Nikolaus Loew.

[3] Ist der Mensch auch allerwärts

Abgestumpft in Kriegeszeiten,

Weil er sieht so viele leiden

Täglich Hunger, Pein und Tod –

Bleibt ihm doch ein warmes Herz

Für eines armen Kindes Not. –


Ich kann die Annalen dieser Geschichte nur bis auf unsere Urgroßväter zurückführen. Von diesen aufwärts zu Adam ist mir nichts bekannt. Demungeachtet unterliegt es keinem Zweifel, daß unsere Vorväter lauter ausgezeichnete Menschen gewesen sind, – wo sollten sonst die herrlichen Enkel herkommen? Aber ihre Verdienste blieben im stillen. – Meine Erzählung beginnt in dem Zeitraum zwischen 1690–1710, und mein erster Blick, obgleich nicht in dieser Stadt meine Geschichte beginnt, fällt auf unsere Vaterstadt Speyer. Wie jammervoll hatten unsere raubgierigen Nachbarn, die Franzosen, die unglückliche, früher so blühende Freireichsstadt zugrunde gerichtet! Nur ein einziges Haus war in dem ganzen Weichbilde unter Dach und Fach geblieben. Es war das Gasthaus zum »Riesen«. Es steht mit seinem Erker in der Maximilianstraße wie ein Denkmal vergangener Zeiten. Alle öffentlichen und alle Wohngebäude waren ein Raub der Flammen geworden, darunter auch die bischöfliche Pfalz. Es war in keinem Falle schön, daß dieses Haus an die Domkirche angebaut war. Man sieht noch jetzt, oder sah wenigstens noch vor 30 Jahren, auf der Westseite des Domes zwei Tore, die noch von der Pfalz herrührten, an der Kirche wie in freier Luft hängen, und ich machte mir als Kind oft Gedanken darüber, zu was denn diese Tore eigentlich da seien, und ob durch sie des Nachts Gespenster zögen. Der Palast selbst soll wunderschön gewesen sein, ein wahres Prachtgebäude. Der Bischof von Speyer hatte jedoch infolge seiner häufigen Streitigkeiten mit der Bürgerschaft seine Pfalz schon in früherer Zeit verlassen und war über den Rhein nach Bruchsal gezogen, woselbst er ein zweites Residenzschloß besaß. In seinem höchsten Glanze war Bruchsal nichts weiter als eben eine kleine bischöfliche Residenzstadt. Das Schloß ist noch erhalten, aber ganz verödet. Der Schloßhof gleicht, oder glich wenigstens als ich ihn sah, einer schlecht gepflegten Wiese, und es lebt und regt sich nichts[4] darin, als eine steife badische Schildwache und die unzähligen Goldfische in den beiden Bassins. Sie erinnern an die Liebhabereien der Rokoko-Zeit.

Im Jahre 1600 und so und so viel, oder 1700 und so und so viel, wo unsere Geschichte zu tagen beginnt, und zwar in der Stadt Bruchsal, sah es in diesem Hofe besser aus. Ist auch die Hofhaltung eines geistlichen Herrn, oder besser gesagt, war auch die Hofhaltung eines geistlichen Herrn nicht das bewegte heitere Bild wie die Umgebung eines weltlichen Herrschers, so war doch damals im Bruchsaler Schloßhof etwas anderes zu sehen als Grasboden und schlammige Fischbehälter. Wohlgenährte Canonici gingen ab und zu, und Bediente in reich gallonierten Livreen folgten ihnen. Es waren die Domherrn von Speyer, welche nach Bruchsal gekommen waren, dem Oberhaupt die Aufwartung zu machen. Diese Herrn gehörten einst dem hohen Adel an und trieben viel Luxus. Sie kamen auch selten zu Fuß von ihrem Absteigquartiere nach dem Schloß. Equipagen wie jetzt gab es freilich damals wenige, allein die nun aus der Mode gekommenen Sänften, in denen es sich recht sanft geschaukelt haben mag, waren zu jener Zeit stark im Gebrauch, besonders bei der hohen Geistlichkeit. Der Bischof selber hatte einen Wagen, eine Staatskarosse. Ich bekam als Kind von einer Deidesheimer Frau Base eine Puppenchaise zum Geschenk, welche in vergangenen Zeiten das Modell des bischöflichen Staatswagens gewesen sein soll. Es war das Fuhrwerk sehr schwerfällig gebaut und hatte eine ähnliche Form wie jetzt ein Omnibus. Das Dach reichte jedoch weit über den Unterbau hinaus, wie an einem Schweizerhause. Auf den vier Ecken des Daches waren schwere, vergoldete Schnitzwerke aufgepflanzt. Der ganze Wagen strotzte von Gold und hatte etwas Unbehagliches. Kutscher und Bediente hatten ungeheuere Perücken auf dem Kopfe und noch größere die beiden Herren, welche in dem Wagen saßen. In jener Zeit war ein Perückenmacher eine wichtige Person, denn, wenn die Herren ihre Köpfe auch noch so hoch getragen, sie trugen die Perücken doch noch höher. Der Bischof hatte viele Hausbeamte und Hofbedienstete, die teils im Schlosse wohnten, teils in der Stadt. So kam es, daß es niemals ganz stille war, weder in noch vor dem Schlosse. Am lebhaftesten aber ging es zu,[5] wenn »Se. bischöflichen Gnaden« ausfuhren. Da blieb ein jeder stehen und sah mit Lust die Laufer an, welche zuerst aus dem Tore kamen, und hernach den reichen Wagen und die Haiducken. Das alles war recht stattlich anzusehen und gar bunt und prächtig.

