterrichtet, sich mit mir darüber zu unterhalten, wobei sie manche Motive des Herzogs begriff, ohne ihn zu verdammen, und meine Verhaltungsweise billigte. Diesmal wohnte ich nicht bei Iffland, der sich ein Haus im Tiergarten gebaut hatte, gerade groß genug für sich und die Seinen; es war der Ruhe gewidmet, denn Tranquillitati stand mit goldenen Buchstaben über seinem Portal, nur trat die Unruhe seiner Häuslichkeit, obwohl für den Beschauer interessant genug, dem Wunsche ironisch gegenüber. Ich korrespondierte regelmäßig mit dem Hofkammerrat, der meine Erregtheit zu beruhigen suchte; meine Gedanken, Wünsche und Bestrebungen befanden sich in fortdauernder Verwirrung, ich lebte in der Gegenwart ohne bestimmtes Ziel und blickte in die Zukunft wie durch ein Perspektiv ohne Gläser. Auch diesmal blieb mir die Kunst die liebevolle Mutter, in deren Armen ich Trost und Glück fand; der Erfolg meiner Leistungen war noch glänzender als bei meinem früheren Gastspiele. Bisher hatte noch keine Künstlerin ungestraft das Wagestück unternommen, in den ersten Rollen der dortigen Lieblinge aufzutreten, mir aber ward der rauschendste Beifall, und zwar nicht nur als Sängerin, sondern auch als Schauspielerin im Trauer-und Lustspiel. Diese Vereinigung, die früher durch die Not geboten, selten gleich befriedigende Resultate erzeugt hatte, war in den damaligen anspruchsvolleren Zeiten selten und wird aller Voraussicht nach immer seltener werden.[165]

Mit zutraulichster Offenheit und ohne Befürchtung eines Mißgriffes teilte ich der Königin Luise in meiner Angelegenheit mit, daß mich Briefe aus Weimar beunruhigten und irre machten. Sie beobachtete bei diesen Herzensergießungen eine taktvolle Haltung, ging auf die delikaten Seiten nicht ein und vermied Kälte und Nichtachtung, durch die sie meine unüberlegte Vertraulichkeit, die sie leicht als Mißbrauch ihrer Huld deuten konnte, beschämt haben würde. Im ganzen teilte sie Ifflands Meinung, der sich für eine einstweilige Rückkehr nach Weimar erklärte, weil ein plötzliches Ausscheiden aus den dortigen Theaterverhältnissen dem auch von ihm verehrten Fürsten einen doppelt empfindlichen Eindruck machen müsse. Doch setzte sie voraus, daß ich nach einiger Zeit gänzlich ausscheiden sollte, und für diesen Fall bot sie mir im Einverständnis mit dem König ein Engagement in Berlin als Kammersängerin an, im gleichen Range mit der Schick, mit erhöhter Besoldung und lebenslänglicher Pension. Jetzt, wo ich mit ruhigem, klarem Blick die Vergangenheit betrachte, scheint es mir unbegreiflich, daß ich bloß auf Drängen des Hofkammerrats und Zureden Ifflands nach Weimar zurückgegangen bin, nachdem ich mich mit der größten Überwindung losgerissen und die schmerzhafte Erinnerung beinahe überwunden hatte; ich muß glauben, daß ich durch die erschütternden Szenen und Ereignisse den Kopf und den Blick für den günstigen Moment verloren hatte. Warum sollte ich nicht auch dem Schicksal einen Teil an dieser Wendung zuschreiben, das mich vom Anfang an mit meiner Kunsttätigkeit an die Heimat verwiesen hatte, so oft ich mir auch auswärts eine Existenz begründen konnte! Ich trat die verhängnisvolle Reise nach Weimar in der festen Überzeugung an, das mir immer lieber gewordene Berlin bald wiederzusehen; auch Tränen fehlten dem Abschied nicht, denn Prinz August hatte – ein letzter Beitrag zu meiner Porträtsammlung – mein Bild in sein empfängliches Herz aufgenommen und mir seine linke Hand offeriert, auf die ich bei meiner Ansicht von linken Händen schmerzlos Verzicht leistete. Mein Wagen schob sich im tiefen Sande mühsam dahin, bis der Postillion einige Stunden vor Weimar in der Dämmerung Richtung und Spur verlor und meine Zofe, die in[166] einem nahen Dorfe zu Hause war, uns über verschlämmten Boden und Vertiefungen auf einen festen Pfad rettete. Nachdem wir die Nacht auf einem elenden Strohlager zugebracht hatten, erbot sich unser Wirt, uns mit seinen Pferden nach Hause zu fahren, raste aber über Hügel, Steine und Löcher den Ettersberg in einem so wilden Galopp herunter, daß wir am Ende unserer Abenteuer Hals und Beine zu brechen fürchteten, ein Los, das den wütigen Fuhrmann vierzehn Tage später wirklich ereilte.