Bruchsal hatte nicht so viel gelitten wie die Städte in Kurpfalz. Am meisten wurden die Einwohner mit den Truppendurchmärschen gequält. Auch an dem Tag, an welchem mein Bericht beginnt, wurde wieder Einquartierung angesagt. Es waren Österreicher, welche nach der Festung Philippsburg marschierten. Es war im Januar, und die Kälte war grimmig.

Also in Bruchsal in der »Kaffeegaß« ist, wenn man von der Hauptstraße hineingeht, auf der linken Seite ein hübsches Haus. Nah an diesem Hause befindet sich ein Brunnen, geziert durch eine mythologische oder allegorische Figur, soviel ich weiß, ist es ein Knabe mit einem Schwan. Die Bruchsaler nannten diesen Brunnen »Das Schwane-Werthel« oder nannten ihn wenigstens so in den alten Zeiten. In diesem Hause wohnte dazumal ein gutes, altes Ehepaar. Es war der Hofperückenmacher Loew und seine Hausfrau. Hier in diesem Hause also wurde an einem grimmig kalten Januartage Einquartierung angesagt, und sie traf auch ein. Unwillkommene Gäste bleiben selten aus. Man hatte mit dem Abendessen hinlängliche Vorbereitung getroffen, und die Stube war durch und durch erwärmt. Eines hatten die sogenannten guten alten Zeiten vor den unsrigen wirklich voraus: man brauchte nicht an Holz zu sparen. Es war Abend und der Tisch war gedeckt; eine dünne Unschlittkerze machte die Beleuchtung aus, und eine Unschlittkerze war damals schon ein Luxus. Die Hofbediensteten bekamen diese Lichter als Besoldung. Es waren acht Gedecke auf dem Tische; zwei für den Herrn und die Frau, zwei für die Gehilfen, eines für die Magd und dann noch drei für die drei Mann Kaiserlichen. Es schlug 6 Uhr, das war die Nachtessenszeit, und an die Haustür tat es drei grobe Schläge; das war die Einquartierung. Der Meister, der Herr Perückenmacher, gab dem jüngeren der Gehilfen den Hausschlüssel – in jener Zeit schloß man die Türe früh – die Frau Hofperückenmacher gab der Magd das Licht mit der Weisung, es nicht schief zu halten. Herr und Frau und Gehilfe Nr. 1 saßen in der dunkeln Stube und hörten[6] zu, wie der Schlüssel die Haustüre aufschloß und rasche Männertritte auf die Stubentüre zukamen. Die Türe tat sich auf und herein trat, fast geschoben von zwei folgenden Soldaten, die Magd mit etwas ängstlichem Gesicht, in ihrer Hand das bischöflich speyerische Besoldungslicht. Die Soldaten hatten es entsetzlich eilig, stürzten in die Stube nach, und statt des gewohnten Grußes riefen beide halb bittend, halb befehlend: »Supp', Supp', Supp'!« Man war an dergleichen Artigkeiten bereits gewöhnt und deshalb nicht überrascht. Allein die Überraschung kam nach, als der dritte Kaiserliche in das Zimmer trat. Nebst seiner gewöhnlichen Armatur hatte er noch einen Bündel bei sich, oder einen steifen Klumpen, den er in den Armen trug. Er setzte sich rasch damit an den Ofen und rief dabei wie die anderen: »Supp', Supp', Supp'!«. Man beeilte sich, den ungestümen Gästen zu willfahren, und in wenigen Sekunden stand die große Suppenschüssel dampfend auf dem Tisch. Die Soldaten sprangen auf. Die beiden, die zuerst eingetreten waren, wollten ihrem Kameraden seinen Bündel abnehmen, allein er gab ihn nicht aus den Armen. Die ganze Gesellschaft stellte sich um die Tafel, und der Hausherr sprach das Tischgebet. Der Soldat mit dem Bündel aber nahm keinen Anteil an der Andacht, sondern schöpfte sofort einen großen Löffel Suppe auf seinen Teller. Der Hausherr fiel aus dem andächtigen Ton in einen ärgerlichen, aber nur ein wenig. Es fürchtete sich in jener Zeit jedermann vor der Soldateska, auch vor der befreundeten. Die andern schielten etwas neugierig auf des Soldaten Bündel, besonders die Magd. Die Frau Hofperückenmacherin warf ihrer Americhe einen strafenden Blick zu, allein unwillkürlich spähte auch sie ein wenig auf den Bündel hin, und mit dem letzten Worte des Gebetes rief sie laut aus: »E Kind! e Kind! e Kind!« und alle fielen wie im Chor mit ein: »E Kind! e Kind! e Kind!«. Der gutmütige Österreicher fütterte das Kind mit warmer Suppe und hatte wahrscheinlich gedacht, daß dieser Liebesdienst auch ein Gebet sei. Dieses Kind war ein Knabe von ungefähr zwei Jahren und war unser Urgroßvater. Und unser Urgroßvater ließ sich die Suppe recht gut schmecken. Das Kind war halb erstarrt vor Kälte, und die Suppe war warm. Nach der Suppe kam eine große Portion Blutwürste und ein pikant duftender Krautsalat. Wenn es dazumal[7] in Bruchsal schon Kartoffeln gegeben hätte, so wären auch Kartoffeln gekommen, aber es gab noch keine. Unser Urgroßvater hatte guten Appetit, wie seine Enkel. Er ließ sich auch die Wurst und den Krautsalat schmecken, und die Frau Hofperückenmacherin hatte darob eine große Freude und sprach: »Wenn ich gewußt hätte, daß ein Kind mitkommt, so hätte ich ihm Brei gekocht mit einer guten Schorr!« An diese wohlwollende Bemerkung knüpfte sich ein Gespräch an, durch welches die Leute des Hauses erfuhren, wie die Soldaten zu dem Kinde gekommen waren. Unser Urgroßvater war von den Kaiserlichen auf der Landstraße gefunden worden, wo er halb erfroren auf einem Steinhaufen gesessen war. Die Soldaten hatten aus Mitleid das Kind aufgepackt, obgleich sie gar nicht wußten, was sie jetzt damit beginnen sollten. In die Garnison nach Philippsburg durften sie den Knaben nicht bringen. Man stellte nun Fragen an das Kind, wie es heiße, und wo es her sei. Der Knabe wußte nichts und konnte nur wenige Worte sprechen. Nur die eine Auskunft wußte er zu geben, er heiße Nikolaus.