Als ich meine Schwelle überschritt und alles wiederfand, wie ich es bei meinem stürmischen Abschied verlassen hatte, küßte ich wie Tankred den Boden, der mich so warm und innig bewillkommnete. Meine Hausleute empfingen mich mit Freudentränen, das Kirms'sche Haus wie ein Geschenk des Himmels, nur in mir hatte sich viel geändert; Rücksichten der Höflichkeit gegen meine Bekannten, Besorgnis über die Meinung der Welt über meine Rückkehr, Wunsch nach Umgang mit meinen hohen Gönnern, alles das war aus meinen Gedanken geschwunden. Ich hatte mir ein System gemacht, nach dem ich bis zu meinem Weggange als Privatperson tot sein, nur unter fremden Gestalten auf der Bühne erscheinen und durch mein Scheiden mein Kommen rechtfertigen wollte, das mir nach einem dunklen Gefühl als Schwäche und unüberlegte Handlung erschien. Dem Hofkammerrat erklärte ich meinen unwiderruflichen Entschluß, zu Ostern ein Engagement in Berlin anzunehmen, und fand in diesem Gedanken eine Genugtuung, die ich mir schuldig war, und Trost für die Deutungen meiner unvermuteten Rückkehr. Wie sehr ich denselben nötig hatte, zeigte ein Billett der Frau v. Wolzogen, die sich meinen Besuch verbat und allen ferneren Verkehr aufkündigte; ich ging bei Tage nicht aus dem Hause, am Abend nur zur Familie des Hofmarschalls v. Luck, wenn ich sie allein wußte. In die Proben ließ ich mich wie eine Türkin in einer verhangenen Portechaise tragen; meine Türen waren beständig verschlossen, und nur durch meine Schwester, die unbefangen ihre Lebensweise fortsetzte, und im Theater erfuhr ich Nachrichten von der Außenwelt. Die Prinzessin wiederzusehen, erschien mir unstatthaft, zumal mir weder direkt noch indirekt,[167] wie sonst nach meinen Reisen, ein Zeichen des Wohlwollens zugegangen war; ich fühlte das ohne Schmerz und Überraschung und geduldete mich, bis ich zu Ostern von ihr Abschied nehmen würde, die mich sicher nicht aufgegeben hatte. Von meinen Freundinnen, bis auf Amalia, war keine Rede mehr; sie wollten wahrscheinlich erst abwarten, wie sich meine Stellung zur Welt gestaltete, und verließen mich sämtlich – zum zweitenmal. Den Herzog sah ich nur, wenn ich spielte, von fern in der Hofloge, hinter dem Stuhle seiner Gemahlin; da ich sie in die Situation eingeweiht wußte, durfte ich mir erlauben, mich für die Hofkonzerte zu entschuldigen, und hätte es wahrscheinlich auch ohne jene Voraussetzung getan, denn alle Bedenklichkeiten waren mir geschwunden, wie der Seele einer Sterbenden. So hatte sich nach stürmischer Zeit wieder eine wohltätige Ruhe in meinem Gemüt eingefunden, als der Herzog meine Schwester auf der Straße ansprach und wir in dieser Annäherung den Anfang beunruhigender Ereignisse erblicken mußten, doch folgte der Bresche in den Wall, mit dem ich mich umgeben hatte, kein Sturm auf die Festung.

Wenn der Herzog mich wieder aufsuchte, war alles verloren, und mein fernerer Aufenthalt mußte mir unerträglich werden; es befiel mich also eine entsetzliche Angst, als der Herzog die scheinbare Stille durchbrach und mir seinen Besuch ansagte, und ich wußte lange nicht, was ich ihm erwidern sollte. Oft hatte bei meinen Gedanken und Handlungen ein richtiger Takt die Klugheit ersetzt, und es war auch diesmal gewiß ein richtiges Gefühl, das mir riet, mich nicht neuerdings einem Gerede auszusetzen, unüberlegt jedoch, daß ich den Herzog bat, mich nicht in meinem Hause, sondern in dem der Frau v. Luck zu sprechen. Er wurde so empfindlich, daß ich, es mochte kommen was da wolle, ihm zusagte, falls die Meinung der Welt über mich ihm nichts bedeute, und nur die einzige Bedingung daran knüpfte, es möge bei lichtem Tage geschehen, damit niemand auf ein Geheimnis schlösse. Weil ich diesem Besuche eine entscheidende Wichtigkeit beilegte und einen Ausbruch des Unwillens befürchtete, zitterten meine Knie, als ich auf dem Saale seine Schritte hörte, und ich war nicht imstande, mich von dem Tisch zu entfernen, der mir in ziemlicher[168] Entfernung von der Tür zur Stütze diente. Aber sein erstes Wort: »O Karoline!« zeigte keine Spur von Zorn und Bitterkeit, sondern nur Schmerz und Erschütterung; er schritt auf mich zu und drückte mich an seine Brust, als er aber seinen mageren Arm mit den Fingern umspannend ausrief: »Sieh, das hast du aus mir gemacht!«, konnte ich nur mit Tränen antworten. Jedes Bedenken und jede Rücksicht auf mein künftiges Glück verschwand vor dem Entschlusse, dem Teuren Zufriedenheit und Gemütsruhe wiederzugeben, und ich gelobte ihm aufs neue, mein Geschick nicht wieder von ihm zu trennen. Nur zwei Bedingungen machte ich, daß er meiner Fürbitte für Arme und Hilfsbedürftige ein williges Ohr und eine offene Hand entgegenbringen und daß das Verhältnis den Charakter der bisherigen Beziehungen vom Fürst zur Untertanin behalten solle. »Das wird niemand glauben«, erwiderte er, und ich schloß: »Dann wird mich das Bewußtsein schadlos halten.« Nun sah ich den Herzog alle Tage.[169]

Quelle:
Jagemann, Karoline: Die Erinnerungen der Karoline Jagemann nebst zahlreichen unveröffentlichten Dokumenten aus der Goethezeit. Dresden 1926, S. 131-145,147-159,161-170.
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