Über Eltern und Heimat wußte das Kind nichts zu sagen. Der Nikolaus muß übrigens ein liebes Kind gewesen sein und erschien wohl noch mehr so in seiner hilflosen Lage. Nicht nur die rohen Herzen der Soldaten waren weich geworden bei seinem Anblick, sondern auch der Hofperückenmacher, seine Gattin, die beiden Gehilfen und die Americhe. Frau Loewin erbat sich von dem Soldaten, daß er ihr für die Nacht den Knaben überlassen möge. Herr Loew war auch damit einverstanden. Wie die Kaiserlichen auf ihrem Lager waren und schon lange schliefen, da besprach sich das Ehepaar noch gar lange über das Kind. Als am Morgen wieder eine große Schüssel voll Suppe auf dem Tische stand, zum Frühstück – Kaffee wurde damals nur von den Vornehmen getrunken –, da machte der gute Hofperückenmacher seinen Gästen die Eröffnung, daß er mit seinem Weibe übereingekommen sei, daß sie, weil sie keine eigenen Kinder hätten, den Nikolaus behalten und ihn annehmen wollen an Kindesstatt. Die Soldaten waren hocherfreut und weinten alle drei vor Rührung, und die Loewischen weinten mit. Frau Loewin brachte einen großen Krug von ihrem selbstgebauten Wein zum Abschiedstrunk. Die Kaiserlichen[8] taten große Züge und spülten sich die Rührung hinunter und marschierten hierauf gegen Philippsburg. Ich weiß nicht, ob unser Urgroßvater die guten Österreicher jemals wiedergesehen hat, man kam damals so wenig über seine Ortsgemarkung hinaus. Er hat übrigens eine Philippsburgerin zur Frau gehabt, was der Vermutung Raum gibt, daß die benachbarte Festung von ihm besucht worden sei. Da nun unser Urgroßvater bei seinen guten Pflegeeltern den Schauplatz seiner Geschichte betreten hat, so wäre der Anfang gemacht, um recht viel von ihm zu erzählen. Allein es geht mit dieser Biographie, wie es mit dem bischöflich speyerischen Besoldungslicht ergangen sein wird: sie brennt nicht lang. Ich weiß fast gar nichts weiter. Nikolaus erlernte das Gewerbe seines Pflegevaters und wurde ein braver Mann. Nach dem Tode seiner Pflegeeltern erbte Nikolaus deren Haus in der Kaffeegaß und einen schönen Weinberg und wurde auch der Hofperückenmacher. – Wann unsere Urgroßeltern gestorben sind, weiß ich nicht. Sie hinterließen einen einzigen Sohn, welcher Jakob hieß. Dieser Jakob war der Vater unseres Vaters.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 3-9.
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